Puppenhaus und Zinnsoldat. Katrin Unterreiner

Читать онлайн книгу.

Puppenhaus und Zinnsoldat - Katrin  Unterreiner


Скачать книгу
war. Bei dem moralischen Grundton unserer Erziehung konnte es nicht anders sein, als daß ich – unerfahren in dem Naturwissenschaftlichen des Menschen – meine Zustände als Schuld empfand. Ich hatte das Bedürfnis, mich der Mutter anzuvertrauen, zu beichten. Da ich Lüge der Mutter gegenüber nicht kannte, auch nicht Ungehorsam, meinte ich, wenn ich täglich der Mutter Bericht über meinen Tag erstatte, würde ich an ihrem Mitwissen eine Stütze haben. Aber sie schwieg, und so schwieg ich auch. Die Unkenntnis des Körperlich-Menschlichen blieb mir noch lange Jahre. Vom Kinderkriegen hatte ich die albernsten Vorstellungen. Ich las die Marquise von O. von Kleist. Verstand selbstverständlich nicht, worauf sich die ganze Erzählung aufbaut, und war überzeugt und gewärtig, auch ich könne ganz aus heiler Haut ein Kind bekommen.13

      Spätestens in der Hochzeitsnacht wurden diese unschuldigen Mädchen mit der Realität konfrontiert, was nicht selten zur Folge hatte, dass die junge Braut um ihr Leben fürchtend, Hals über Kopf in ihr Elternhaus flüchtete:

      Jetzt ist sie also … zum erstenmal allein mit ihrem Mann. Ganz Unschuld, Dummheit, Gehorsam, mit den allerfeinsten handgestickten weißen Seidenstrümpfen, weißen Satinhandschuhen in Kindergröße, weißem Schleier und weißem Myrtenkranz. Auch Vater bebt vermutlich in seinen Lackschuhen, denn, um Himmels willen, wie machte man den Anfang mit einer Jungfrau? Er stellt ihr ein paar ungeschickte Fragen, entdeckt ihre abgrundtiefe Unkenntnis der Dinge … es braucht Zeit, um seiner kleinen Frau die schrecklichen Tatsachen des Lebens zu erklären … Mama fröstelt, zittert, seufzte vor Angst, hielt mühsam die Tränen zurück. Woher wußte er nur all diese schmutzigen Dinge? So überlegte sie … Um die Mitte dieser gänzlich viktorianischen Hochzeitsnacht lief sie fort. Zurück zu den Eltern wie so manche andere entsetzte junge Braut.14

      Diese Frauen, selbst noch unreif, sollten, sobald sie verheiratet waren, den Haushalt führen und den Grundstein für die Erziehung ihrer eigenen Kinder legen. Darüber hinaus wartete die wichtige Aufgabe auf sie, in entsprechender Weise zu repräsentieren, was man erreicht hatte. In ihren üppig ausgestatteten Heimen, die das Prestige der Familie heben sollten, verkörperte sie an der Seite ihres Mannes bei Bällen und Diners die neu errungene soziale Stellung.

      Das Erfüllen dieser Verpflichtungen entfremdete die Mütter zunehmend der Aufgabe, ihre Kinder zu betreuen und machte das Einstellen von »Erziehungspersonal« notwendig. Immer weniger war die »Gnädige« in der Kinderstube anzutreffen, ja man erwartete dies auch gar nicht mehr:

      Die Eltern meiner kleinen Anka hatten auf mich, als ich ihnen vorgestellt wurde, einen ungemein günstigen Eindruck gemacht. Beide jung, schön, liebenswürdig. Beide von der gewinnenden Höflichkeit, die sich von selbst versteht, sich wenigstens damals in der feinen Welt von selbst verstand. Sie erschienen mir einfachem Bürgerkind inmitten ihres Luxus, der alles überstieg, wovon ich je gehört oder geträumt hatte, ein wenig halbgottmäßig … Es wäre mir gar nicht eingefallen, ihr zuzumuten, daß sie sich in die Kinderstube setzen möge und Puppenkleider zuschneiden, einen Kreisel peitschen oder nach der Schreiblektion ein tintig gewordenes Fingerchen abwischen. Sie schien mir zu dergleichen viel zuwenig irdisch.15

      Diese »unirdischen Mütter«, die ihre Kinder zunehmend Kindermädchen und Gouvernanten überließen, verloren mehr und mehr den Kontakt zu ihren Söhnen und Töchtern und bewiesen in der Folge oft wenig Einfühlsamkeit in die kindliche Psyche. Sie nahmen ihre Kinder nicht wirklich ernst und erlaubten sich so manchen für das Kind gar nicht lustigen Scherz, wie die Schriftstellerin Bertha von Suttner aus eigener Erfahrung schilderte:

      Noch ein Bild ist mir eingeprägt. O, ich muß ein sehr eitler, vergnügungssüchtiger Fratz gewesen sein! Meine Mutter kommt ins Kinderzimmer; sie trägt ein schönes Kleid, wie ich es noch nie an ihr gesehen habe, und Schmuck auf dem bloßen Hals: Mama geht auf den Ball, und man erklärt mir, daß dies ein Fest ist, wo alle so schön angezogen sind und in ganz hellen Räumen tanzen. Ich will mitgenommen werden, will auch auf den Ball. »Ja, mein Wursterl geht auch auf den Ball.« Ich juble. – »Nämlich auf den Federnball.« Damit küßt mich die schöne Mama und geht. »So«, sagt Babette, »jetzt wollen wir uns zum Federnball bereitmachen.« Und sie beginnt mich zu entkleiden, was ich mit freudiger Erwartung geschehen lasse. Als ich aber, statt weiter geschmückt zu werden, ins Bett gebracht werde und erfahre, daß dies der Federnball sei, da breche ich in wildes Schluchzen aus, getäuscht, gekränkt, gedemütigt.16

