Reden an die deutsche Nation. Johann Gottlieb Fichte

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Reden an die deutsche Nation - Johann Gottlieb Fichte


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      Wenn sie auch der Regierenden sich bemächtigt, habe ich gesagt. Ein Volk kann durchaus verdorben sein, d. i. selbstsüchtig, denn die Selbstsucht ist die Wurzel aller andern Verderbtheit — und dennoch dabei nicht nur bestehen, sondern sogar äußerlich glänzende Taten verrichten, wenn nur nicht seine Regierung eben also verdirbt; ja die letztere sogar kann auch nach außen treulos und pflicht- und ehrvergessen handeln, wenn sie nur nach innen den Mut hat, die Zügel des Regiments mit straffer Hand anzuhalten, und die größere Furcht für sich zu gewinnen. Wo aber alles eben genannte sich vereinigt, da geht das gemeine Wesen bei dem ersten ernstlichen Angriffe, der auf dasselbe geschieht, zugrunde, und so, wie es selbst erst treulos sich ablöste von dem Körper, dessen Glied es war, so lösen jetzt seine Glieder, die keine Furcht vor ihm hält, und die die größere Furcht vor dem Fremden treibt, mit derselben Treulosigkeit sich ab von ihm, und gehen hin, ein jeder in das Seine. Hier ergreift die nun vereinzelt stehenden abermals die größere Furcht, und sie geben in reichlicher Spende, und mit erzwungen fröhlichem Gesichte dem Feinde, was sie kärglich und äußerst unwillig dem Verteidiger des Vaterlandes geben; bis späterhin auch die von allen Seiten verlassenen und verratenen Regierenden genötigt werden, durch Unterwerfung und Folgsamkeit gegen fremde Pläne ihre Fortdauer zu erkaufen; und so nun auch diejenigen, die im Kampfe für das Vaterland die Waffen wegwarfen, unter fremden Panieren lernen, dieselben gegen das Vaterland tapfer zu führen. So geschieht es, daß die Selbstsucht durch ihre höchste Entwicklung vernichtet, und denen, die gutwillig keinen andern Zweck, denn sich selbst, sich setzen wollten, durch fremde Gewalt ein solcher andrer Zweck aufgedrungen wird.

      Keine Nation, die in diesen Zustand der Abhängigkeit herabgesunken, kann durch die gewöhnlichen und bisher gebrauchten Mittel sich aus demselben erheben. War ihr Widerstand fruchtlos, als sie noch im Besitze aller ihrer Kräfte war, was kann derselbe sodann fruchten, nachdem sie des größten Teils derselben beraubt ist? Was vorher hätte helfen können, nämlich wenn die Regierung derselben die Zügel kräftig und straff angehalten hätte, ist nun nicht mehr anwendbar, nachdem diese Zügel nur noch zum Scheine in ihrer Hand ruhen, und diese ihre Hand selbst durch eine fremde Hand gelenkt und geleitet wird. Auf sich selbst kann eine solche Nation nicht länger rechnen; und ebensowenig sie auf den Sieger rechnen. Dieser müßte ebenso unbesonnen, und ebenso feige und verzagt sein, als jene Nation selbst erst war, wenn er die errungenen Vorteile nicht festhielte, und sie nicht auf alle Weise verfolgte. Oder wenn er einst im Verlauf der Zeiten doch so unbesonnen und feige würde, so würde er zwar ebenso zugrunde gehen, wie wir, aber nicht zu unserm Vorteile, sondern er würde die Beute eines neuen Siegers und wir würden die sich von selbst verstehende, wenig bedeutende Zugabe zu dieser Beute. Sollte eine so gesunkene Nation dennoch sich retten können, so müßte dies durch ein ganz neues, bisher noch niemals gebrauchtes Mittel, vermittelst der Erschaffung einer ganz neuen Ordnung der Dinge, geschehen. Lassen Sie uns also sehen, welches in der bisherigen Ordnung der Dinge der Grund war, warum es mit dieser Ordnung irgend einmal notwendig ein Ende nehmen mußte, damit wir an dem Gegenteile dieses Grundes des Untergangs das neue Glied finden, welches in die Zeit eingefügt werden müßte, damit an ihm die gesunkene Nation sich aufrichte zu einem neuen Leben.

      Man wird in Erforschung jenes Grundes finden, daß in allen bisherigen Verfassungen die Teilnahme am Ganzen geknüpft war an die Teilnahme des Einzelnen an sich selbst, vermittelst solcher Bande, die irgendwo so gänzlich zerrissen, daß es gar keine Teilnahme für das Ganze mehr gab — durch die Bande der Furcht und Hoffnung für die Angelegenheiten des Einzelnen aus dem Schicksale des Ganzen, in einem künftigen, und in dem gegenwärtigen Leben. Aufklärung des nur sinnlich berechnenden Verstandes war die Kraft, welche die Verbindung eines künftigen Lebens mit dem gegenwärtigen durch Religion aufhob, zugleich auch andre Ergänzungs- und stellvertretende Mittel der sittlichen Denkart, als da sind Liebe zum Ruhm, und Nationalehre, als täuschende Trugbilder begriff; die Schwäche der Regierungen war es, welche die Furcht für die Angelegenheiten des einzelnen aus seinem Betragen gegen das Ganze, selbst für das gegenwärtige Leben, durch häufige Straflosigkeit der Pflichtvergessenheit aufhob, und ebenso auch die Hoffnung unwirksam machte, indem sie dieselbe gar oft, ohne alle Rücksicht auf Verdienste um das Ganze, nach ganz andern Regeln und Bewegungsgründen, befriedigte. Bande solcher Art waren es, die irgendwo gänzlich zerrissen, und durch deren Zerreißung das gemeine Wesen sich auflöste.

