Puppenhaus und Zinnsoldat. Katrin Unterreiner
Читать онлайн книгу.und Vertrautheit, die beide gewissermaßen das Wesen ihres Berufes ausmachten, gegeneinander auszugleichen und in das richtige Verhältnis zu bringen. Vor allem hütete sie sich, ihr Herz an die jungen Wesen zu hängen, deren Erziehung ihr überantwortet war, blieb aber doch keineswegs gleichgültig; eine Art von kühler Mütterlichkeit, die sie beinahe nach Belieben ein paar Grade höher oder niederer stellen konnte, blieb die Grundstimmung dieser Beziehung. So war sie innerlich vollkommen frei; wenn sich die Türe des Hauses hinter ihr schloß, und doch wieder daheim, wenn sie zurückkehrte. Ihren Buben besuchte sie regelmäßig, ohne daß in der Trennungszeit besondere Sehnsucht nach ihm sie gequält hätte.48
Bei aller beruflicher Routine kommt Therese doch einmal in die Situation, sich emotional zu sehr auf das ihr anvertraute Kind einzulassen:
Der Bub aber, soviel er ihr auch durch sein verwöhntes, anspruchsvolles Wesen zu schaffen machte, entzückte sie geradezu. Sie entdeckte bald, daß seine Eltern ihn wohl zu verwöhnen, aber doch eigentlich nicht zu würdigen verstanden. Sie fand, daß er nicht nur klug, weit über seine Jahre, sondern von einer ganz eigenen, fast überirdischen Schönheit war … Und bald erkannte sie, daß sie dieses Kind geradesosehr, ja, noch mehr liebte als ihr eigenes. Als es eines Abends an hohem Fieber erkrankte, war sie es, die angstverzehrt drei Nächte lang an seinem Bette wachte, während die Mutter, in diesen Tagen selbst etwas leidend, sich nur Bericht über den Zustand des Kindes erstatten ließ …49
Schnitzler gelang es in seinem Roman die oft unmenschliche Situation der Gouvernanten schonungslos deutlich zu machen. Um ihren Lebensunterhalt verdienen zu können, waren sie gezwungen, fremde Kinder aufzuziehen und zu unterrichten. Sie lehrten sie die Spielregeln des Anstands und des gesitteten Umgangs miteinander, um sie auf das Leben in einer höheren Gesellschaftsschicht vorzubereiten. Das eigene Kind hingegen, das als Kostkind bei armen, einfachen Leuten auf dem Land lebte, verrohte in der Zwischenzeit und rutschte somit unrettbar in eine niederere Gesellschaftsschicht ab. Therese verliert zwangsläufig immer mehr den Kontakt zu ihrem eigenen Kind, das sich in Benehmen und Sprache seiner Kostfamilie angepasst hat und weit entfernt ist von den Umgangsformen der bürgerlichen Gesellschaft. Nicht ohne Zynismus lässt Schnitzler dieses Kind letztendlich als Kleinkriminellen enden, der die eigene Mutter bestiehlt.
Vereinzelt erkannten manche der zahlreichen Erziehungsratgeber die Problematik, die daraus entstand wenn man die eigenen Kinder einer fremden Frau überließ, vor allem, wenn die Kommunikation zwischen Mutter und Erzieherin nicht gepflegt wurde:
Das Kapitel des »Fräuleins« ist ein sehr schwieriges. Wäre von beiden Seiten mehr Vertrauen, mehr guter Wille vorhanden – würde das »Fräulein« nicht als Untergebene, sondern als Freundin behandelt, empfände sie für diese Güte aber auch wirklich etwas Dankbarkeit, die sie durch Pflichttreue bewiese – die Erziehung der Kinder wäre leichter und der Frieden des Hauses größer! 50
Aus der Sicht des Kindes schildert Marie von Ebner-Eschenbach den Übergang vom geliebten Kindermädchen, mit dem man einen spielerischen Umgang pflegte, zur strengen Gouvernante, die nun die Erziehungsarbeit übernehmen sollte:
Als meine Schwester ihre Wanderung ins sechste und ich die meine ins fünfte Lebensjahr zurückgelegt hatte, sollten wir eine Gouvernante bekommen … »Wartet nur, was euch die Gubernante tun wird!« hieß es jetzt beim geringsten Anlaß zur Unzufriedenheit, den wir ihr gaben. Kein Wunder, daß wir der Ankunft der neuen Machthaberin ohne Begeisterung entgegensahen. Zu dem großen Ereignis wurden geziemende Vorbereitungen getroffen. Uns erwartete eine Art Proserpina-Schicksal. Schlafen sollten wir nach wie vor bei der Kinderfrau, tagsüber jedoch bei der Gouvernante bleiben in ihrem eigens für sie eingerichteten Zimmer. Es war kein Prachtgemach! Es hatte die Aussicht auf einen mit Glasfenstern versehenen Gang, der das Haus auf der Hofseite umlief. Nicht der geringste Ausblick ins Freie bot sich dem Fräulein; Zerstreuung konnte ihr nur die Betrachtung ihrer neuen Möbel bieten. Unter ihnen zeichnete sich ein großes Kanapee aus, das durch eine kunstreiche und zu jener Zeit noch ungewöhnliche Einrichtung spielend leicht in ein bequemes Bett umgewandelt werden konnte. Ach, du lieber Gott! Auf diesem Kanapee werden wir neben der »Gubernante« sitzen