Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
Читать онлайн книгу.den Zwischenakten recht galant zu ihr, aber doch nicht ganz unbefangen, und als das Stück zu Ende war, beim Fortgehen und in der Garderobe, hielt er sich wohl in ihrer Nähe, aber nicht wie jemand, der unbedingt zu ihr gehörte, sondern etwa so, als hätte man einander zufällig im Theater begegnet.
Es war ein schöner klarer Herbstabend, sie wollte gern zu Fuß gehen, er begleitete sie den langen Weg nach Hause; jetzt erst sprach er von Thilda, von der natürlich noch immer keine Nachrichten gekommen seien. Seine Einladung zum Abendessen lehnte sie ab, er drang nicht in sie und nahm an ihrem Haustor höflichen Abschied.
Die Woche war noch nicht abgelaufen, als Herr Wohlschein Therese neuerlich zu einem Theaterbesuch einlud, diesmal zur Aufführung eines modernen Gesellschaftsstückes im Volkstheater; und nachher in einer behaglichen Gasthausecke bei einer Flasche Wein plauderten sie miteinander weit unbefangener und angeregter als das letztemal; er, andeutungsweise, von den letzten schweren Jahren seiner Ehe; sie von manchen trüben Erfahrungen ihres Daseins, ohne daß irgendein Erlebnis in bestimmteren Umrissen erschienen wäre, doch sie fühlten beim Abschied beide, daß sie heute viel vertrauter geworden waren.
Tags drauf, mit einem Strauß von Rosen, sandte er ihr die Bitte, ihn am nächsten Sonntag – »zur Erinnerung an Thilda« – auf einem Spaziergang in den Wiener Wald zu begleiten. Und so wanderte sie mit ihm im ersten milden Schneefall dieses Winters denselben Weg, wie sie ihn an jenem Frühlingstag vor 320 einem halben Jahr in Gesellschaft von Thilda gewandert waren. Wohlschein hatte drei Ansichtskarten von Thilda mitgebracht, die, alle zugleich, gestern angelangt waren. Auf einer stand als Nachschrift zu lesen: »Und möchtest du dich nicht auch einmal um Fräulein Fabiani kümmern? Sie wohnt Wagnergasse 74, zweiten Stock. Grüße sie vielmals, ich schreibe ihr demnächst ausführlich.« Auf diesem Spaziergang war es auch, daß Therese Herrn Wohlschein zum erstenmal von ihrem Sohn erzählte, der vor einem Jahr nach Amerika ausgewandert sei und von dem sie seither nichts mehr gehört habe.
Nach einigen weiteren gemeinsamen Abenden in Theatern und Restaurants wußte Herr Wohlschein nicht wenig von Therese trotz aller Flüchtigkeiten und willkürlichen Abänderungen, die sie sich in ihren Erzählungen gestattete und die er gläubig hinnahm. Er selbst sprach auch weiterhin viel von seiner Frau und zu Theresens Verwunderung immer in einem Ton von Hochachtung, fast von Anbetung, wie von einem besonderen Wesen, das man nicht mit dem gleichen Maße messen dürfe wie andere Menschenkinder; und Therese glaubte zu fühlen, daß Wohlschein Thilda eigentlich vor allem als die Tochter dieser ihm verlorenen Frau liebte, mit der sie manche verwandte Züge zu haben schien; und sie wußte, daß sie, Therese, ihr die echtere, in sich selbst ruhende, unmittelbarere Liebe entgegenbrachte.
Auch in den nachfolgenden Wochen änderte sich zwischen Wohlschein und Therese nicht viel. Sie gingen miteinander in Theater und Gasthäuser; er schickte ihr weiter Blumen, Backwerk; und endlich kam ein 321 ganzer Korb mit Konserven, Südfrüchten und Wein, was sie ihm, nicht sehr ernsthaft, verwies. Als Anfang Dezember zwei Feiertage aufeinanderfolgten, lud er sie zu einem Ausflug in eine kleine Ortschaft am Fuße des Semmering ein. Sie war überzeugt, trotz seiner bisherigen Zurückhaltung, daß er mit dieser Einladung bestimmte Absichten verband, und nahm sich sogleich vor, sich nichts zu vergeben. Auf der Fahrt wurde er in einer etwas ungeschickten Weise zärtlich, was sie sich milde gefallen ließ; daß ihre Zimmer im Gasthof nicht nebeneinander lagen, beruhigte und enttäuschte sie zugleich. Immerhin sperrte sie ihre Türe nicht ab und erwachte am nächsten Morgen nach einem köstlichen Schlaf so allein, als wie sich zu Bette gelegt hatte. Wie respektvoll! dachte sie. Doch als sie sich beim Ankleiden in dem großen Schrankspiegel betrachtete, glaubte sie plötzlich die Ursache seiner Zurückhaltung anderswo zu entdecken. Sie war einfach nicht mehr schön genug, um einen Mann zu reizen. Wenn auch ihr Körper seine jugendlichen Formen bewahrt hatte, ihre Züge waren ältlich und vergrämt. Wie konnte es auch anders sein. Sie hatte zu viel erlebt, zu viel erlitten, sie war Mutter, die ledige Mutter eines fast erwachsenen Sohnes, und lange schon hatte kein Mann sie begehrt. Und sie selbst, hatte sie denn diesem älteren, gewöhnlichen Herrn gegenüber jemals irgend etwas wie eine Verlockung gespürt? Er war der Vater einer ihrer Schülerinnen, der ihr um seiner Tochter willen mit einer gewissen Sympathie entgegenkam, und einfach aus Gutherzigkeit hatte er sie für zwei Tage in die frische Winterluft mitgenommen. Nur ihre immer wieder verderbte Phantasie, so sagte sie sich, hatte ihr die Möglichkeit 322 eines Liebesabenteuers vorgespiegelt, nach dem sie sich selbst nicht einmal sehnte.
