Puppenhaus und Zinnsoldat. Katrin Unterreiner

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Puppenhaus und Zinnsoldat - Katrin  Unterreiner


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dennoch Raum für unbeschwertes Spiel, Streiche und kindlichen Schabernack?

       Bürgerkinder

      Wien war um 1900 die Hauptstadt einer Vielvölkermonarchie mit mehr als fünfzig Millionen Einwohnern, eine Metropole, die enorm schnell wuchs. Die Gesellschaft befand sich in einem Umstrukturierungsprozess, denn die mittleren und oberen Schichten des Bürgertums nahmen an Zahl, Reichtum und politischem Gewicht zu. Im Zuge ihres Ausbaus gab die Wiener Ringstraße nun mit ihren prachtvollen Stadtpalais, im Volksmund abschätzig »Palazzi prozzi« genannt, der Stadt ihr neues imperiales Gepräge. Die sogenannte Ringstraßengesellschaft setzte sich aus reich gewordenen Handwerkerfamilien, die sich die neuen technischen Entwicklungen, die Industrialisierung und den rasanten Aufschwung des Bauwesens zunutze zu machen verstanden hatten, und reichen jüdischen Bankleuten, Industriellen und Händlern zusammen.

      Neben dem Besitzbürgertum etablierte sich eine Klasse innerhalb des Bürgertums, die ihr soziales Prestige nicht mit Hilfe materieller Mittel errungen hatte, sondern durch den Erwerb von Bildung. Rechtsanwälte, Ärzte, Beamte, Architekten und Künstler eroberten sich ihre Stellung in der Gesellschaft, die sie vom Kleinbürgertum deutlich abgegrenzt wissen wollten. Ein zunehmend an Einfluss gewinnender Mittelstand begann nicht nur das öffentliche Leben mitzugestalten, sondern veränderte auch das familiäre Gefüge nach innen. Die Frauen waren nicht mehr in erster Linie Hausfrauen und Mütter, sondern begannen mehr und mehr nach höfischem und adeligem Vorbild eine Rolle in der Gesellschaft zu übernehmen. Die Frau wurde zu einer Repräsentantin des Erreichten und übernahm damit eine anspruchsvolle Rolle, die zwangsläufig weniger Raum für Haushalt und Kindererziehung ließ. Die bürgerlichen Frauen, die zu Beginn des Jahrhunderts noch unter aktiver Mitwirkung dem Haushalt vorgestanden waren, überließen nicht nur die haushälterischen Belange mehr und mehr ihren Dienstboten:

      Die Dame der Gesellschaft hat ja heutzutage selten Zeit – oder behauptet es wenigstens! – die Erziehung der Kinder zu überwachen. Und eine Bonne oder ein Fräulein gehören mit zum eisernen Bestand eines größeren Haushaltes.1

      Das Bürgertum hatte die schwierige Aufgabe, seine neue Position zwischen Adel und Proletariat zu festigen. Einerseits war es zwar bestrebt, der adeligen Lebensform nachzueifern, ohne jedoch dessen Hemmungslosigkeit zu akzeptieren, andererseits war es darauf bedacht, sich vom ungebildeten Kleinbürgertum und rohen Proletariat deutlich abzugrenzen. Es entwickelte auf Mäßigung, Sittlichkeit und Anstand aufgebaute Moralvorstellungen, die den Kindern von klein auf übermittelt wurden. Gleichzeitig musste der neu erworbene Status sowohl durch die Ehefrauen als auch durch das Benehmen und die äußere Erscheinung der Kinder zur Schau gestellt werden:

      Für die Straße wird das Kind so elegant und üppig als möglich herausgeputzt, und wenn dann die eleganten Wagendecken und Spitzenhäubchen, die grellfarbigen Mäntel, die Federhüte und überlebensgroßen Matrosenkragen die Aufmerksamkeit und das Erstaunen naiver Passanten erwecken, dann denkt jede Mutter und leider nur auch zu bald jedes Kind, es sei ein Wunderwerk der Schöpfung. Das natürliche Sträuben gegen Handschuhe und ähnliche, die freie Bewegung hemmende Modequälereien gewöhnen sich die Prinzen und Prinzessinnen gar rasch ab, denn die beständig aufgestachelte Eitelkeit lehrt sie diese Dinge schätzen und mit mitleiderregender Grandezza, die nur im Affentheater erheiternd wirkt, wandeln die Bübchen und Mädchen im Banne der modernen Erziehung einher. Ja, man kann Mitleid mit den Kindern haben, die so sinnlos ihrer Freiheit beraubt werden, aber noch bedauerlicher ist es, daß diese Spitzen und Stickereien, diese Pelzchen, Kettchen und Bröschchen sich im Leben der künftigen Staatsbürger zu Wällen häufen, die schon frühzeitig die Annäherung zwischen den besitzenden und den Minderbemittelten erschweren. Die feinen Püppchen lernen »die armen Kinder« gar bald von weitem kennen, daran, daß diese im Winter blaugefrorene Hände haben und Kopftücher und Mützen über die Ohren, und im Sommer verwaschene Kattunkittelchen und keine Sonnenschirme tragen. Sie setzen sich, wie sie belehrt worden, nicht mit armen Kindern auf eine Bank, denn »Gott weiß, was man von ihnen kriegen kann«. Sie schenken ihnen herablassend mit ausgestrecktem Arm Chokolade und Bonbons, die zu alt oder nicht fein genug sind, als daß das »Fräulein« ihren Zöglingen erlaubte, sie zu essen, und weiden sich an den erstaunten, oft neidischen Blicken der kleinen Proletarier.2

