Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
Читать онлайн книгу.Stunden der Lust in seinem Gedächtnis neu erwecken sollten, schilderte ihm verlockend die Möglichkeiten eines Zusammenseins nachts im Garten der Villa oder im Wald und erwähnte mit Absicht nichts von dem, was sie eigentlich bewegte.
Als sie den Brief geendet, verließ sie etwas erleichtert das Hotel, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich wieder in die Wohnung ihrer Mutter zu begeben. Diese saß schon bei ihrer Arbeit, Therese nahm von der Bücherstellage einen Band, der ihr eben in die Hand geriet; es war zufällig ein Kriminalroman, von dem sie bis in die Dämmerung hinein vollkommen gefangen blieb. Nun legte auch die Mutter ihre Arbeit beiseite und lud Therese zu einem kleinen Spaziergang ein; schweigsam gingen die beiden Frauen in der kühlen Abendluft den Fluß entlang und saßen endlich in einem bescheidenen, von Reisenden kaum je besuchten Wirtsgarten, wo Frau Fabiani vom Wirt als Stammgast begrüßt wurde und zu Theresens Verwunderung drei Krügel Bier trank. Zur Nacht mußte sich Therese, so gut es ging, auf dem Diwan behelfen. Sie wachte auf wie zerschlagen; obwohl sie erst mittags mit den andern an der Bahn zusammentreffen sollte, verabschiedete sie sich bald von ihrer Mutter, die in einem durch Vorhänge abgeschlossenen Alkoven zu Bette lag, und war froh, als sie die Treppe wieder unten war.
Der Morgen war hold und hell, Therese saß im Mirabellgarten im Farbenglanz und Duft von tausend Blumen. Zwei junge Mädchen, Schulkolleginnen von einst, kamen vorüber, von denen sie nicht gleich erkannt 107 wurde, aber bald wandten sie sich wieder nach ihr um, kamen auf sie zu, und ein Grüßen und Fragen ging hin und her. Therese erzählte, sie sei Gesellschafterin in einem vornehmen Wiener Hause und habe hier ihre Mutter besucht, dann erkundigte sie sich, was es in der kleinen Stadt Neues gäbe. Aber da sie sich weder nach Max, noch nach Alfred zu fragen getraute, hörte sie nur lauter Klatsch, der sie nicht im geringsten anging. Es war ihr, als sei sie den beiden Schulkameradinnen, die im gleichen Alter mit ihr waren, um Jahre voraus; sie hatte mit ihnen, mit dieser Stadt nichts mehr zu schaffen und war froh, als sie eine Stunde später auf dem Bahnhof mit ihrer Ischler Gesellschaft zusammentraf, um abzureisen.
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Die nächsten Tage in der Ischler Villa erwartete sie fieberig eine Nachricht von Kasimir. Vergebens. Ihr erregtes Wesen begann aufzufallen, es wurde ihr klar, daß sie irgend etwas unternehmen, daß sie zum mindesten mit irgend jemandem sprechen mußte. Wem aber sollte sie sich anvertrauen? Am nächsten fühlte sie sich der fünfzehnjährigen Bertha, die jeden Tag in einen andern verliebt war und sich vor dem Schlafengehen an Theresens Herz auszuweinen pflegte. Gerade dieses Kind, so schien es ihr, hätte sie am besten verstehen und trösten können. Aber bald sah sie die Unsinnigkeit ihres Einfalls ein, und sie schwieg. Unter den Erzieherinnen und Gesellschafterinnen, denen das sommerliche Beisammensein sie näher gebracht hatte, war keine, zu der sie sich hingezogen fühlte. Manche 108 von ihnen mochte wohl ihre persönlichen Erfahrungen haben, doch Therese fürchtete Spott, Indiskretion, Verrat. Sie wußte natürlich, daß es Mittel und Wege gäbe, ihr zu helfen, doch es war ihr auch nicht unbekannt, daß dergleichen mit Gefahr verbunden war, daß man krank werden, sterben oder auch in den Kerker kommen konnte. Und irgendeine halb vergessene Geschichte, die sich vor zwei oder drei Jahren in Salzburg ereignet und ein tragisches Ende genommen hatte, wachte dumpf in ihrem Gedächtnis auf.
Sie gab sich eine letzte Frist von acht Tagen, um eine Nachricht von Kasimir zu erwarten. Während dieser Zeit fand sie in den Zerstreuungen des Landaufenthalts immerhin einige trügerische Ablenkung und Beruhigung. Als die acht Tage verstrichen waren, erbat sie sich drei Tage Urlaub. Sie hätte wegen der Verlassenschaft von ihrem Vater her mit ihrem Bruder dringend persönlich zu sprechen. Der Urlaub wurde ohne weiteres gewährt.