      Immerhin mag von nun an der Sieger das, was allein auch er kann, emsiglich tun, nämlich den letzten Teil des Bindungsmittels, die Furcht und Hoffnung für das gegenwärtige Leben, wiederum anknüpfen und verstärken; damit ist nur ihm geholfen, keineswegs aber uns, denn so gewiß er seinen Vorteil versteht, knüpft er an dieses erneute Band zu allererst nur seine Angelegenheit, die unsrige aber nur insoweit, inwiefern die Erhaltung unsrer, als Mittel für seine Zwecke, ihm selbst zur Angelegenheit wird. Für eine so verfallene Nation ist von nun an Furcht und Hoffnung völlig aufgehoben, indem deren Leitung ihrer Hand entfallen ist, und sie zwar selber zu fürchten hat und zu hoffen, vor ihr aber von nun an kein Mensch sich weiter fürchtet, oder von ihr etwas hofft; und es bleibt ihr nichts übrig, als ein ganz andres und neues, über Furcht und Hoffnung erhabenes Bindungsmittel zu finden, um die Angelegenheiten ihrer Gesamtheit an die Teilnahme eines jeden aus ihr für sich selber anzuknüpfen.

      Ueber den sinnlichen Antrieb der Furcht oder Hoffnung hinaus, und zunächst an ihn angrenzend, liegt der geistige Antrieb der sittlichen Billigung oder Mißbilligung, und der höhere Affekt des Wohlgefallens oder Mißfallens an unserm und andrer Zustände. So wie das an Reinlichkeit und Ordnung gewöhnte äußere Auge durch einen Flecken, der ja unmittelbar dem Leibe keinen Schmerz zufügt, oder durch den Anblick verworren durcheinander liegender Gegenstände dennoch gepeinigt und geängstigt wird, wie vom unmittelbaren Schmerze, indes der des Schmutzes und der Unordnung Gewohnte sich in demselben recht wohl befindet: eben also kann auch das innere geistige Auge des Menschen so gewöhnt und gebildet werden, daß der bloße Anblick eines verworrenen und unordentlichen, eines unwürdigen und ehrlosen Daseins seiner selbst und seines verbrüderten Stammes, ohne Rücksicht auf das, was davon für sein sinnliches Wohlsein zu fürchten oder zu hoffen sei, ihm innig wehe tue, und daß dieser Schmerz dem Besitzer eines solchen Auges, abermals ganz unabhängig von sinnlicher Furcht oder Hoffnung, keine Ruhe lasse, bis er, soviel an ihm ist, den ihm mißfälligen Zustand aufgehoben, und den, der ihm allein gefallen kann, an seine Stelle gesetzt habe. Im Besitzer eines solchen Auges ist die Angelegenheit des ihn umgebenden Ganzen, durch das treibende Gefühl der Billigung oder Mißbilligung, an die Angelegenheit seines eignen erweiterten Selbst, das nur als Teil des Ganzen sich fühlt, und nur im gefälligen Ganzen sich ertragen kann, unabtrennbar angeknüpft; die Sichbildung zu einem solchen Auge wäre somit ein sicheres und das einzige Mittel, das einer Nation, die ihre Selbständigkeit, und mit ihr allen Einfluß auf die öffentliche Furcht und Hoffnung verloren hat, übrigbliebe, um aus der erduldeten Vernichtung sich wieder ins Dasein zu erheben, und dem entstandenen neuen und höheren Gefühle ihre Nationalangelegenheiten, die seit ihrem Untergange kein Mensch und kein Gott weiter bedenkt, sicher anzuvertrauen. So ergibt sich denn also, daß das Rettungsmittel, dessen Anzeige ich versprochen, bestehe in der Bildung zu einem durchaus neuen, und bisher vielleicht als Ausnahme bei einzelnen, niemals aber als allgemeines und nationales Selbst, dagewesenen Selbst, und in der Erziehung der Nation, deren bisheriges Leben erloschen, und Zugabe eines fremden Lebens geworden, zu einem ganz neuen Leben, das entweder ihr ausschließendes Besitztum bleibt, oder, falls es auch von ihr aus an andre kommen sollte, ganz und unverringert bleibt bei unendlicher Teilung; mit einem Worte, eine gänzliche Veränderung des bisherigen Erziehungswesens ist es, was ich, als das einzige Mittel die deutsche Nation im Dasein zu erhalten, in Vorschlag bringe.

      Daß man den Kindern eine gute Erziehung geben müsse, ist auch in unserm Zeitalter oft genug gesagt, und bis zum Ueberdrusse wiederholt worden, und es wäre ein Geringes, wenn auch wir unsres Ortes dies gleichfalls einmal sagen wollten. Vielmehr wird uns, so wir ein andres zu vermögen glauben, obliegen, genau und bestimmt zu untersuchen, was eigentlich der bisherigen Erziehung gefehlt habe, und anzugeben, welches durchaus neue Glied die veränderte Erziehung der bisherigen Menschenbildung hinzufügen müsse.

      Man muß, nach einer solchen Untersuchung, der bisherigen Erziehung zugestehen, daß sie nicht ermangelt, irgendein Bild von religiöser, sittlicher, gesetzlicher Denkart, und von allerhand Ordnung und guter Sitte vor das Auge ihrer Zöglinge zu bringen, auch daß sie hier


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