Die menschliche Familie nach ihrer Entstehung und natürlichen Entwickelung. Friedrich von Hellwald
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oft durch einen Kuss auszudrücken gewohnt sei, mit einem der ganzen Welt verständlichen Worte antwortete: Brr!“.[180] Und in der höchst interessanten Sammlung von Volksliedern und poetischen Theaterstücken, welche auf das vertrauliche Leben der Chinesen Bezug nehmen und von Jules Arène zusammengetragen worden sind,[181] ist vom Kusse niemals die Rede. Auch in der japanischen Familie ist der Kuss eine unbekannte Zärtlichkeitsäusserung. Dies bezeugen übereinstimmend sowohl Professor Rein,[182] als Georges Bousquet, welch letzterer beifügt, dass um das Küssen sprachlich auszudrücken, die Japaner, in einer brutalen Metapher, kein anderes Wort kennen als jenes, welches in ihrer Sprache „saugen“ (nameru) bedeutet.[183] Dagegen scheint der Kuss den Mincopies nicht fremd zu sein. Wenigstens wird berichtet, dass Mincopiesträflinge in Port Blair ihren Gefangenwärter so lieb gewannen, dass sie ihm beim Abschiede die Hand küssten, und als einer derselben das erste englische Frauenzimmer zu Gesicht bekam, wollte er sie sogleich küssen.[184]
Im allgemeinen wird man kaum fehl gehen, wenn man hauptsächlich die Europäer und insbesondere die Gruppe der sogenannten Arier bis zu den Zigeunern[185] herab, für Liebhaber des Kusses hält. Ausnahmen kommen gleichwohl vor. Beim kleinrussischen Bauern ist der Kuss nicht Sawedenje (Gebrauch), und ein Beobachter, der vierzehn Jahre am untern Dnjepr zubrachte, sah in dieser Zeit niemals einen Bauer, ausser in der Trunkenheit, Jemanden küssen.[186] Auch dem Bewohner des norddeutschen Flachlandes sind Zärtlichkeitsbeweise jeder Art, darunter das Küssen, meist im höchsten Grade zuwider.[187] Aber schon die klassischen Völker des Altertums kannten den Kuss. Dass die der Liebe holden Hellenen auch Kussverständige waren, lässt sich erwarten. Doch findet sich bei ihnen das Wort für küssen gleichbedeutend mit dem für lieben: φιλεῖν, auch verstärkt zu καταφιλεῖν. Andere Ausdrücke für küssen sind ἀςπάζεσθαι und κυνεῖν. Der Kuss ist φίλημα, was freilich auch Liebkosung bedeutet; φιλεῖν τινα τῷ στόματι hiess aber unbedingt: jemanden einen Kuss geben. Das ernste Volk der Römer hatte für Kuss die Worte osculum, basium oder suavium, welch letzteres wohl ziemlich klar auf die Süssigkeit des Genusses hindeutet. Meum suavium gebraucht Terenz für: meine Liebste. Ovid geizt nicht mit Küssen und selbst der keusche Vergil kennt die Redewendung: alicui osculum libare. Von den küssenden Europäern ging die Mode später auch auf ihre Mischlinge mit farbigen Rassen in fremden Erdteilen über. Die amerikanischen Mulatten küssen und lassen sich küssen; desgleichen die Schwarzen, welche in Amerika unter dem Einflusse der Weissen zu einer gewissen Gesittungshöhe aufgestiegen sind. Hugo Zöller beobachtete einen solchen Fall.[188]
Die Geschichte des Kusses ist in gewisser Beziehung auch die Geschichte der Liebe, worunter ich ausschliesslich die in den höheren Sphären der Menschheit die Geschlechter beherrschende, bis zur wahren Leidenschaft steigerungsfähige Herzensneigung verstehe, im Gegensatze zum gewöhnlichen erotischen Triebe, den man gerne euphemistisch als „sinnliche Liebe“ bezeichnet. Es ist in hohem Grade beklagenswert, dass diese verschiedenen Zustände sprachlich nicht scharf auseinander gehalten und dem Worte Liebe ganz verschiedene Bedeutungen unterschoben werden, woraus eine heillose Verwirrung entsteht. Man spricht von einer „wahren“ oder „idealen“, von einer „romantischen“ oder „platonischen“ Liebe gerade so wie von einer „sinnlichen“ oder „fleischlichen“ Liebe, und beschönigt mit dem höhere Vorstellungen erweckenden geistigen Begriffe der Liebe die einfache Begierde der Sinne. Aber nur die auf Herzensneigung beruhenden Gefühle verdienen die Bezeichnung „Liebe“; alles was