      Wie wenig Gedanken man sich über die seinem Alter entsprechenden Fähigkeiten eines Kindes machte, illustriert auch Johannes Jaegers frühkindliche Erfahrung:

       Im Frühjahr 1874 – ich war also noch nicht 4 Jahre alt – ließ meine Mutter mich und meine Schwester photographieren, um meinem Vater mit dem Bilde ein Geburtstagsgeschenk zu machen. Auf dem Heimwege schärfte sie uns und mir besonders ein, dem Vater auf seine Frage, wo wir gewesen, nicht zu sagen, daß wir beim Photographen waren, sondern, daß wir da und dort gewesen seien! Natürlich rapportierte ich meinem Vater: »Wir waren nicht beim Photographen!«, wofür ich in seiner Abwesenheit von der Mutter Prügel bekam. Daraus entnahm ich denn die Lehre: Lügen ist erlaubt; wie mir auch meine Mutter schon damals oder auch später sagte, daß »Notlügen« erlaubt seien! Erinnerte ich sie je an ein mir gemachtes Versprechen, das nicht gehalten worden war, so bekam ich zur Antwort: »Versprechen und Nichthalten ziemt Jungen und Alten.«!!! 17

      Soviel zum viel beschworenen moralischen Vorbild, das die Mutter für ihre Kinder sein sollte. Luise Büchner erkannte, dass angesichts dieser Entwicklung die Mutterrolle an Bedeutung verlor und damit der Entmündigung der Frauen weiter Vorschub geleistet wurde. Sie plädierte daher dafür, dass die Frauen über ihre Mutterrolle mehr Verantwortung für sich selbst und ihre Stellung in der Gesellschaft übernehmen müssten und versuchte dadurch der Mutterschaft mehr Prestige zu verschaffen:

      Es ist kaum in Worten auszudrücken, wie heilig und umfassend der Beruf einer ächten Mutter ist. Die ganze Zukunft ist in ihre Hand gegeben! Ein ganzes Geschlecht kann unter ihren Händen erniedrigt oder sittlich neugeboren werden. Wie ein tiefer, niederschmetternder Vorwurf lastet es auf der Seele denkender Frauen, daß ihr Geschlecht so selten den ganzen Umfang seiner Bedeutung begreift, daß es in kurzsichtiger Verblendung so oft die Enge seines Wirkungskreises beklagt, daß heute, wo wir an der Schwelle einer neuen Zeit stehen, die meisten Frauen in träger Ruhe, in schwindelnden Vergnügungen oder im bloßen Haushaltungsschlendrian ein Leben zubringen, das der edelsten Bestrebung geweiht sein sollte.18

      DIE »LEIBESPFLEGE«

      Gemeinhin war man sich einig, dass das Kind nach der Geburt in der Obhut der Mutter bleiben sollte, denn sie hatte zunächst für das leibliche Wohl des Säuglings zu sorgen: »Das Stillen des Kindes bis zum 8 oder 9. Monat bis die ersten Zähne hervorbrechen ist von größter Wichtigkeit.« Die pädagogischen Ratgeber sahen in der Muttermilch die bestmögliche Nahrung, denn die Muttermilch »… enthält alle jene Stoffe, aus welchen der menschliche Körper aufgebaut ist, modificirt sich in ihren Mischungsverhältnissen nach dem Alter des Kindes, wird vom gesunden Kinde gut und ohne Beschwerden verdaut und ist eben aus diesen Gründen das vorzüglichste und ganz allein völlig ausreichende Nahrungsmittel für den Säugling.«19

      War die Mutter nicht imstande, das Kind selbst zu ernähren, oder war dies aus welchen Gründen auch immer unerwünscht, so war der beste Ersatz eine Amme. Diese Lösung war zwar nahrungstechnisch sicher die Beste, doch warf sie zwischenmenschliche Probleme auf:

       Wenn nun auch, wie bemerkt, eine Amme die natürlichste Stellvertreterin der Mutter ist, so stehen doch der Herbeiziehung einer solchen Mittelsperson ernste Bedenken entgegen … Ist ihr Gesundheitszustand, ihre Einsicht und Gewissenhaftigkeit genügend verbürgt? Wird sie in der Familie ihres Pfleglings mit Tact und Bescheidenheit auftreten, um alle Friedensstörungen zu vermeiden? Wird sie nicht ungebührliche Ansprüche erheben? Sind aber auch diejenigen, welche eine Amme aufnehmen möchten, geneigt und im Stande, die berechtigten Forderungen derselben zu erfüllen und ihr eine anständige Behandlung angedeihen zu lassen? Und endlich, wenn alle diese Bedenken gehoben sind, wird nicht zwischen dem an die Amme gewiesenen Kinde und seiner leiblichen Mutter Entfremdung und Gleichgiltigkeit Platz greifen?


Скачать книгу