Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

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Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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      Am nächsten Morgen schon fuhr Therese nach Enzbach. Sechs Jahre war es nun her, daß sie zum letzten Male dort gewesen. Bald nach dem Tod des alten Leutner hatte die Witwe in eine benachbarte Ortschaft geheiratet, Therese hatte zuerst daran gedacht, sich in einem der anderen Bauernhäuser einzumieten, aber in der Scheu, mit irgendeinem der früher bekannten Einwohner in nähere Berührung zu treten, zog sie es vor, in dem höchst bescheidenen Gasthof des Ortes Quartier zu nehmen.

      Auf einem kleinen Spaziergang in der vertrauten Gegend, über Wiesen und Felder nach dem nahen Wäldchen, begegnete sie wohl manchem ihr von früher her bekannten Dorfbewohner, doch auch von diesen schien keiner sie zu erkennen. Sie war so allein, als sie es gewünscht hatte, aber das Wohlgefühl, das sie erhofft, wollte sich nicht einstellen. Sie war recht müde, als sie 314 wieder in ihren Gasthof zurückkam. Der Wirt erkannte sie, während sie bei Tische saß, und fragte sie sogar nach dem Franzl. Innerlich so unbewegt, daß ihr selbst leise schauerte, erzählte sie, daß ihr Sohn in Wien eine gute Stellung habe.

      Nachmittags blieb sie auf ihrem Zimmer, draußen flimmerte die heiße Sommerluft, und durch die schadhaften Rolläden in blendenden schmalen Streifen glühte die Sonne auf die Wand. Im halben Schlummer lag sie auf dem harten unbequemen Bett, Fliegen summten, Stimmen, nah und fern verhallend, allerlei Geräusche, vielleicht von der Straße, vielleicht von den Feldern her, drangen in ihren Traum. In der Dämmerung erst erhob sie sich und ging wieder ins Freie. Sie kam an dem Haus vorüber, in dem der Franz Kind gewesen und das nun in anderen Besitz übergegangen war. Fremd lag es da, als hätte es niemals etwas für sie bedeutet. Auf der Wiese vor dem Haus war ein feiner Bodennebel, als melde der Herbst sich vorzeitig an. Unverändert und ungerührt, von verwelkten Blätterkränzen umgeben wie sonst und immer noch mit dem Sprung im Glas, schaute das Muttergottesbild unter dem Ahorn sie an. Von der Anhöhe stieg sie zur Hauptstraße nieder, wo die bescheidenen Villen standen; auf Veranden da und dort unter Deckenampeln saßen Sommergäste, Ehepaare, Kinder, geradeso wie sie immer dagesessen waren. Andere Eltern, andere Kinder, und doch immer dieselben für die Spaziergängerin, der die unbekannten Gesichter im Halbdunkel verschwanden. Oben auf dem Bahndamm sauste eben der Expreßzug vorüber, verklang mit seinem Gedröhn und Geschmetter unbegreiflich rasch in der Ferne, und eine 315 Traurigkeit, immer drückender, senkte sich über Therese, die ins Dunkel schritt. – Später saß sie in der Wirtsstube beim Abendessen, und da sie nur wenig Lust verspürte, ihr muffiges Zimmerchen aufzusuchen, aus dem die Hitze noch nicht gewichen war, blieb sie lange unten, nahm die Zeitungen von den Haken, las den »Bauernboten von Niederösterreich«, die »Leipziger Illustrierte«, die »Forst-und Jagdzeitung«, bis sie müde wurde, und schlief dann, da sie gegen ihre Gewohnheit zwei Glas Bier getrunken hatte, tief und traumlos die ganze Nacht.

      Die nächsten Tage aber vermochte sie sich schon an der Sommerluft, der Stille, dem Heuduft zu freuen, wie so oft in früherer Zeit. Sie lag lang am Waldesrand, dachte manchmal an den Franz von einst, wie an ein Kind, das längst gestorben war, und verspürte Sehnsucht nach Thilda in einer milden, fast wohltuenden Art. Diese Sehnsucht, so fühlte sie, war nun das Beste in ihrem Leben und trug sie in irgendeine Höhe, wo sie für gewöhnlich gar nicht zu Hause war, und ein alter Wunsch stieg langsam in ihr wieder auf, der Wunsch, irgendwo auf dem Land, im Grünen, möglichst fern von den Menschen, ruhig dahinzuleben. Lebensabend, dachte sie, das Wort stand plötzlich vor ihr, und da sie ihm gleichsam ins Auge sah, lächelte sie ein wenig trüb. Abend? War es schon so weit?

      Ihre Müdigkeit schwand allmählich, ihre Wangen hatten sich gerötet, und im Spiegel erschien sie sich gegenüber den letzten Wochen ganz erheblich verjüngt. Unbestimmte Hoffnungen wachten in ihr auf: es kam ihr der Einfall, daß sie sich wieder einmal bei Alfred in Erinnerung bringen könnte, dann dachte sie, daß 316 Herr Wohlschein doch bald wieder zurück sein müßte, bei dem sie Erkundigungen nach Thilda einholen wollte, von der sie noch immer keine Zeile erhalten hatte.

