Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
Читать онлайн книгу.target="_blank" rel="nofollow" href="#u1f11418c-530a-5739-8274-390587f81eb1">Inhaltsverzeichnis
Am nächsten Sonntag ereignete sich endlich, was schon öfters geplant, aber bisher noch nie zur Ausführung gelangt war: ein gemeinsamer kleiner Ausflug mit Thilda und ihrem Vater, dem sich auch ein Ehepaar anschloß, das man zufällig in der Straßenbahn getroffen hatte. Es war ein schöner Frühlingstag, in einem Waldwirtshaus ließ man sich zu einem Imbiß nieder, und Therese merkte, daß es das gleiche war, in dem sie vor vielen Jahren einmal mit Kasimir eingekehrt war. Saß sie nicht an demselben Tisch, vielleicht auf demselben Stuhl wie damals? Waren es nicht am Ende dieselben Kinder, wie damals, die dort auf der Wiese herumliefen, – wie es der gleiche Himmel über ihr, die gleiche Landschaft und das gleiche Gewirr von Stimmen war? Saßen nicht dieselben Leute dort am Nebentisch, mit denen damals ihr Begleiter zu ihrem Mißvergnügen sich in eine Unterhaltung eingelassen hatte? Erst in der Sekunde drauf besann sie sich, daß der Mann, dessen sie sich jetzt erinnerte, der Vater ihres Kindes war; und noch etwas anderes fiel ihr ein, woran sie rätselhafterweise seit heute morgen nicht mehr gedacht hatte, daß dieses Kind, daß ihr Sohn Franz sich 303 am gestrigen Abend wieder in unerfreulichste Erinnerung gebracht hatte. Er hatte ihr einen Brief geschickt: zweihundert Gulden brauche er. Damit wäre er gerettet, mehr als das, damit könne er sich eine Existenz gründen. »Laß mich nicht im Stich, Mutter, ich beschwöre dich.« Nicht die alte Frau mit dem Kopftuch hatte den Brief abgegeben, ein hagerer, abgerissen aussehender Bursch war draußen vor der Tür gestanden, hatte sich hereingedrängt und die Türe hinter sich geschlossen mit frechem Blick und, ohne ein Wort zu reden, ihr den Brief gereicht; es war, als hätte Franz es darauf angelegt, der Mutter durch die Erscheinung des Boten Angst einzujagen. Sie hatte ihm dreißig Gulden geschickt, es war ihr schwer genug. Wie sollte das nur weitergehen? Ah, wäre er doch damals nach Amerika gegangen! Hätte man nur Geld genug, ihm das Billett für die Überfahrt zu zahlen! Aber wer stand dafür ein, daß er sich auch wirklich einschiffte und davonfuhr? Und plötzlich, wie auf einem Bild, sah sie ihn vor sich: auf dem Verdeck eines Frachtendampfers, in abgetragenem Anzug, mit zerrissenen Schuhen, ohne Überzieher mit hoch hinaufgeschlagenem Kragen, in Sturm und Regen. Und in demselben Augenblick war auch wieder das Schuldgefühl da, das sie immer wieder, wenn auch auf Minuten nur, überfiel und das, wenn es geschwunden war, sie gleichsam im Leeren dahinschwebend, dahintreibend zurückließ, als wenn alles, was sie erlebte, gar nicht wirklich wäre, sondern ein Traum.
»Ihre Suppe wird kalt, Fräulein Fabiani«, sagte Thilda.
Therese blickte auf und wußte gleich wieder, wo sie war. Die andern hatten ihre Versunkenheit kaum 304 bemerkt, sie aßen, plauderten, lachten, und auch Therese atmete wieder frei, ließ sich das Essen schmecken, freute sich an der Luft, der Landschaft, den Menschen, dem Frühling und der Sonntagslaune ringsum. Das befreundete Ehepaar empfahl sich, es wollte noch weiter auf eine der nahen Anhöhen. Die anderen traten den Rückweg an. An einer schönen freien Stelle mit weitem Ausblick über die Donau gegen die Ebene zu rasteten sie. Herr Wohlschein legte sich auf die Wiese hin und schlief ein, Therese und Thilda lagerten sich in einiger Entfernung und kamen ins Plaudern. Therese war die Gesprächige. Es fiel ihr heute so viel aus vergangenen Zeiten ein; viele Menschen, deren sie längst nicht mehr gedacht, die sie völlig vergessen zu haben glaubte, Familien, in denen sie gelebt, Väter, Mütter, die Kinder, die sie erzogen oder wenigstens unterrichtet, gleichgültige und allzu sehr geliebte; – es war, als wenn sie ein Album mit Photographien aufblätterte, manche überschlagend, auf der einen flüchtig, auf der anderen länger oder gar gerührt verweilend, und es war traurig und doch auch beruhigend zu denken, daß von all diesen Kindern, deren manchem sie fast eine Mutter gewesen, kaum eines heute sich ihrer noch erinnerte und keines vielleicht von ihrer jetzigen Existenz etwas wußte. Aufmerksam, die Hände um die Knie geschlungen, bald mit neugierigen Kinderaugen, bald ernsthaft bewegt, lauschte Thilda, und in ihrem Zuhören erstanden Theresen die Bilder der Erinnerung zu einer lebendigeren Gegenwart, als sie ihnen damals eigen gewesen war. Und sie dankte es Thilda, daß so ihr armes Leben für die Dauer einer Frühlingsstunde reicher geworden war.
