Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
Читать онлайн книгу.die Wohnungstür, das Vorzimmer war dunkel, aus der Küche, durchs Schlüsselloch, schimmerte ein Licht, und es roch nach Petroleum. Sie traten ins Zimmer. In der Fensteröffnung stand finster der Rauchfang des gegenüberliegenden Hauses. Das Dach war so nahe, daß man es fast mit Händen greifen konnte. Aber wenn Therese ihren Blick seitlich sandte, erblickte sie über Dächer und Rauchfänge hinweg einen weiten Ausschnitt der abendlichen Stadt. Kasimir erklärte Theresen die Vorzüge seiner neuen Wohnung – Ausblick, Ungestörtheit, Wohlfeilheit. Vielleicht würde er sich entschließen, sie auf ein Jahr zu mieten. »Kann man denn hier malen?« fragte Therese. – »Kleinere Bilder schon«, bemerkte er beiläufig. Kasimir hatte die Kerze noch nicht angezündet, und in dem matten Nachtschein, der von dem klaren, blauen Himmel in den engen Raum fiel, sah der hohe, alte Schrank, das schmale Bett, dessen Kopfende in die Fensterecke gerückt war, und insbesondere der große Kachelofen anheimelnd genug aus. 101 Kasimir betonte, daß sie sich in einem der ältesten Häuser von Wien befänden, in einem einstigen kleinen Palais; – und ein Teil der Möbel sei alter gräflicher Besitz. Therese wollte einen Blick in den Schrank tun. Kasimir ließ es nicht zu; er habe noch nicht Ordnung gemacht. Er sei doch erst heute früh hier eingezogen. Wie – heute erst –? und hatte ihre Briefe ins Atelier nicht bekommen!? Sonderbar, dachte sie, aber sie sprach es nicht aus. – Übrigens habe er ihr ein Geständnis zu machen. Nämlich, er war genötigt gewesen, seinem Freund, demselben, mit dem er bisher das Atelier bewohnt hatte, aus einer Verlegenheit zu helfen, und hatte nicht einmal genug zurückbehalten, um für ein Abendessen zu sorgen. Sie reichte ihm ihre Geldbörse, er eilte davon. Sie blieb allein in dem dunklen Zimmer zurück und seufzte. Ach Gott, warum log er nur so viel, als wär’s eine Schande, ein armer Teufel zu sein, und war doch manchmal wieder geradezu stolz darauf! Und alle seine Lügen hingen doch nur mit seiner Armut zusammen. Sie wollte ihn bitten, daß er ihr von nun an alles rückhaltlos anvertraue, was ihn bedrücke. Es stand ja nun so, daß sie wahrhaftig kein Geheimnis voreinander haben durften. Auch sie nicht vor ihm. Noch heute sollte er wissen, daß sie ein Kind erwarte.
Kasimir blieb lange aus. Der Gedanke durchfuhr sie, daß er vielleicht gar nicht zurückkommen würde. Wieder kam ihr der Einfall, den Schrank zu öffnen, aber er hatte, ohne daß sie es gemerkt, den Schlüssel abgezogen. Ein kleiner Koffer stand unter der Bettstelle. Sie zog ihn hervor, er war unversperrt, ein paar armselige geflickte Wäschestücke lagen darin und eine ausgefranste 102 Krawatte. Sie schloß wieder zu und schob den Koffer an seinen Platz zurück. Sie war erschüttert. Kasimirs Armut schnitt ihr ins Herz, tiefer, als eigenes Elend es je getan. Sie fühlte eine Zusammengehörigkeit mit ihm wie nie zuvor; nicht anders, als wenn sie beide vom Schicksal füreinander bestimmt wären. Wie vieles könnte man einander tragen helfen!
Als er nun eintrat, ein kleines Päckchen und eine Flasche Wein in der Hand, fiel sie ihm stürmisch um den Hals, und er ließ ihre Zärtlichkeiten mit Herablassung über sich ergehen. Ob es nur der Wein war, der ihr die Seele leicht machte und die Zunge löste, oder dieses Einandernahesein, wie sie es noch niemals empfunden, – plötzlich, sie wußte nicht wie, in seine Arme geschmiegt, gestand sie ihm, was sie nun seit Tagen schon in der Brust verschlossen trug. Er wollte es nicht recht ernst nehmen. Er war überzeugt, daß sie sich irrte. Man müßte doch noch einige Zeit abwarten, dann würde man ja weiter sehen. Und er sagte mancherlei Dinge, die sie geschmerzt hätten, wenn sie sie völlig hätte verstehen, ja, nur recht hätte anhören wollen.