Als sie fertig angekleidet war, in ihrem Touristenkostüm, erschien sie sich wieder frischer, jünger, anmutig beinahe. Nach einem gemeinsamen Frühstück in dem zirbelholzduftenden Gasthofzimmer, aus dessen Ecke der hohe Kachelofen knisternde Wärme verbreitete, fuhren sie im offenen Schlitten zwischen Kiefern und Tannen durch ein enges Tal, saßen mittags inmitten eines beschneiten Wiesenplanes im Freien, von der Sonne so prall beschienen, daß Therese ihre Jacke, Herr Wohlschein seinen kurzen Pelz ablegte, worauf er in Hemdärmeln, den Jägerhut mit Gemsbart auf dem Kopf und mit dem aufgezwirbelten schwarzen, schneefeuchten Schnurrbart eigentlich etwas komisch aussah. Auf der Rückfahrt wurde es rasch empfindlich kalt, man war recht froh, wieder in dem behaglichen Gasthof einzukehren, und nahm das Abendessen in Theresens Zimmer, wo es gemütlicher war als unten in der Wirtsstube. Am nächsten Morgen fuhren sie nach Wien zurück als ein Paar, das sich endlich gefunden.
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Es war, als hätte Franz aus unbekannten Fernen her die Veränderung gewittert, die in den äußeren Lebensverhältnissen seiner Mutter eingetreten war. Gerade als Therese wieder einmal einen Korb mit allerlei Eßwaren erhalten hatte, erschien er unerwartet und sah im Winterrock, trotz des abgeschabten Samtkragens, fürs erste recht anständig, fast vertrauenerweckend aus. Doch als er den Rock zurückschlug und unter einem etwas fleckigen 323 Smoking eine auch nicht mehr ganz weiße Hemdbrust sichtbar wurde, war der anfangs günstige Eindruck gleich wieder fort. »Was verschafft mir das Vergnügen?« fragte die Mutter kühl. Nun, er war wieder einmal stellenlos und ohne Obdach. Das Kabinett, in dem er ein paar Wochen lang gewohnt, war ihm gekündigt worden. Daheim sei er schon seit ein paar Monaten wieder. »Na ja,« meinte er hämisch, »wenn man auch keinen Vater hat, eine Vaterstadt hat man doch.« Und es sei doch eigentlich sehr rücksichtsvoll von ihm gewesen, daß er sich in der ganzen Zeit nicht gemeldet. Ob ihm die Mutter nicht zur Belohnung auf zwei, drei Tage Quartier und Kost geben möchte?
Therese schlug es ihm rundweg ab. Aus dem Korb da, den ihr die Schülerinnen zum Nikolofeste gemeinsam geschenkt, könne er sich nehmen, was er wolle. Und zehn Gulden schenke sie ihm auch. Aber ein Einkehrwirtshaus halte sie nicht. Basta. Er steckte ein paar Konservendosen ein, nahm eine Flasche unter den Arm und wandte sich zum Gehen. Die Absätze seiner Schuhe waren vertreten, sein Hals dünn, die Ohren standen ab, merkwürdig gebeugt war sein Rücken. »Na, so eilig ist es nicht«, sagte Therese in plötzlich aufsteigender Rührung. »Setz’ dich ein bissl her und – erzähl’ mir.« – Er wandte sich um und lachte auf. »Nach so einem Empfang – könnt’ mir einfallen«; er klinkte die Türe auf und schlug sie hinter sich zu, daß es durch das Haus dröhnte.
Von diesem Besuch erzählte sie Herrn Wohlschein nichts. Doch als er sie eine Woche darauf abends aus ihrer Wohnung abholen wollte und sie blaß, erregt, die Augen noch von Tränen gerötet antraf, vermochte sie 324 nicht zu verschweigen, daß Franz eben dagewesen sei, zum zweitenmal innerhalb von acht Tagen, und Geld verlangt habe. Sie hatte den Mut nicht gehabt, es ihm zu verweigern. Und sie gestand Wohlschein auch, daß Franz niemals in Amerika gewesen sei, hier in Wien eine dunkle Existenz führe, von der sie nichts Näheres wisse, auch nichts wissen wolle. Und da ihr nun einmal die Zunge gelöst war, erzählte sie ausführlicher und aufrichtiger als je zuvor von allem, was sie mit ihrem Sohn bisher durchgemacht hatte. Anfangs, sie spürte es wohl, war Wohlschein ziemlich peinlich berührt. Doch je länger er ihr zuhörte, um so mehr wurde sein Mitleid rege. Er erklärte endlich, daß er ihrem kümmerlichen und geplagten Leben nicht länger zusehen könne, er schäme sich geradezu, sorgenfrei, ja in Wohlstand dahinzuleben, während sie manchmal – oh, er merke es wohl – am Notwendigsten Mangel leide.
Sie widersprach. Und unter keiner Bedingung wollte sie etwa davon