Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
Читать онлайн книгу.einschlief und es am nächsten Morgen über sich brachte, die Mutter freundlich und mit Vermeidung jeder Anspielung auf den nächtlichen Zwischenfall zu 67 begrüßen. Da es überdies ein wunderschöner Märztag war, der schon in den Farben des Frühlings spielte, und vielleicht auch darum, weil morgen Palmsonntag war und tags darauf die ganze Theatergesellschaft auseinanderstieben sollte, sah Therese dem für heute abend verabredeten Zusammensein mit Max in einem guten Vorgefühl entgegen.
Als sie in früher Abendstunde sein Zimmer betrat, war Max, wie es zuweilen vorkam, noch nicht daheim. Ein Gedanke, der ihr bisher stets fremd gewesen war, flog ihr, wie in der Erinnerung an etwas gestern Erlebtes, durch den Sinn: einmal einen Blick in den Schrank und in die Laden ihres Geliebten zu tun; und um sich dieser häßlichen Versuchung zu entziehen, nahm sie eines der Bücher zur Hand, die auf dem Tisch lagen. Max pflegte zu lesen, was ihm eben der Zufall ins Haus wehte: Romane, ab und zu ein Theaterstück, das meiste in abgegriffenen Exemplaren, da es schon durch manche Hände gegangen zu sein pflegte, ehe es in die seinen geriet. Therese schlug ein Buch auf, die illustrierte Ausgabe eines Hackländerschen Romans, warf dann einen zerstreuten Blick in ein umfangreicheres, mit Karten versehenes Generalstabswerk, ohne sich um dessen Inhalt zu kümmern, und als sie es unwillkürlich wegschob, merkte sie, daß darunter, wie mit Absicht verborgen, das gedruckte Bühnenmanuskript eines neueren Stückes lag, das sie erst vor wenigen Tagen hier hatte spielen sehen. Sie durchblätterte das Exemplar und merkte, daß immer derselbe weibliche Name, Beate, rot unterstrichen war. Beate –? Hatte so nicht in dem neulich gesehenen Stück der Name einer Person gelautet, die von der Dame gespielt worden war, mit 68 der in Beziehungen zu stehen sie Max schon seit einigen Tagen verdächtigte? Beate – natürlich. Der Zusammenhang war klar. Nach einer solchen Entdeckung hielt sie sich zu weiteren Nachforschungen durchaus berechtigt und nahm diese in plötzlich erwachender Eifersucht so rücksichtslos und erfolgreich vor, daß Max, der, eben eintretend, sie vor seinem offenen Schranke fand, Briefe, Schleier, verdächtige Spitzenwäsche zu ihren Füßen, sich jedes Leugnen füglich ersparen durfte. Er stürzte auf sie los, fiel ihr in den Arm, sie machte sich frei, schrie ihm ins Gesicht: »Schuft!« und ohne Erwiderung, Entschuldigung, Rechtfertigung abzuwarten, wollte sie das Zimmer verlassen. Er ergriff sie bei den Schultern: »Bist ja ein Kind«, sagte er. Sie sah ihn nur groß an. – »Sie ist ja gar nicht mehr da!« Und da sie ihn weiter verständnislos anstarrte: »Mein Ehrenwort! Ich hab’ sie soeben selber auf die Bahn gebracht.« Jetzt verstand sie, lachte hart auf und ging. Er eilte ihr nach. Auf der dunklen Treppe ergriff er sie wieder beim Arm. »Willst du mich gefälligst loslassen«, stieß sie mit zusammengepreßten Zähnen hervor. – »Aber fallt mir ja nicht im Schlaf ein«, sagte er. »Du bist ja eine Närrin. Hör’ doch zu. Ich kann ja gar nichts dafür. Sie ist mir nachgelaufen. Kannst fragen, wen du willst. Bin ja todfroh, daß sie fort ist. Heut hätte ich dir sowieso die ganze G’schicht erzählt, Ehrenwort.« Er zog sie heftig an sich. Sie weinte. »Kind«, wiederholte er. Und mit der einen Hand noch immer fest ihr Handgelenk umspannend, streichelte er mit der andern ihre Haare, ihre Wange, ihren Arm. »Übrigens hast du auch deinen Hut oben gelassen«, sagte er. »Also beruhige dich doch endlich. Laß dir wenigstens 69 erklären, dann kannst du ja noch immer machen, was du willst.«
Sie folgte ihm wieder auf sein Zimmer. Er riß sie auf seine Knie nieder und schwor, daß er sie und immer nur sie geliebt habe und »so was« nie wieder passieren werde. Sie glaubte ihm kein Wort, aber sie blieb. Als sie gegen Morgen nach Hause kam, schloß sie sich in ihr Zimmer ein; müd und angeekelt packte sie ihre Sachen, ließ ein paar kühle Abschiedsworte für ihre Mutter zurück, und mit dem Mittagszug fuhr sie nach Wien. –
23
Die erste Nacht ihres Wiener Aufenthaltes verbrachte Therese in einem unansehnlichen Gasthof nahe dem Bahnhof, und am nächsten Morgen, nach einem vorgesetzten und genau überlegten Programm, machte sie sich vor allem auf den Weg nach der inneren Stadt. Es war ein heller Vorfrühlingstag; schon wurden Veilchen ausgeboten, viele Frauen trugen Frühjahrskleider; Theresen aber war es auch in ihrem einfachen, gutsitzenden Winterkostüm ganz wohl und sicher zumute, und sie war froh, aus Salzburg fort und allein zu sein.
