Eduard Mörike: Märchen, Erzählungen, Briefe, Bühnenwerke & Gedichte (Über 360 Titel in einem Band). Eduard Morike

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Eduard Mörike: Märchen, Erzählungen, Briefe, Bühnenwerke & Gedichte (Über 360 Titel in einem Band) - Eduard  Morike


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durchlief er noch manches, was ihn mächtig emporhob; kräftig gab er seinem Pferde die Sporen, als gälte es, noch heute allen seinen Wünschen die Krone aufzusetzen.

      In derselben Woche kamen Briefe aus Neuburg an Theobald, wie gewöhnlich unter der Aufschrift an Larkens. Voll Begierde nach dem Inhalte, welcher ihm, wie er zuverlässig hoffte, jeden Zweifel über Agnes benehmen sollte, riß er das Kuvert auf. Jedesmal ergriff ihn die eigenste Rührung, wenn er solche treuherzige Linien ansah, die nach des Mädchens Meinung der Geliebte lesen sollte, und die unser Schauspieler doch wiederum nur sich selber zueignen konnte, da es nur Antworten auf dasjenige waren, was er zwar ganz im früheren Sinne Noltens geschrieben, aber doch gleichsam durch alle Fasern des eigenen innigsten Gefühls übertragend, empfunden hatte. In der Tat, er kam sich dann immer wie ein gedoppeltes Wesen vor, und nicht selten kostete es ihn Mühe, sein Ich von der Teilnahme an diesem zärtlichen Verhältnis auszuschließen.

      Was Agnesens gegenwärtigen Brief betrifft, so klangen ihm die Worte anfangs einigermaßen rätselhaft, bis ihm ein größeres Schreiben vom Vater in die Hände fiel, das er auch zugleich von Blatt zu Blatt mit immer steigendem Erstaunen hastig durchlas. Der Alte beruft sich auf seinen frühern Brief an Theobald, worin die sonderbare Verirrung des Mädchens, soweit es damals möglich gewesen, bereits entwickelt worden sei; er wolle aber, da einige erst neuerdings entdeckte Umstände die Ansicht des Ganzen bedeutend verändert hätten, alles von vornherein erzählen, und so setzt er denn dasjenige weitläufig auseinander, was wir dem Leser schon mitgeteilt haben. Mehrere auffallende Vorgänge hatten dem Förster zuletzt über das Dasein eines stillen Wahnsinns keinen Zweifel mehr übriggelassen. Es ward ein Arzt zu Rat gezogen, und mit Hülfe dieses einsichtsvollen Mannes gelang es gar bald, den eigentlichen Grund des Unheils aus dem Mädchen hervorzulocken. Hiebei mußte es für den aufmerksamen Beobachter solcher abnormen Zustände von dem größten Interesse sein, zu bemerken, daß schon das Aussprechen des Geheimnisses an und für sich entscheidend für die Heilung war. Denn von dem Augenblicke, da der Auftritt mit der Zigeunerin über Agnesens Lippen kam, schien der Dämon, der die Seele des armen Geschöpfes umstrickt hielt, seine Beute fahrenzulassen, und ein herzzerschneidender Strom der heftigsten Tränen schien die Rückkehr der Vernunft anzukündigen. Die Entdeckung jener geheimen Ursache fand aber um so weniger Schwierigkeit, da das Mädchen selbst seit der zweiten Unterredung mit der Zigeunerin ein gewisses Mißtrauen gegen dieselbe nährte, worin sie sich nun eben nicht ungerne bestärken ließ. Wirklich rührend war es anzusehen, mit welcher Begierde sie jedes Wort einschluckte, das man zum Beweis eines offenbaren Betrugs vorbringen mochte. Auf ihrem zwischen Angst und dankbarer Freude wechselnden Gesichte malten sich die letzten Zuckungen des abergläubischen Gewissens, dem die vernünftige Beredsamkeit des Vaters nun den Todesstoß gab. Dennoch fühlte sie noch immer eine Art von Zwiespalt im Innern, sie fand sich schwer zurecht, und wie der Blindgewesene sich nur langsam wieder an das Licht gewöhnt, das alle Welt erfreut, so dauerte es einige Zeit, bis Agnes ihr Glück zu fassen vermochte, bis sie es wagte, sich den andern Menschen wieder gleichzustellen. Oft kam es ihr noch vor, als ob irgendein finsterer Zeuge ihres Schicksals hinter ihrem Rücken lauschte und auf Rache denke, weil sie seinen Banden entsprungen. Aber der Verbrecher, der durch eine feierliche Absolution aus dem Munde des Heiligen Vaters mit einemmal sich einer ganzen Hölle entbunden fühlt, kann nicht leichter atmen als Agnes, nachdem endlich das düstere Phantom für immer verabschiedet war. Wie ganz anders konnte sie nun an Nolten denken! Wie herzhaft prüfte ihre Liebe wieder die alte Freiheit ihrer Flügel! Wie ungewohnt erschien ihr alles, was in bezug auf ihn gesagt oder getan ward! Sprach jemand seinen Namen aus, so konnte sie den Namen mit seligem Befremden vor sich wiederholen und mit Entzücken rief sie ihn dann laut aus, so daß man sie kaum begreifen wollte. Kam ihr zufällig seine Handschrift vors Auge, so deuchten ihr die Züge wie sprechend, sie betrachtete sie mit einem völlig neuen Sinn – kurz, es schien, als sei er ihr erst heute geschenkt, als heiße sie jetzt zum ersten Male Noltens Braut.