       Elegant gekleidete Bürgerkinder, um 1890

      Das Bild des wohlerzogenen, adrett gekleideten Kindes, das an der Hand der Eltern manierlich den Sonntagspaziergang im Park absolviert, höflich grüßt und nur spricht, wenn es gefragt wird, bedurfte harter Erziehungsarbeit im Hintergrund.

      »Das harmonische Ebenmaß aller körperlichen und geistigen Kräfte«

       Pädagogik zur Jahrhundertwende

      Die Kindererziehung des 18. Jahrhunderts war ganz im Banne einer repressiven Pädagogik gestanden, die den absoluten Gehorsam des Kindes an oberste Stelle setzte. Bei der Anwendung der Mittel war man nicht zimperlich gewesen: Lügen, Verschleierung, Manipulation, Liebesentzug, Isolierung, Demütigung, Verachtung, Spott, Beschämung und Gewaltanwendung waren legitimiert, um die, wie man meinte, »böse Kindsnatur« zu dressieren.

      Um dieses Ziel zu erreichen, musste in erster Linie der dem Kind eigene Wille so früh wie möglich gebrochen werden.

      Diese ersten Jahre haben unter anderem auch den Vorteil, dass man da Gewalt und Zwang brauchen kann. Die Kinder vergessen mit den Jahren alles, was ihnen in der ersten Kindheit begegnet ist. Kann man da den Kindern den Willen nehmen, so erinnern sie sich hiernach niemals mehr, dass sie einen Willen gehabt haben.3

      So liest man in einem »Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder« 1748.

      Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann nun der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi auf der Basis von Jean Jacques Rousseau eine neue, humanere Form der Pädagogik zu entwickeln. Als Vorläufer der Anschauungspädagogik versuchte er, dem Kind eine aktivere Rolle, mehr Handlungsspielraum einzuräumen.

      Die Eltern sollten innerhalb der Familie vor allem durch ihr Vorbild erzieherisch wirken. Wichtig erschienen ihm die geistigen, sittlichen und handwerklichen Fähigkeiten des Kindes gleichermaßen so früh wie möglich zu fördern. Dahinter stand sein idealistisches Ziel einer ganzheitlichen Volksbildung, die Menschen hervorbringen sollte, die im Stande waren, selbstständig und kooperativ in einem demokratischen Gemeinwesen zu wirken.

      Friedrich Dittes, ein deutscher Pädagoge und Reformer des österreichischen Schulwesens, schloss in seinen reformatorischen Bestrebungen an Pestalozzi an. Er formulierte seine Ziele 1880 voll des Idealismus:

      Die echte Erziehung ist allgemeine Menschenbildung; sie richtet sich auf das Ganze, auf das harmonische Ebenmaß aller körperlichen und geistigen Kräfte, auf die organische Einheit eines gesunden Leibes und einer gesunden Seele.4

      In seiner umfassenden »Schule der Pädagogik« setzte er zwar den absoluten Gehorsam weiterhin an den Beginn der Kindererziehung: »Das Kind muß zuerst seinem Erzieher gehorchen, um allmälig dem Sittengesetze, das ihm zum Gewissen werden soll, gehorchen zu lernen.« Aber er versuchte auch zunehmend, die Persönlichkeit des Kindes zu achten und appellierte an die moralische Verantwortung und die Vorbildfunktion des Erziehers, der nicht länger subjektive Willkür walten lassen dürfe.5

      Der neue Anspruch an den Erzieher war also sehr hoch: Das auf den vier Säulen – körperliche Gesundheit, Intellekt, Moral und Religion – aufgebaute Erziehungsgebäude galt es mit den individuellen Fähigkeiten des Kindes und seiner Entwicklung im Gleichgewicht zu halten:

      … der rechte Pädagog verschafft und erhält sich jederzeit eine möglichst vollständige Kenntniß seines Zöglings, faßt alle erzieherischen Erscheinungen und alle Fäden seines Geschäftes zusammen, betrachtet immer das Gegenwärtige und seiner Bedingtheit durch das Vergangene und seiner Wirkung auf das Zukünftige.6

      Der


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