Aus der Zeitung hatte sie sich Adressen aufgeschrieben, wo ein Kinderfräulein oder eine Erzieherin gesucht wurde, und wanderte nun den ganzen Tag, mit einer kurzen Mittagspause in einem wohlfeilen Restaurant, von Haus zu Haus. Öfters wurde sie zu jung befunden, öfters abgewiesen, weil sie noch nicht in der Lage war, Zeugnisse vorzuzeigen; einige Male behagten ihr selbst die Leute nicht, bei denen sie hätte Aufnahme finden können, endlich, in der Müdigkeit des heranbrechenden 70 Abends, entschloß sie sich, in einer Beamtenfamilie mit vier Kindern von drei bis sieben Jahren Stellung zu nehmen.
Im Verhältnis zu dem, was sie hier erfahren sollte, war das Leben daheim auch in der schlimmsten Zeit immer noch geradezu üppig gewesen. Die Kinder, stets hungrig, brachten in die armselige Wohnung nur Lärm, aber keine Fröhlichkeit; die Eltern waren verdrossen und bösartig; Therese, genötigt, mit eigenem Geld ihre Nahrung aufzubessern, war nach wenigen Wochen mit ihrer Barschaft zu Ende, und unfähig, den üblen Ton der Leute weiter zu ertragen, verließ sie das Haus.
In ihrer nächsten Stellung bei einer Witwe mit zwei Kindern behandelte man sie wie einen Dienstboten, in einer dritten war es die unleidliche Unreinlichkeit der Umgebung, in einer vierten die freche Zudringlichkeit des Hausherrn, die Therese bald wieder vertrieb. So wechselte sie ihre Stellung noch einige Male, nicht ohne zu fühlen, daß zuweilen ihre eigene Ungeduld, ein gewisser Hochmut, der wie anfallsweise über sie kam, eine ihr selbst unerwartete Gleichgültigkeit gegenüber den Kindern, die ihrer Obhut anvertraut waren, Mitschuld an ihrer Unfähigkeit trugen, sich unter einem fremden Dache einzuleben. Es war eine so mühe-und sorgenvolle Zeit, daß Therese kaum jemals zu einem richtigen Sichbesinnen gelangte; doch manchmal, wenn sie etwa in einem schmalen Bett an einer kalten Mauer liegend durch das Weinen eines ihrer Pfleglinge mitten in der Nacht geweckt wurde, oder wenn im Morgengrauen Stiegenlärm und Dienstbotengeschwätz sie aus dem Schlafe störten, oder wenn sie in einem traurigen, kleinen Garten vor der Linie mit fremden Rangen, die 71 ihr gleichgültig oder widerwärtig waren, müde auf einer Bank saß, oder wenn sie, gelegentlich allein im Kinderzimmer zurückbleibend, unerwünschte Muße hatte, über ihr Los nachzudenken, da ward ihr dessen ganze Kläglichkeit wie in einer plötzlichen Erleuchtung klar genug.
Die wenigen freien Nachmittage, die ihr vergönnt waren, pflegte sie erschöpft, wie sie war, meist an ihrem Dienstort zu verbringen, insbesondere, nachdem der einmalige Versuch eines gemeinsamen Spazierganges mit einem Kinderfräulein aus der Nachbarschaft in peinlicher Weise mißglückt war. Diese Person, die bisher immer von allerlei Anfechtungen zu erzählen gewußt hatte, denen sie in ihren verschiedenen Stellungen von seiten der Hausväter oder Haussöhne ausgesetzt gewesen und die sie siegreich abgeschlagen; – an diesem Sonntagnachmittag im Prater hatte sie sich auch die frechste Anrede von jungen Leuten jeder Art gefallen lassen und sich am Ende in ihren Antworten so wenig Zwang angetan, daß Therese in einem unbeobachteten Augenblick, von einem plötzlichen Ekel erfaßt, verschwunden und allein nach Hause gegangen war.
24
Die Nachrichten aus Salzburg waren in dieser ganzen Zeit spärlich gewesen; sie selbst hatte bei ihrer fluchtartigen Abreise eine Adresse natürlich nicht angegeben, und die erste Antwort, die sie endlich nach Monaten an ein Stellungsbureau erbeten hatte, fiel so flüchtig aus, wie es ihre eigenen Abschiedsworte gewesen waren. Klang aber anfangs in den Briefen der Mutter noch ein Ton der 72 Verletztheit durch, so hätte man aus den späteren schließen können, daß Therese eigentlich im besten Einvernehmen mit ihr das Haus verlassen hatte. Und waren auch Theresens Briefe bei aller Zurückhaltung so abgefaßt, daß eine mitfühlende Seele immerhin die Jämmerlichkeit und das Elend ihrer Existenz aus ihnen hätte herauslesen können – die Mutter schien dergleichen nicht zu bemerken, und es kam sogar vor, daß sie ihrer Genugtuung über Theresens Wohlbefinden Ausdruck gab. Doch was Hohn hatte scheinen können, war nichts anderes