Wachtmeister Studer. Friedrich C. Glauser
Читать онлайн книгу.spreche.
Studer nickte. Er sah dem Alten ins Gesicht – dies Gesicht hatte sich merkwürdig verändert. Die Züge waren noch die gleichen, aber der Ausdruck war ein anderer. So, als ob ein Schauspieler, der täuschend die Rolle eines alten Bauern gespielt hat, nun seine Verstellung plötzlich aufgeben würde. Aber hinter der Maske kam eben nicht ein Schauspielergesicht zum Vorschein, sondern vor Studer saß ein nachdenklicher alter Herr, der das Französische fließend sprach, ohne Akzent, und seine Rede mit zarten Handbewegungen begleitete. Die Haut seiner Hand war mit Tupfen übersät, die in der Farbe an dürres Buchenlaub erinnerten. Über seine Vorliebe für entlassene Sträflinge müsse sich der Kommissär nicht wundern, führte er aus, immer noch in französischer Sprache. Er habe sein Vermögen in den Kolonien verdient und da habe er als Arbeitskräfte immer Sträflinge zugewiesen bekommen. Er sei mit dem Residenten gut befreundet gewesen… Aber man sei eben dumm. Er habe auf das Alter hin Heimweh bekommen nach der Schweiz und habe sich in diesem Gerzenstein angekauft… Eigentlich, sagte er, sei diese Baumschule, die er eröffnet habe, ein Luxus. Zu verdienen brauche er ja nichts mehr, sein Geld sei sicher angelegt, so sicher, als es in einer unsicheren Zeit, wie der jetzigen, möglich sei.
Studer hörte dem Reden des alten Mannes nur unaufmerksam zu. Er war damit beschäftigt, den alten Ellenberger, der in seiner Erinnerung lebte, mit dem Manne zu vergleichen, der vor ihm saß. Schon am Freitagabend, im Café, am runden Tischchen vor dem Fenster, das auf einen giftiggrauen Abend ging, hatte er dem Baumschulenbesitzer gegenüber ein merkwürdig unsicheres Gefühl gehabt. Es hatte ihm damals geschienen, als sei alles an dem alten Manne falsch. Alles? Nicht ganz. Das Gefühl, das Ellenberger für den Schlumpf zu empfinden schien, war echt, sicher…
Aber was bezweckte der Ellenberger heute? Warum gab er sich so anders? Studer schüttelte unmerklich den Kopf. Ihm schien es, als sei auch das heutige Gesicht des alten Ellenberger noch nicht das echte. Oder hatte der Mann gar kein wirkliches Gesicht? War er etwas wie ein verfehlter Hochstapler? Man wurde aus ihm nicht klug.
Zwei Burschen und ein Mädchen nahmen in der Nähe Platz. Sonja Witschi grüßte mit einem leichten Nicken. Die beiden Burschen tuschelten miteinander, grinsten, schielten auf Studer, tauschten Bemerkungen aus. Als die Kellnerin das Bier brachte, legte Armin Witschi herausfordernd den Arm um ihre Hüften. Die Kellnerin blieb eine Weile stehen, sie wurde langsam rot, ihr müdes Gesicht sah rührend freudig aus… Aber sie wurde gerufen. Sanft machte sie sich los… Armin Witschi fuhr mit der flachen Hand über seine Haare, die sich in Dauerwellen über der niederen Stirn aufschichteten. Der kleine Finger war abgespreizt…
»Un maquereau…« sagte Studer leise vor sich hin; es klang nicht verurteilend, eher gütig-feststellend.
»Mein Gott, ja…« antwortete der alte Ellenberger und grinste mit seinem zahnlosen Mund. »Sie sind gar nicht so rar, wie man meinen könnte…«
Armin sah böse zu den beiden. Die Worte hatte er sicher nicht verstanden, aber er hatte wohl gefühlt, dass von ihm die Rede war.