      Auch der Gedanke an ihren Beruf meldete sich wieder und damit eine leise Sehnsucht nach Tätigkeit. Die letzten Urlaubstage, die sie sich noch zu vergönnen beabsichtigt hatte, verbrachte sie in einer wachsenden Ungeduld, ja Unruhe, und als plötzlich Regenwetter eintrat, kürzte sie ihren Aufenthalt ab und traf noch vor dem Termin, den sie sich selbst gesetzt hatte, in der Stadt wieder ein.

       Inhaltsverzeichnis

      Die Schülerinnen sammelten sich allmählich, auch ein Kurs kam wieder zustande, und ausgeruht und frisch, wie sie nun war, kam sie ihren Pflichten mindestens ohne Überwindung nach. Nach ihrer Art trat sie allen Schülerinnen mit der gleichen, etwas gleichgültigen Freundlichkeit gegenüber, und wenn ihr auch die eine oder andere mehr Sympathie einflößen mochte, eine Thilda war nicht unter ihnen. – Da geschah es an einem Nachmittag, daß sie in der inneren Stadt einen bürgerlich elegant gekleideten älteren Herrn mit steifem, schwarzem, ganz wenig auf die Seite gerücktem Hut begegnete, in dem sie erst, als er ihr Aug’ in Aug’ gegenüberstand, Herrn Wohlschein erkannte. Sie lächelte über das ganze Gesicht, als wäre ihr ein unerwartetes Glück geschehen, auch er war sichtlich erfreut und schüttelte ihr kräftig die Hand.

      »Warum sieht man Sie denn gar nicht, liebes Fräulein? Ich hätte Ihnen schon geschrieben, ich wußte aber leider Ihre Adresse nicht.«

      317 Nun, dachte Therese, die wäre wohl zu erfahren gewesen. Aber sie unterließ jede Bemerkung und fragte gleich: »Wie geht es Thilda?«

      Ja, wie mochte es der wohl gehen? Nun waren es wieder einmal vierzehn Tage oder mehr, daß Herr Wohlschein keine Nachricht von ihr hatte. Übrigens war es kein Wunder, denn die Hochzeitsreise des jungen Paares – wie, auch das wußte Fräulein Fabiani nicht? – sei zu einer Art Reise um die Welt geworden. Und jetzt befänden sie sich wohl irgendwo auf dem Weltmeer, und vor dem Frühling würden sie nicht wieder zurück sein. »Und Sie, Fräulein Fabiani, haben wirklich noch gar keine Nachricht von Thilda?« – Und da sie, fast beschämt, den Kopf schüttelte, zuckte er die Achseln. »Ja, so ist sie nun einmal, und dabei – Sie können mir glauben – für Sie, Fräulein Fabiani, hat sie eine ganz besondere Zuneigung gehabt.« Und er redete weiter von der geliebten, fernen Tochter, die man nun einmal nehmen müsse, wie sie sei, sprach von seinem trübseligen, leeren, großen Haus, seinen langweiligen Whistpartien im Klub und von dem traurigen Schicksal, sich eines schönen Tages, nachdem man manches Jahr hindurch ein Mann mit Weib und Kind gewesen, ganz unversehens als eine Art von Junggeselle oder Hagestolz wiederzufinden, als wären zehn Jahre glücklicher und ein paar Jahre unglücklicher Ehe, als wäre dieses ganze Dasein mit Frau und Kind überhaupt nur ein Traum gewesen.

      Sie wunderte sich, daß er sich ihr gegenüber so offen, freundschaftlich geradezu aussprach, und hörte ihm wohl an, daß er froh war, sich allerlei vom Herzen reden zu können. Plötzlich aber, nach einem Auf seufzen, 318 sah er auf die Uhr und bemerkte, daß er heute abend mit einem guten Bekannten ins Theater gehe, zu einer Operette, um die Wahrheit zu gestehen, nicht etwa zu einem klassischen Stück, denn er brauche dringend Zerstreuung und Aufheiterung. Ob Fräulein Fabiani nicht auch manchmal das Theater besuche? – Therese schüttelte den Kopf: seit jenem Abend in der Oper hatte sie keine Gelegenheit mehr dazu gehabt – und keine Zeit. – Ob sie denn noch immer so viele und – er zögerte ein wenig –, und auch so schlecht bezahlte Lektionen gäbe? – Sie zuckte die Achseln, leise lächelnd, und sie merkte, daß ihm noch weitere Fragen auf den Lippen schwebten, die er vorläufig doch lieber unterließ. Und er empfahl sich ein wenig überhastet mit einem herzlichen, aber keineswegs verpflichtenden: »Auf Wiedersehen!« Sie spürte im Weitergehen, daß er stehengeblieben war und ihr nachschaute.

      Am nächsten Sonntag aber brachte ihr morgens die Post einen Expreßbrief mit einem Theaterbillett, dem eine Visitekarte beigelegt war: »Siegmund Wohlschein, Leder-und Galanteriewarenhandlung, gegründet 1804.« Irgend etwas der Art hatte sie wohl erwartet, nur war die Form der Einladung nicht recht nach ihrem Geschmack; immerhin leistete sie ihr Folge. Das Haus war schon verdunkelt, als Herr Wohlschein erschien, neben ihr Platz nahm und eine Tüte Bonbons in ihre Hand drückte. Sie nickte zum Dank, ließ sich aber weiter nicht stören. Die schmeichelnden Tanzmelodien behagten ihr, der spaßige Text unterhielt sie; sie


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