305 Herr Wohlschein blinzelte zu ihnen herüber, erhob sich, trat herbei und fragte, ob sie einander viel Interessantes zu erzählen hätten. Therese und Thilda erhoben sich nun auch, schüttelten Gras und Staub von ihren Röcken, und alle drei stiegen weiter nach abwärts. Thilda hing sich zutraulich in Theresens Arm, sie liefen manchmal voraus, Herr Wohlschein, den Rock übergehängt, folgte ihnen. Es war der gleiche Weg, den Therese vor vielen Jahren mit Kasimir Tobisch hinabgegangen war … in den ersten Tagen, da sie sein Kind unter dem Herzen trug.
Noch lange vor Dunkelheit nahmen Wohlschein und Thilda von Theresen an ihrem Haustor Abschied. Doppelt einsam war ihr an diesem Feiertagsabend in ihrem Heim zumute, in das die Wärme des beginnenden Frühlings noch keinen Eingang gefunden, und bald war das Leben wieder so arm wie vorher.
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Eine Woche und mehr vergingen, während deren sich Thilda Theresen gegenüber kaum vertrauter benahm als die anderen Schülerinnen und es nach den Kursen sogar immer recht eilig hatte, bis sie ihr, wieder ganz unerwartet, eines Tages eine Einladung des Vaters in die Oper überbrachte. Für Therese bedeutete es ein Fest, nach vielen Jahren wieder einmal in dem prächtigen weiten Raum, noch dazu an Thildas Seite, wie eine ältere Schwester beinahe, einer Aufführung des Lohengrin beizuwohnen, und es hätte kaum der außerordentlichen Orchester-und Gesangsleistungen bedurft, um sie glücklich zu stimmen. Auch Herr Verkade war in die 306 Loge geladen, und nachher soupierte man gemeinsam in einem vornehmen Hotel-Restaurant, wo sich Therese freilich in ihrem für die Gelegenheit etwas ärmlichen Kleid nicht mehr recht als Thildas ältere Schwester zu fühlen vermochte, um so weniger, als der Holländer sich fast nur mit Thilda unterhielt und der sonst ziemlich gesprächige Wohlschein auffallend wortkarg schien. Therese, ohne recht zu wissen warum, vermutete geschäftliche Verdrießlichkeiten als Ursache, war aber von einer solchen Möglichkeit keineswegs unangenehm berührt. Ja, ganz im Gegenteil spann sie diesen Gedanken weiter bis zu der Vorstellung, daß die alte Fabrik zugrunde gegangen sei, Wohlschein sein Vermögen verloren habe und daß Thilda keine reiche junge Dame mehr wäre, sondern ein armes Mädel, das sich selber ihr Brot verdienen mußte und dadurch ihr, Theresen, unendliche Male näher sein würde als jetzt.
Aber die wirkliche Ursache von Wohlscheins Verstimmung oder von dem, was Therese dafür gehalten, wurde ihr wenige Tage später klar, als Thilda sie in ganz leichtem Ton mit der Mitteilung überraschte, daß sie sich mit Herrn Verkade verlobt habe. Die Heirat sollte im Spätherbst stattfinden, als künftiger Aufenthalt des Paares war Amsterdam vorgesehen, wohin übrigens Herr Verkade gestern für längere Zeit wieder abgereist sei. Während Thilda das erzählte, war nur ein starres Lächeln in Theresens Antlitz; es konnte zugleich als Gebärde eines Glückwunsches gelten, den mit Worten über die Lippen zu bringen Therese nicht vermochte.
Sie begriff Wohlschein nicht, der die Zustimmung zu dieser Heirat gegeben, schalt ihn bei sich schwach oder 307 gefühllos, ja, sie schob ihm sogar niedrige Motive unter, wie etwa, daß die Firma sich in finanziellen Schwierigkeiten befände und Wohlschein selbst die Verlobung kupplerisch gefördert, um sich und die Fabrik zu retten. Sie konnte nicht glauben, daß Thilda, ein Kind beinahe, diesen um zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre älteren, nicht sonderlich interessanten, kaum hübschen Mann wirklich liebte. Sie war geneigt, das holde junge Geschöpf als ein unschuldiges Opfer anzusehen, das sich ihres Schicksals nicht recht bewußt sei, und flüchtig kam ihr sogar der Einfall, Herrn Wohlschein selbst ins Gewissen zu reden; doch sie spürte gleich die Lächerlichkeit, ja Unausführbarkeit eines solchen Beginnens; um so untrüglicher, als sie bei sich sehr wohl wußte, daß Thilda keineswegs das Wesen war, sich zu irgend etwas überreden oder gar zwingen zu lassen, was ihr selbst nicht genehm war.
Der Gedanke der nahen Trennung erfüllte sie so sehr, daß die anderen mannigfachen kleineren und größeren Sorgen des Alltags kaum von ihr empfunden wurden. Da sie eine Anzahl von Schülerinnen verloren hatte, war sie genötigt, noch bescheidener zu leben als bisher. Sie spürte die Unannehmlichkeiten, ja die Entbehrungen kaum. Aber auch der Umstand, daß eines Abends Franz plötzlich wieder erschien mit einem kleinen