Puppenhaus und Zinnsoldat. Katrin Unterreiner

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Puppenhaus und Zinnsoldat - Katrin  Unterreiner


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Arbeit, Hunger, Schande, Entziehung freier Bewegung usw.) die letzteren Lustempfindungen (sinnliche Genüsse, Erheiterung durch Spiele, gesellige Freuden, ehrende Auszeichnungen, Unterhaltung durch interessante Bücher, Erholungen und Vergnügungen in Freistunden usw.).31

      Allerdings war man der Ansicht, dass Belohnung und Strafe nur selten angewandt werden sollten, da dadurch die Entscheidung des Kindes zum guten und sittlichen Handeln getrübt würde. Strafe man ein Kind zu viel, gehorche es aus Angst und nicht aus Einsicht, belohne man es zu oft, gehorche es aus egoistischem Eigennutz nur um der Belohnung willen. Ziel der Erziehung müsse aber sein, dass das Gute und Richtige das Normale sei, »das sich von selbst Verstehende, das Pflichtmäßige.«32

      Die körperliche Züchtigung war schon bei kleinen Kindern üblich, sie ist »zwar keineswegs eine sehr naturgemäße Strafe, aber kleinen und verzogenen Kindern gegenüber oft das angemessene Mittel zur Bekämpfung des Eigensinnes und Trotzes.«33

      Ihren Vorteil sah man in der Wirkung auf das gezüchtigte Kind, denn »… sie demütigt und erschüttert, sie bezeugt tatsächlich die Notwendigkeit der Beugung unter eine höhere Ordnung und gibt dabei doch die ganze Energie der väterlichen Liebe zu erkennen.«34

      Die aus heutiger Sicht dem Krampus zugeordnete Rute war damals alltägliche Realität.

      »Da sehe ich mich in dem Hofzimmer und war allein. An der Kante des Speisetisches, an dem ich so oft die Rute bekommen, weil ich nie die Suppe essen wollte …«, schilderte Anton Wildgans rückblickend in seinen Kindheitserinnerungen. Er war damals vier Jahre alt. An anderer Stelle beschrieb er, wie auch das Erforschen und Ausprobieren der zunehmenden körperlichen Fähigkeiten geahndet wurde:

      Gefühl der Kraft war, wenn man hingeplumpst war und sich aus eigenem wieder aufrichtete! Rausch des Triumphes war, wenn man, allein gelassen, das weiße Fensterbrett erklomm und förmlich zwischen Himmel und Erde schwebte. Man hätte nur die Händchen auszustrecken gebraucht und hätte die weißen Lämmchen gehascht im Blau, und ewig unerfindlich blieb es, daß so wonniges Beginnen die gefürchtete Rute vom hohen Kastensimse herunterlockte, die böse Rute mit ihren leise knisternden und prickelnd-brennenden Schlägen.35

      Bertha von Suttner, spätere Friedens-Nobelpreisträgerin, machte ihre erste Bekanntschaft mit körperlicher Züchtigung ebenfalls bereits im Alter von zweieinhalb Jahren. Aus Sicht ihrer Mutter und ihres Vormundes hatte ihr Eigensinn diese pädagogische Maßnahme notwendig gemacht. Die kleine Bertha war für einen familiären Ausflug mit einem neuen weißen Kleidchen herausgeputzt worden, ein Umstand, der sie mit Freude und Stolz erfüllte. Weil das Wetter umzuschlagen drohte, ordnete die Mutter an, Berta umzukleiden:

      »Zieh der Komteß ein altes Kleid an«, lautete der mütterliche Befehl. Aber die Komteß erklärte mit aller Entschiedenheit, daß sie sich dagegen verwahre. Im neuen Kleide bin ich: j’y suis, j’y reste; mit diesem um dreißig Jahre vorgreifenden Plagiat gab sie ihren unerschütterlichen Willen kund. Vielleicht übrigens nicht so sehr mit Worten als mit Heulen und Trampeln. Das nächste Bild aber in dieser mir unauslöschlichen Bildergalerie zeigt mir also das strahlend gekleidete, schöne und energische Wesen auf einen großen Tisch hingelegt, das Gesicht gegen die Tischplatte, das rotgestickte Röckchen von gefälliger Hand des nebenstehenden hohen Militärs gehoben, und von mütterlicher Hand sauste – klatsch, klatsch – die erste Prügelstrafe verzweiflungserweckend und entehrend auf das Objekt hernieder.36

      Wie kränkend war diese Demütigung für das Kind und wie unfassbar der Umstand, sich nach dieser körperlichen Qual auch noch bei dem Peiniger entschuldigen zu müssen:

      Ja Verzweiflung: daß es so großen Kummer geben könne auf der Welt und daß darüber die Welt nicht einstürzt, das war mir vermutlich unfaßbar. Endlich legte sich das wilde Schluchzen – ich wurde ins »Winkerl«, d.h. in eine Ecke gestellt und mußte um Verzeihung bitten – die so tief Beleidigte auch noch um Verzeihung bitten! Aber ich tat’s, ich war zwar unglücklich, tiefunglücklich, aber gebändigt. Heute weiß ich nicht mehr, warum dieser Vorfall sich mir so tief in die Seele prägte; war es die verletzte Eitelkeit wegen des entzückenden Kleides oder das verletzte Ehrgefühl wegen des Disziplinarverfahrens? Wahrscheinlich beides.37