Der andere Bursche am Tische Armins war der Coiffeurgehilfe Gerber. Er trug weite graue Flanellhosen, dazu ein blaues Polohemd ohne Krawatte. Seine Arme waren sehr mager…
Er stand auf, verbeugte sich vor Sonja. Die beiden stiegen auf den Tanzboden. Schreier, der Handharfenspieler, griff daneben, als er die beiden Tanzenden sah, Studer schaute auf… Da sah er, dass die Blicke der drei Musikanten auf ihn gerichtet waren… Er nickte hinüber und wusste selbst nicht, warum er so aufmunternd nickte…
Die drei trugen einfarbige Kostüme: senffarbige Leinenhosen, senffarbige Pullover ohne Ärmel, und auch die Hemden waren gelb wie Senf.
Der alte Ellenberger schien Studers Gedankengang zu erraten, denn er sagte:
»Ich habe ihnen das Kostüm geschenkt… Entworfen hab’ ich’s auch… Es hat mich gereizt, die guten Bürger hier im Dorf ein wenig zu entsetzen… Mein Gott, wenn man sonst keinen Spaß hat…«
Studer nickte. Es war ihm immer weniger ums Reden zu tun. Er hatte seinen Stuhl zurückgeschoben und saß nun da, in seiner Lieblingsstellung, die Beine gespreizt, die Unterarme auf den Schenkeln, die Hände gefaltet. Vor ihm lag der Garten, durch das dichte Laub brachen da und dort Sonnenstrahlen und malten weiße Tupfen auf den grauen Kies. Wenn die Musik schwieg, zitterte über dem Stimmengesumm das Zwitschern unsichtbarer Vögel in den Baumkronen…
Es war ihm nicht recht wohl, dem Wachtmeister Studer… Es war im Anfang zu gut gegangen – und sonderbarerweise bedrückte ihn am meisten der Traum der vergangenen Nacht. Am Morgen hatte er die Pistole untersucht. Es war ein billiges Modell, er erinnerte sich dunkel, es in Bern in einer Auslage gesehen zu haben… Zwölf oder fünfzehn Franken? Vom Landjägerposten aus hatte Studer gestern telefoniert, die Nummer angegeben und gebeten, man möge sich bei den Waffenhändlern erkundigen… Es war fast aussichtslos, sicher, den Käufer festzustellen… Aber vielleicht gelang es zu beweisen, dass es dem Schlumpf unmöglich gewesen war, den Browning zu kaufen…
Jemand war vor ihm stehen geblieben. Er sah zuerst nur zwei schwarze Hosenbeine, die an den Knien stark ausgebeult waren. Dann wanderte sein Blick langsam aufwärts: ein riesiger Bauch, über den sich ein breiter Stoffgürtel spannte, ein Umlegkragen und der schwarze Knoten einer Krawatte; endlich, eingebettet in Fettwülste, das Gesicht des Gemeindepräsidenten Äschbacher…
Und Studer dachte an seinen Traum…
Aber Äschbacher war die Freundlichkeit selbst. Er grüßte höflich, fragte, ob es erlaubt sei, Platz zu nehmen, er schüttelte Studer herzlich die Hand und nahm dann keuchend Platz… Die Kellnerin brachte unaufgefordert ein großes Helles, das Bier verschwand in Äschbachers Innerem, nur ein wenig Schaum blieb am Boden des Glases kleben…
»Noch eins…« sagte der Gemeindepräsident und keuchte.
Er tätschelte den Arm des alten Ellenberger, der Laute von sich gab, ähnlich denen eines Katers, der nicht weiß, ob er behaglich schnurren soll oder spuckend auf den Störenfried losfahren.
Äschbacher rettete die Situation, indem er sich erkundigte, ob man nicht einen ›Zuger‹ machen wolle…
Die Kellnerin, die das zweite Bier gebracht hatte, flitzte davon, kam mit dem Jaßdeckeli zurück, breitete es aus, legte die gespitzte Kreide auf die sauber geputzte Tafel und verzog sich wieder: drei leere Biergläser nahm sie mit…