Als sie miteinander die Treppe hinuntergingen, war zwischen ihnen alles so, als wenn sie ihm überhaupt nichts gesagt hätte. Mitternacht war lange vorbei, als sie vor Theresens Haustor Abschied nahmen. Er hatte es heute wieder besonders eilig; es war ja auch alles verabredet, seine Adresse kannte sie, er die ihre, und vielleicht in wenigen Wochen schon würde man wieder beisammen sein – im Grünen unter dem Sternenhimmel. 103
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Die Ischler Villa lag vornehm in einem großen Garten. Vom Balkon aus sah man das Kur-und Badepublikum auf der Esplanade hin und her wandeln. Die Stimmung im Hause Eppich, dessen männliche Mitglieder noch in der Stadt verblieben waren, schien wie befreit, die beiden Mädchen fröhlich, wie Therese sie noch niemals gesehen, und die Mutter freundlicher, liebenswürdiger zu ihr, als sie es in der Stadt zu sein pflegte. An Besuchen fehlte es nicht. Ein eleganter junger Mann mit einer kleinen Glatze, der in der Stadt manchmal, auch mit anderen Gästen, bei Eppichs zu Mittag gespeist hatte, erschien beinahe täglich, und in der Dämmerung saß er mit der Frau des Hauses rückwärts im Garten. Therese unternahm mit den beiden Mädchen längere Spaziergänge, jüngere und ältere Freundinnen mit ihren Erzieherinnen, ziemlich erwachsene Knaben, auch junge Herren schlossen sich an, zuweilen fuhr man an einen nahen See zu kleinen Ruderpartien, und daheim gab es harmlose Gesellschaftsspiele, an denen auch Therese sich beteiligte; das ältere Mädchen, Bertha, schloß sich Theresen mit einer unerwarteten Innigkeit an, machte sie zur Vertrauten unschuldiger Herzensgeheimnisse, zuweilen gingen sie, abgesondert von den andern, Arm in Arm. Die Anmut der Landschaft, die sommerliche Luft, der Aufenthalt im Freien, die Abwechslung, all das tat Therese sehr wohl; und da jeden zweiten Tag kurze Briefchen von Kasimir eintrafen, so war ihr Gemüt von Unruhe ziemlich frei. Plötzlich aber blieben seine Briefe aus. Therese geriet in heftige Erregung, ihr Zustand, an 104 dessen Tatsächlichkeit sie immer wieder zu zweifeln begonnen und den sie manchmal wieder fast als beglückend empfunden hatte, kam ihr in seinem ganzen ungeheueren Ernst zu Bewußtsein. Sie sandte einen Expreßbrief an Kasimir, in dem sie sich rückhaltlos über ihre Besorgnisse aussprach. Keine Antwort von ihm; dagegen ein Brief ihrer Mutter, ob Therese, die ja jetzt nur wenige Stunden von ihr entfernt sei, sie nicht gelegentlich besuchen wollte. Therese erwähnte Frau Eppich gegenüber fast absichtslos dieser Einladung, und als hätte man eine Anregung solcher Art nur erwartet, wurde ein Ausflug nach Salzburg in größerer Gesellschaft beschlossen.
Schon tags darauf reiste Therese in Begleitung der Damen Eppich, einer befreundeten Dame mit Sohn und Tochter und des eleganten jungen Mannes mit der kleinen Glatze nach Salzburg. Gleich am Bahnhof trennte sich Therese von den übrigen und eilte zu ihrer Mutter, die in ein geräumiges, lichtes Erkerzimmer in einem neuen Haus übersiedelt war. Frau Fabiani empfing ihre Tochter mit ruhiger Herzlichkeit; jenes fahrig-unheimliche Wesen der letzten Jahre war beinahe verschwunden, doch schien sie plötzlich eine ganz alte Frau geworden. Sie freute sich, zu hören, daß es ihrer Tochter gut ginge; auch sie habe sich glücklicherweise nicht zu beklagen. Sie verdiene, was sie brauche, und etwas darüber; und das Alleinsein, sie gestand es gerne, kam ihrer Arbeit in jeder Hinsicht zustatten. Sie ließ sich von Theresen über ihre jetzige Stellung und über ihre früheren allerlei berichten, und Therese war beinahe gerührt über das Interesse, das ihr die Mutter entgegenbrachte. Doch während des Mittagmahls, das 105 aus einem benachbarten Gasthof besorgt und an dem kleinen Tischchen im Erker aufgetragen wurde, fing die Unterhaltung zu stocken an, und Therese empfand mit Unbehagen, daß sie bei einer zerstreuten, alten, fremden Frau zu Gaste war.
Während die Mutter auf dem Diwan ihre Nachmittagsruhe hielt, blickte Therese durch das Erkerfenster auf die Straße hinab, die sie weit verfolgen konnte, bis zur Brücke über den Fluß, dessen Rauschen herdrang. Sie dachte an die Leute, mit denen sie hiehergefahren war und die nun im Hotel bei der Mittagstafel sitzen mochten, sie dachte an Max, an Alfred und endlich an den Fremdesten unter all diesen Fremden, an Kasimir, von dem sie ein Kind unter dem Herzen trug und der ihre letzten Briefe nicht beantwortet hatte. Aber wenn er ihr auch weniger fremd gewesen wäre, was konnte er ihr helfen? Mit seiner Liebe und ohne seine Liebe – sie war in gleicher Weise allein.
Sie entfernte sich leise, ohne die Mutter aufzuwecken, und wandelte eine Weile in den Straßen der Stadt umher, die zu dieser heißen Sommernachmittagsstunde still und verlassen waren. Zuerst war sie versucht gewesen, allerlei Stellen aufzusuchen, die mit Erinnerungen für sie verknüpft waren; aber diese Erinnerungen schienen ihr nun ohne Glanz. Und sie selbst fühlte sich so müde, so ausgelöscht, als wenn das Leben für sie zu Ende wäre. So begab sie sich bald, ohne inneren Anlaß, fast mechanisch, in das Hotel, wo ihre Reisegesellschaft abgestiegen war; diese aber hatte einen Ausflug unternommen, und Therese in der kühlen Halle durchblätterte illustrierte Zeitungen; und als ihr Blick durch die Glastüre zufällig in das Schreibzimmer