Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
Читать онлайн книгу.Bücher lagen, auf den 78 Bettrand gesetzt hatte, und küßte sie, wie einer Verpflichtung nachkommend, flüchtig auf die Stirn. »Hörst du sonst etwas von Hause?« fragte er dann. Therese berichtete das Wenige, was sie wußte, unter anderm, daß die Mutter die Wohnung verlassen, die Möbel verkauft und ein möbliertes Zimmer bezogen habe. »Die Möbel verkauft?!« wiederholte Karl mit einem sauern Lächeln. »Sie hätte uns eigentlich fragen müssen.« Und auf Theresens verwunderten Blick: »Du und ich, wir sind doch gewissermaßen Mitbesitzer des Mobiliars.« – »Ja, richtig,« sagte Therese, »sie schreibt auch etwas davon, daß man uns in der nächsten Zeit einen gewissen Betrag ausbezahlen wird.« – »Einen gewissen – hm, da wird man sich wohl etwas genauer darum kümmern müssen.« Er begann wieder auf und ab zu gehen, schüttelte den Kopf, und mit einem raschen Blick auf Therese sagte er vor sich hin: »Ja, nun hat er es überstanden, unser armer Vater.« Therese wußte nichts darauf zu sagen, fühlte sich noch unbehaglicher, als sie es sich erklären konnte, und verabschiedete sich von ihrem Bruder, ohne ihm, wie sie es eigentlich gewollt, von ihrer neuen Stellung zu erzählen. Karl hielt sie nicht zurück.
Auf dem Heimweg trat sie in eine Kirche und verweilte dort längere Zeit, ohne zu beten, doch andächtig, ja inbrünstig des Verstorbenen gedenkend, der ihr nun in einer früheren Gestalt vor Augen stand, so, wie sie ihn als Kind gekannt und geliebt hatte. Sie erinnerte sich der fröhlichen, lauten Art, mit der er damals ins Zimmer zu treten, sie vom Boden, wo sie gespielt, emporzuheben, an sich zu drücken und zu herzen gepflegt hatte, und sofort gesellte sich dieser Erscheinung auch 79 die damalige ihrer Mutter bei, hell und jugendlich, ja, so strahlend, wie sie sie in Wirklichkeit eigentlich niemals gesehen. Und wieder kam jener Schauer über sie, den sie heute schon einmal gefühlt hatte, wenn sie daran dachte, in welch kurzer Frist diese beiden Menschen sich so völlig hatten verändern können, daß sie ihr nun beide wie längst Dahingeschiedene, längst Begrabene erschienen, die mit dem eben verstorbenen, wahnsinnigen Oberstleutnant und mit der unordentlichen, boshaften und etwas unheimlichen alternden Romanschreiberin in Salzburg überhaupt nicht das geringste gemein hatten.
27
Am nächsten Tag trat Therese ihre neue Stellung an. Durch besondere Liebenswürdigkeit versuchte man, ihr über die Verlegenheit des ersten Mittagstisches hinwegzuhelfen, an dem sie auch den Sohn des Hauses, George, wie man seinen Namen französisch aussprach, kennenlernte, einen leidlich hübschen Burschen von achtzehn Jahren, der als Student der Rechte an der Universität inskribiert war.
Eine Tageseinteilung für Therese ergab sich von selbst. Beide Mädchen besuchten die Schule, von Theresen wurden sie hinbegleitet und wieder abgeholt, sie war ihnen bei den Aufgaben behilflich, auf Regelmäßigkeit der Spaziergänge wurde von Frau Eppich besonderer Wert gelegt. Das Verhalten beider Eltern blieb weiterhin freundlich, wenn sich auch Therese bald über die vollkommene innere Gleichgültigkeit ihr gegenüber keiner Täuschung hingeben konnte. Man machte es ihr 80 leicht, sich an den Gesprächen während der Mahlzeiten zu beteiligen, zuweilen wurden politische Themen angeschlagen, und mit unverkennbarer Absicht gab bei solcher Gelegenheit Dr. Eppich höchstliberale Ansichten zum besten, gegen die sich niemand wandte als sein eigener Sohn, der dem Vater allzu weitgehenden Idealismus vorwarf, was dieser nicht ungern, fast geschmeichelt zu hören schien. Was Frau Eppich anbelangt, so gab es Tage, an denen sie nicht nur für ihre Töchter, sondern auch für wirtschaftliche Angelegenheiten des Hauses das lebhafteste Interesse zeigte, bald in diesem, bald in jenem Zimmer unerwartet auftauchte und Anordnungen traf; – und andere, an denen sie sich um Haus, Wirtschaft und Kinder nicht im geringsten kümmerte und für Therese außer bei den Mahlzeiten unsichtbar blieb. George machte sich im Zimmer seiner Schwestern öfter zu schaffen, als unumgänglich notwendig war, seine Blicke, bald schüchtern, bald unverschämt, verrieten Theresen bald, daß er in ihrer Nähe Wünsche und vielleicht Hoffnungen hegte, von denen sie aber, vollkommene Zurückhaltung bewahrend, nichts zu merken schien. Das ältere der beiden Mädchen schien manchmal geneigt, sich Theresen mit Herzlichkeit an-und aufzuschließen, hielt sich aber, wenn dies an irgendeinem Tage fast geschehen war, an den darauffolgenden wie mit Absicht nur noch ferner von ihr. Die jüngere war von einer gleichmäßigen, noch durchaus kindlichen Heiterkeit, und beide Töchter hingen an der Mutter mit großer Zärtlichkeit, die, wie Therese manchmal zu merken glaubte, von dieser nicht in gleicher Weise und oft nur zerstreut, ja ungeduldig erwidert wurde.