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Sie kam in Wien zur Mittagsstunde an und fuhr geradeswegs nach dem Wohnhause Kasimirs. Sie eilte die Treppen hinauf. Eine alte Frau öffnete. Hier wohnte kein Herr Kasimir Tobisch, hier hatte nie ein Herr dieses Namens gewohnt. Vor einigen Wochen allerdings hatte ein junger Mann dieses Zimmer bezogen, eine kleine Angabe geleistet, doch schon am nächsten Tag war er wieder verschwunden, ohne sich polizeilich gemeldet zu haben. Therese ging betroffen und beschämt. Beim Hausbesorger erfuhr sie, daß einige Briefe an 109 einen Herrn Kasimir Tobisch im Hause eingelaufen seien; der erste sei auch abgeholt worden, die andern waren unbehoben. Therese sah sie vor sich, erkannte ihre eigene Schrift. Sie bat, daß man sie ihr ausfolge. Der Hausbesorger weigerte sich. Sie entfernte sich glührot im Gesicht und fuhr nach dem Hause, wo Kasimir das Atelier bewohnt hatte. Hier war der Name Tobisch dem Hausbesorger völlig unbekannt. Vielleicht, daß die zwei Maler etwas wüßten, die jetzt im Atelier oben wohnten? Therese eilte hinauf. Ein älterer Mensch in einem weißen, farbenbeschmutzten Kittel öffnete ihr. Er wußte nichts von einem Herrn namens Kasimir Tobisch; vor ihm selbst hätte ein Ausländer hier gewohnt, ein Rumäne, der abgereist sei, ohne den Rest der Miete zu bezahlen. Therese stammelte einen Dank für die Auskunft, in den Augen des Malers schimmerte es wie Mitleid. Als sie die Treppe hinunterging, fühlte sie seinen Blick im Nacken.
Nun stand sie auf der Straße. Trotz allem glaubte sie nicht, daß Kasimir Wien verlassen habe. Sie mußte ja nicht gleich zurück, sie konnte auch ein paar Tage lang in den Straßen herumwandern, so lange, bis er ihr endlich in die Arme laufen mußte. Und wenn sie auch im Innern die Lächerlichkeit ihres Beginnens spürte, sie begann tatsächlich in der Stadt hin und her zu irren, die Kreuz und die Quer, stundenlang, bis endlich Müdigkeit und Hunger sie in ein Gasthaus trieben. Es war eine ungewohnte Speisestunde; so saß sie allein in dem geräumigen, anmutlosen Lokal, und wie im Fieber zählte sie, während sie auf das Essen wartete, unablässig die weißgedeckten Tische, von denen an, die in der Helligkeit der Fensternischen standen, bis zu 110 den letzten, die im Dämmer des unbeleuchteten Hintergrundes verschwanden. Ihr Blick fiel auf ihre Handtasche, die sie beim Eintritt auf einen Stuhl gelegt hatte, und jetzt erst besann sie sich, daß sie die ganze Zeit über mit diesem Gepäckstück in den Straßen umhergeirrt und daß sie noch obdachlos war. Das Restaurant, in dem sie saß, gehörte zu einem Vorstadtgasthof minderen Rangs, sie beschloß, hier Quartier zu nehmen.
Als sie sich in ihrem Zimmer vom Staub der Reise und des Umherlaufens gereinigt, war noch lange der Abend nicht da. Von ihrem Fenster im vierten Stock blickte sie in den Dunst der Straße, aus der das Rauschen und Rattern eintönig und feindselig zu ihr heraufdrang. Wenn hier unten Kasimir vorüberginge, fragte sie sich, und sie geschwind die Treppe hinabliefe – könnte sie ihn noch erreichen? – Ja, würde sie ihn überhaupt erkennen von hier oben aus? Die Gesichter da unten verschwammen ihr alle. Vielleicht ging er wirklich eben vorüber, und sie wußte es nicht. Sie beugte sich hinab, es wurde ihr schwindlig; sie trat vom Fenster zurück und setzte sich an den Tisch. Der Straßenlärm dämpfte sich ab, ihre Einsamkeit, ihre Losgelöstheit, das Bewußtsein, daß in diesem Augenblick niemand ahnte, wo sie sich befinde, gab ihr für kurze Zeit eine merkwürdige Ruhe, fast ein Wohlgefühl. Warum war ihr denn nur in den letzten Tagen und Wochen so schlimm zumute gewesen, als wenn irgendeine wirkliche Gefahr sie bedrohte? Was hatte sie denn zu fürchten im Grunde? Wem war sie Rechenschaft schuldig? Ihrer Mutter? Ihrem Bruder vielleicht? Die sich doch beide nicht um sie kümmerten? Den Leuten, bei denen 111 sie in Stellung war, von denen sie bezahlt wurde und von denen sie in jedem Fall, ob nach Jahren oder nach Monaten, wenn es ihnen gerade paßte, wie irgendeine Fremde an die Luft gesetzt werden würde? Was gingen sie alle diese Leute an? Überdies besaß sie, wie sie neulich in Salzburg von der Mutter erfahren, aus der Erbschaft eine etwas größere Summe, als sie bisher gedacht, mit der man ein paar Monate wohl sein Auslangen finden konnte; sie hing also von niemandem ab. Und so traf es sich vielleicht ganz gut, daß sie Kasimir nicht begegnet war, daß sie mit ihm überhaupt nichts mehr zu schaffen hatte. Der wäre am Ende auch imstande gewesen, sie um die paar Gulden zu bringen, die ihr über die schwere Zeit hinweghelfen konnten und sollten. Warum war sie denn nur nach Wien gefahren? Was wollte sie von ihm? Ach, wozu die Frage! Sie wußte es ja. Ihn wollte sie, ihn selbst, seine Küsse und seine Umarmungen. Und nun mit einemmal nach einer kurzen, trügerischen Beruhigung kam es wieder wie Verzweiflung über sie. Seinetwegen