      Dieselbe unschuldige Trunkenheit atmete aus ihrem Briefe, den Larkens jetzt in der Hand hielt. Sie vermied soviel möglich jede Berührung jener störenden Ereignisse, und ihre Worte verrieten nicht die geringste Unruhe darüber, wie Theobald die Geschichte ihrer Krankheit aufnehmen werde, welche der Vater mit ihrem Vorwissen, jedoch ohne der Tochter sie lesen zu lassen, ihm aufrichtig mitteilte.

      Mit Staunen und Rührung legte Larkens die Blätter auf den Tisch, nachdem er sie zwei-oder dreimal mit der größten Sorgfalt durchgelesen hatte. Er hatte Mühe, sich die Fäden dieser unerhörten Verwirrung klarzumachen, sich zu sammeln und ein ruhiges Bild vom Ganzen zu gewinnen, um hierauf seine Entschließung zu fassen. An der getreuen Darstellung der Begebenheiten zweifelte er keinen Augenblick, alles trug zu sehr das Gepräge der inneren Wahrheit. Aber was ihn bei der Sache besonders nachdenklich machte, das war die Einmischung der Zigeunerin. Denn auf der Stelle war es wie ein Blitz in ihn geschlagen, daß er die Person kenne, daß ihm ihr sonderbarer Bezug zu Nolten nicht unbekannt sei. Nach dem sehr bestimmten Bilde, das er von ihrem Charakter hatte, befremdete ihn einigermaßen ihr falsches Spiel gegen Agnes, dennoch hatte er guten Grund, sie deshalb keineswegs mit den gemeinen Betrügerinnen ihrer Nation zu verwechseln, ja ihn ergriff das tiefste Mitleid, wenn er bedachte, daß eben dieses unbegreifliche Wesen, das an Agnesens Verrückung Schuld war, selbst ein trauriges Opfer des Wahnsinns sei. So verhielt es sich wirklich; und in diesen Zustand mischte sich eine Leidenschaft für Theobald, von deren wunderbarer Entstehung wir dem Leser in der Folge Rechenschaft geben werden. Die Unglückliche glaubte sich in Agnes von einer Nebenbuhlerin befreien zu müssen, und leider kam der Zufall, wie wir gesehen haben, ihrer Absicht gar sehr zu Hülfe. Ihre List mochte übrigens leicht von der Art sein, wie sie sich bei Verrückten häufig mit der höchsten Gutmütigkeit gepaart findet, und Larkens entschuldigte sie um so mehr, da er Elisabeth (so hieß das Mädchen) immer von einer äußerst arglosen, ja kindlichen Seite kennengelernt hatte. Wieviel eigentliche Lüge und wieviel Selbstbetrug an jener verhängnisvollen Prophezeiung Anteil gehabt, wäre daher nicht wohl zu entscheiden, nur wird es jetzt um so begreiflicher, daß die Erscheinung und der ganze Ausdruck der Prophetin eine so gewaltsame und hinreißende Wirkung auf das kränklich reizbare Gemüt Agnesens machen konnte.

      Einige Augenblicke war der Schauspieler entschlossen, sogleich mit dem ganzen Paket zu seinem Freunde zu eilen. Aber die Sache näher betrachtet verbot solches die Klugheit. Nolten wäre im gegenwärtigen Zeitpunkt zu einer unbefangenen Ansicht der Dinge nicht fähig gewesen und es war zu befürchten, daß ihm die Überzeugung von der Tadellosigkeit des Mädchens jetzt eben nicht willkommen wäre, daß er, von zweien Seiten aufs äußerste gedrängt, an einen Abgrund widersprechender Leidenschaften gezerrt, nichts übrig hätte, als an allem zu verzweifeln. Larkens sah dies deutlich ein, und stand wirklich eine Zeitlang ratlos, was zu tun sei. »Ich muß auf einen Kapitalstreich sinnen«, rief er aus, »das Zögern wird mir gefährlich, es ist Zeit, daß man dem Teufel ein Bein breche!«

      Vor allem wollte er suchen, es gelte was es wolle, einen Bruch mit der Gräfin vorzubereiten. Aus einzelnen Spuren hatte er neuerdings von der Neigung Noltens doch ernstlichere Begriffe bekommen, und er fing an, mehr und mehr an der Offenheit seines Freundes in diesem Punkte zu zweifeln, wie denn auch wirklich der Vorfall im Parke bisher ganz und gar ein Geheimnis für Larkens geblieben war. Für jetzt dachte dieser nur auf schleunige Beruhigung des Mädchens durch einen abermaligen Brief, den er auch sogleich, und mit ungewöhnlicher Wärme und Heiterkeit des Ausdrucks, niederschrieb.

      Es gingen, bis Nolten wieder eine Einladung zu Zarlins erhielt, zwei volle Wochen auf, und wenn diese lange Zwischenzeit unserem Freunde desto unausstehlicher vorkam, je bedeutender seine gegenwärtige Stellung zu Constanzen war, so stand er nun doch betroffen und unentschieden, ob Furcht oder Freude mächtiger in ihm sei. Aber als er sich nun an dem bestimmten Abende mit Larkens wieder in jenen geliebten Wänden, in jener edlen Umgebung fühlte, als die Gräfin nun die Versammlung bewillkommte und auch ihn mit einer Fröhlichkeit begrüßte, wie man sie sonst kaum an ihr wahrnahm, da schien sich um ihn und über sein ganzes Dasein ein Lichtglanz herzugießen, in welchem sich alle Vergangenheit und Zukunft seines Lebens wie durch Magie verklärte: und doch war es nur die Sorglosigkeit ihrer Miene, es war die edle Freiheit ihres Benehmens, was ihn so tief erquickte, und was ihm, auch abgesehen von jeder andern Vorbedeutung, die uneigennützigste Rührung hätte abgewinnen müssen, indem es ihm die Wiederherstellung des schönen Friedens ihrer Seele verbürgte, welchen gestört zu haben


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