81 Für sich selbst hatte Therese wenig Zeit übrig. An jedem zweiten Sonntag hatte sie »Ausgang«, wie der Ausdruck lautete, doch wußte sie kaum, was sie mit ihren freien Stunden anfangen sollte, und benutzte sie ohne rechte Lust zu Spaziergängen und, selten, zu einem Theaterbesuch. Über die Behandlung im Hause hatte sie sich auch weiterhin kaum zu beklagen, trotzdem kam allmählich eine gewisse Unruhe, ja beinahe ein Gefühl von Unsicherheit über sie, als dessen Ursache sie die sonderbar wechselnden Stimmungen innerhalb der Familie zu erkennen glaubte, in die sie selbst unwillkürlich einbezogen wurde, ohne recht zu wissen wie. Kein Wesen war da, dem sie sich anvertrauen konnte oder wollte. Nur eine französische Erzieherin, nach Theresens Auffassung kaum mehr ganz jung zu nennen, obwohl sie die Dreißig noch nicht überschritten hatte, war ihr etwas sympathischer, und sie benützte die Gelegenheit, durch Unterhaltungen mit ihr sich in der französischen Konversation zu vervollkommnen. Sylvie war amüsant, vertraute Theresen, wenn auch mit einiger Zurückhaltung, allerlei nicht unbedenkliche Geschichten aus ihrer Vergangenheit an und versuchte auch Therese zu persönlichen Mitteilungen zu ermuntern. Diese, von Natur verschlossen, erzählte nicht viel mehr als sie auch dem fremdesten Wesen hätte sagen dürfen, merkte aber, daß Mademoiselle Sylvie an ihre Unverdorbenheit nicht recht glauben wollte. Therese wunderte sich manchmal selbst, daß sich ihr Herz, ja, daß sich kaum ihre Sinne mehr jener verflossenen Seligkeiten in den Armen des Leutnants zu erinnern vermochten. Die Enttäuschung über seinen Betrug war ja längst verschmerzt, trotzdem war ihr, als könne sie niemals mehr einem Manne 82 Glauben schenken, und manchmal war sie darüber froh. Es schmeichelte ihr auch ein wenig, daß sie sich eines vortrefflichen Rufs erfreute und daß Frau Eppich gegenüber den Bekannten des Hauses Theresens Abstammung aus einer alten österreichischen Offiziersfamilie nicht ungern erwähnte.
28
Der Frühling kam heran, und am zweiten Osterfeiertage, früh am Nachmittag, erwartete Therese auf dem Stefansplatz die Gouvernante eines den Eppichs befreundeten Hauses, eine gutmütige, ziemlich verblühte Person, für die sie vom ersten Augenblick an nicht so sehr Freundschaft als Mitleid empfunden hatte. Das Fräulein ließ auf sich warten, und Therese vergnügte sich indes damit, die Vorübergehenden zu betrachten, die an diesem milden blauen Feiertag, alle wie von Sorgen befreit, irgendeinem heiteren Ziele zuzustreben schienen. An Liebespaaren war kein Mangel; Therese, ohne daß sich gerade Neid in ihr regte, empfand es als etwas lächerlich, daß sie hier nicht einen Liebhaber, sondern eine ältliche Gouvernante erwartete, mit der sie durch keinerlei Gemeinsamkeit als durch die Ähnlichkeit des Berufs verbunden war; und es wurde ihr vor dem bevorstehenden, voraussichtlich langweiligen Nachmittag, den sie mit ihr verbringen sollte, beinahe ängstlich zumut. Da schon eine halbe Stunde über die verabredete Zeit verstrichen war, beschloß sie, sich allein ins Freie zu wagen. Noch einmal aus Gewissenhaftigkeit sah sie sich nach allen Seiten um, ob die andere nicht doch vielleicht von irgendwoher noch käme; dann 83 aber verließ sie eiligst den Platz des Stelldicheins, tauchte im Strome der Spaziergänger unter und freute sich ihres Alleinseins, ihrer Freiheit und auch der Rätselhaftigkeit, von der jede nächste Stunde leuchtet, die keinen vorbestimmten Inhalt birgt. Es fügte sich, daß sie von der Menge geschoben und zugleich geführt den Weg gegen den Prater zu nahm und sich endlich in der Hauptallee fand, deren Bäume alle noch kahl standen, während der Erdboden schon nach Frühling duftete. Die Fahrbahn war von Wagen belebt und wurde belebter von Minute zu Minute, da in Fiakern und Equipagen das Publikum eben von den Rennen in der Freudenau zurückgefahren kam. Gleich vielen anderen stellte sich auch Therese für eine Weile am Wegrand hin; mancher Blick streifte sie, mancher wandte sich nach ihr zurück, unter anderen der eines jungen Offiziers, der,