darunter bleibt, ist einfach Begierde, Freude an der Befriedigung der Sinnenlust mit einem oder mehreren bestimmten Wesen des andern Geschlechtes. Die überwiegende Mehrzahl hat nun Verständnis bloss für den tierischen Genuss, für die Wollust, sehr wenig oder keines für die Liebe. Diese spriesst vornehmlich im Gehirn der Idealisten, denn in ihr überwiegt das Geistige derart, dass nur in Menschen der höchsten Entwicklungsstufen die erforderlichen Grundbedingungen dazu vorhanden sind. Auch unter uns Europäern vermögen nur feiner organisierte Naturen wärmer zu empfinden. Wenigstens malen unsere Dichter Gluten und Liebesqualen, von welchen der Alltagsmensch sich nichts träumen lässt. Sicherlich, wenn wir auch die von Feodor Wehl in seinen „Herzensgeheimnissen“ erzählten Geschichten für bare Münze nehmen wollten, wird doch jedermann zugeben, dass solche ins Übersinnliche gesteigerte Weissglut der Leidenschaft zu den allergrössten Seltenheiten gehört, jedenfalls für die grosse Menge nicht massgebend ist. Sie bleibt Neunhundertneunundneunzig unter Tausend vollständig unbekannt, — bei wenigen, weil kein günstiger, oder richtiger ungünstiger, Zufall sie weckte, bei der Mehrzahl, weil sie zu einer solchen Liebe überhaupt unfähig sind.
In noch weit strengerem Sinne gilt dies von den ausserhalb unserer Gesittung sich bewegenden Völkern. Dr. Ploss’ fleissige Forschungen gestatten keinen Zweifel, dass — wie das Küssen — die Liebe (ich gebrauche das Wort fernerhin nur noch in seinem idealen Sinne) einer grossen Anzahl von Völkern durchaus unbekannt ist, wofür eine ganze Reihe von Zeugnissen vorliegen. Von den Schwarzen im oberen Nilgebiet sagt der erfahrene Sir Samuel White Baker ausdrücklich: Das was wir als Liebe bezeichnen, ist ein Gefühl, welches man in diesen Ländern nicht kennt und versteht; es existiert gar nicht. In dieser Beziehung ist alles handgreiflich, praktisch, ohne eine Spur von romantischer Zuthat.[189] „Eines der schönsten Geschenke des Schöpfers,“ sagt Appun, der jahrelang unter den Karibenstämmen Guyanas gelebt hat, „ist dem Indianer nicht zu teil geworden: die leidenschaftliche Liebe zum Weibe; unbekannt mit der schönsten und zartesten der Neigungen bleiben alle ihre Empfindungen dieser Art kalt und matt, und nur die physische Liebe ist ihnen bekannt. Während meines langjährigen Aufenthaltes unter den Indianern sind mir nur äusserst wenige Fälle vorgekommen, in welchen Ehepaare sich mit allen jenen Liebkosungen überschütteten, deren ein Europäer fähig ist. Ebenso wenig habe ich eine Liebkosung bei jungen unverheirateten Leuten bemerkt.“[190] Bei den Dualla Westafrikas hat Zöller wohl gesehen, dass ein Neger sein Kind, aber er hat nie gesehen, dass er sein Weib geliebkost hätte.[191] Ja sogar weniger rohe oder schon gesittete Völker wissen von keiner zarteren Neigung. Im Orient ist die Ehe rein sinnlicher Natur, und der Türke, sagt Feldmarschall Moltke, geht über das ganze „Brimborium“ von Verliebtsein, Hofmachen, Schmachten und Überglücklichsein als eben so viele faux frais hinweg zur Sache.[192] In ganz Ostasien — Japan, China, Java — werden die Ehen wohl nie aus Liebe geschlossen; immerhin kommt doch Liebe sporadisch vor.[193] Selbst unter Wilden finden sich unleugbar Beispiele von Herzensneigungen mehr oder weniger ausgeprägter Art. Von einzelnen Fällen, dass auch ein australisches Herz in einem jener poetisch-zarten Gefühle erglühte, welchen man die Benennung Liebe zugestehen muss, erzählen Hr. Thomas[194] und Dr. Mücke,[195] welch letzterer in den Roman solch einer wilden Liebe selbst handelnd eingriff. Auch unter den Negern kennt man einzelne Beispiele grosser Beständigkeit unter ungünstigsten Verhältnissen und wunderlicher Aufopferungsfähigkeit. Brodie Cruickshank teilt zwei Fälle dieser Art mit.[196] Davis erzählt von einem Neger, der nach vergeblichen Versuchen seine Geliebte aus der Sklaverei loszukaufen,