      Prügelstrafe gepaart mit Doppelmoral schildert folgendes Beispiel:

      Ostern 1876 kam ich in die Schule, zunächst in eine Gemeinde-(Volks-)Schule, wo ich bald den ersten Platz erhielt. Im zweiten Schuljahre ließ ich mir einmal irgend eine Ungehörigkeit zu Schulden kommen und bekam – nach damaliger Übung – von dem Lehrer ein paar Hiebe, die aber heftig schmerzten, weil sie die Striemen anderer, die ich tags zuvor vom Vater bekommen hatte, trafen. Klagend kam ich nach Hause, meine Mutter untersuchte mich und zog dann mit mir zum Rektor der Schule, über die grobe Züchtigung des Lehrers Beschwerde führend, nachdem sie mir zuvor eingeschärft hatte, nichts von den väterlichen Prügeln zu sagen.38

      Die in den theoretischen Erziehungsratgebern so eindringlich beschworene Konsequenz und Klarheit, mit der das junge Wesen erzogen werden müsse, die Tatsache, dass der Erzieher die Verkörperung des Sittengesetzes schlechthin darstellen sollte, eine absolute Autorität, deren Wille dem Kind als »der beste und weiseste« erscheinen sollte, ließ in der Praxis natürlich zu wünschen übrig. Das strahlende Vorbild und Muster an Tugendhaftigkeit waren in der Realität oft an den Kindern desinteressierte, launische, unberechenbare Eltern oder überfordertes Erziehungspersonal.

      »Die Amme muß überhaupt gesund und blühend sein«

       Die zweite Mutter

      Wer war nun das Erziehungspersonal, das die vielbeschäftigten Mütter unterstützte? Zunächst wurde, wie bereits erwähnt, bei Bedarf eine Amme eingestellt, denn es war nicht selbstverständlich, dass die Mütter gehobener Kreise ihre Kinder selbst stillten. Es gab dafür zwei Gründe. Der erste lag in der fälschlichen Annahme begründet, eine stillende Mutter könne nicht schwanger werden, denn der weibliche Organismus und Monatszyklus lag erstaunlicherweise zu diesem Zeitpunkt noch immer im Dunkeln.39 Das aber widersprach der vorrangigen Aufgabe der Frau der wohlhabenden Oberschicht, für reichlich Nachkommenschaft zu sorgen. Der zweite Grund lag darin, dass die Ehefrauen sofort nach der Geburt wieder ungehindert ihre repräsentativen Pflichten übernehmen sollten. Außerdem war das Einstellen einer Amme nach höfischem oder adeligem Vorbild einfach eine Sache des Prestiges.

      Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Amme nur dann ein fremdes Kind zu stillen vermochte, wenn sie ein eigenes Kind geboren hatte. Die Ammen waren daher entweder verheiratete Frauen, die gezwungen waren, das kärgliche Familieneinkommen aufzubessern, oder Frauen, die in die missliche Lage geraten waren sich selbst und ihr uneheliches Kind durchbringen zu müssen. Die Amme hatte in den Familien eine dem übrigen Personal gegenüber überlegene Stellung, die sich nicht nur durch die Beziehung zum Kind der Familie auszeichnete. Da sie dieses nährte, musste sie bei guter Gesundheit sein und dies erforderte ausreichende, gesunde Ernährung, bei den Dienstboten keine Selbstverständlichkeit. Das Budget der bürgerlichen Haushalte war oft durch das aus Prestigegründen beschäftigte Personal stark angespannt. Gespart wurde daher gerne bei der Verköstigung der Angestellten, die sich nicht selten mit den Resten der herrschaftlichen Tafel oder gar mit bereits verdorbenen Speisen begnügen mussten.

      Wer auf sich hielt, beschäftigte eine hanakische (böhmische) Amme, die in ihrer traditionellen Tracht den gerade in Mode gekommenen Kinderwagen schiebend das Wiener Straßenbild belebte. Über die spezifischen Qualitäten, die die Amme für ihren Beruf mitbringen musste, gab es genaue Richtlinien, die ganz nebenbei ein bezeichnendes Bild auf die herrschenden Moralvorstellungen werfen:

      Sie muß nicht gar zu jung, aber auch nicht leicht über dreißig Jahre alt sein; sie muß mäßig große, nicht schlaffe, hängende Brüste haben; sehr große Brüste haben selten gute oder viel Milch. Die Brustwarzen müssen gehörig weit hervorragen und in Hinsicht der Dicke zu der Größe des Mundes passen. Ein weitmundiges Kind kann eine sehr dünne Warze nicht fassen und festhalten. Die Amme muß überhaupt gesund und blühend sein. Als ein Zeichen der Gesundheit, werden


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