müssen den ganzen Tag. Und den ganzen Tag wird sie uns erziehen, und wir werden von allem, was sie zu uns sagt, kein Wort verstehen, denn sie spricht nur Französisch, so eine »Gubernante«. Das alles sagte Pepinka, um uns recht angenehm vorzubereiten zum Empfang ihrer Nachfolgerin. Sie kam, und als Mama uns zur Begrüßung zu ihr führen wollte, machte ich eine Szene, schrie und heulte und mußte über die kleine Stiege, die aus der Kinderstube ins Gouvernantenzimmer führte, getragen werden. Wie freudig bin ich seitdem alle Morgen die fünf Stufen derselben kleinen Treppe hinabgehüpft, um gleich nach dem Frühstück zu Mademoiselle Hélène zu eilen! Wie bald haben wir sie liebgewonnen, diese Dritte im Bunde der Vortrefflichen, die unsere Kindheit schön und glücklich gemacht haben. Einige Jahre unserer Kindheit, sollte ich sagen, denn gar bald haben zwei von ihnen uns verlassen.51
Marie von Ebner-Eschenbach thematisierte die Situation der oft mit ihrer Erziehungsarbeit und den daraus resultierenden Problemen alleingelassenen Gouvernante später auch literarisch:
Ratlos saß ich an ihrem Bette, ich fühlte: Dir bin ich nicht gewachsen. Sie war verwöhnt, herrisch und klug, sie hätte Strenge gebraucht, zu der ich mich aus dem einfachen Grunde nicht brachte, weil ich meinen Zögling nicht liebzugewinnen vermochte. Durchaus nicht lieb, sosehr ich danach strebte. Meiner Strenge würde das Gegengewicht gefehlt haben; sie hätte leicht in Härte ausarten können … »So ein Kind«, sagten Wartefrau und Bonne, »hat ja noch keinen Verstand.« Ja, wenn es von ihnen abgehangen hätte, wäre das Kind nie zu Verstand gekommen, indessen sein länglicher Kopf mit der großen, hohen Stirn ein so vollgerüttelt Maß davon beherbergte, daß ich oft darüber erschrak. Wir führten einen stillen Krieg, sie und ich. Eigentlich konnte sie mich nicht ausstehen, aber sie unterhielt sich mit mir besser als mit irgendjemandem. Sie lernte gern und ausgezeichnet gut, und ich war die einzige, die sie etwas lehren konnte. Sie hörte gern Geschichten erzählen, und ich wußte so schöne! Sie spielte ebenso gern, als sie lernte, und über welchen unerschöpflichen Vorrat von Hilfsmitteln dazu hatte ich zu verfügen! So warb sie denn um meine Gunst, so wenig ihr daran lag, mein Herz zu gewinnen, und so erpicht sie eigentlich darauf war, mir einen Verdruß, eine Kränkung zuzufügen, für die sie nicht verantwortlich gemacht werden konnte. Die Schlauheit und Tücke, die sie bei solchen Gelegenheiten entwickelte, erweckten in mir oft ein der Verzweiflung verwandtes Gefühl. Ich hätte alles darum gegeben, mich nur einmal bei ihrer Mutter Rats erholen, nur einmal mit der Gräfin über das Kind sprechen zu dürfen. Allein mein Vormund hatte mich gerade davor dringend gewarnt. »Strafen Sie, nachdrücklich, wenn es sein muß, tätlich, wenn es nicht anders geht, tun Sie, was Sie für gut halten, nur – klagen Sie nie, das wird unverzeihlich gefunden; man will keine Klage über seine Kinder hören«, waren die Worte gewesen, mit denen er mich verließ, nachdem er mich in mein neues Amt eingeführt hatte.52
Für diese literarische Schilderung mag für Marie von Ebner-Eschenbach wohl eigenes Erleben Vorbild gewesen sein, hatte sie doch zahllose Gouvernanten, die nicht immer sympathisch waren:
In seinem Zorne hatte Gott Mademoiselle Henriette zur Gouvernante geschaffen. Sie war schön und jung; darin bestand die einzige Ähnlichkeit, die sie mit Hélène Hallé hatte. In allem übrigen war sie ihr Widerspiel. Äußerlich eine mittelgroße, schlanke Brünette, mächtiges Dunkel im Haar, Feuer in den Augen. Innerlich – ein Drache. Eine treue Anhängerin der Moral, die unsere Modernen erfunden zu haben glauben, eine Dienerin der Pflicht, »sich auszuleben«. Sehr unwillkürlich bildeten ihre Zöglinge dabei doch einige Hindernisse, und als solche hat sie uns herzlich gehaßt. Es regnete Strafen. Die ärgste diktierte sie mir, als ich einmal in offenen Aufruhr gegen sie geriet, weil sie statt les Autrichiens »les autres chiens« gesagt hatte. Hoch angerechnet soll übrigens der leidenschaftlichen Dame eines werden, und ihr zum Ruhme muß ich es besonders hervorheben: wohl hat sie uns hungern, hat uns bis zur Erschöpfung im Winkel stehen, viele Seiten aus Noël et Chapsal auswendig lernen lassen, von denen wir kein Wort verstanden – geschlagen hat sie uns nicht. Die Note fehlte in der Symphonie ihres Erziehungsprogramms. Trotzdem lernten wir durch sie aufs gründlichste erfahren, wie tief unglücklich Kinder sein können, die sich wehrlos einer böswilligen Macht überantwortet