"Dies Kind soll leben". Helene Holzman

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daß Marie allein da ist. Da war sie schon, die gute Marie, erhitzt, verschmutzt und mit leuchtenden Augen. Erst einmal sich waschen, duschen, sich umziehen und dann ordentlich essen. Aber beim Essen kann man schon erzählen.

      «Als wir auf der Laisves Allee gingen, rief ein Partisan, der mein Kollege in ›Sodyba‹[19] gewesen war: ›Du bist die Kommunistin, jetzt bekommst du deine Strafe dafür. Wer ist der Herr? Dein Vater? Er soll auch gleich mitkommen.‹ Man führte uns beide in das Polizeirevier. Dort wurden wir getrennt. Vater rief mir zu: ›Wer zuerst von uns freikommt, wird sich anstrengen, den andern freizubekommen!‹ Dann sah ich den Vater nicht mehr. Ich wurde mit vielen andern Frauen ins Gefängnis gebracht. Wir wurden alle zusammen in einen großen Raum gesperrt. Eine ältere Frau, die man als Kommunistin verhaftet hatte, gefiel mir besonders. Sie tröstete die andern und war so heiter und sicher, daß [sie] sich beruhigten. Auf der Erde lag Stroh als Lager. Man bekam mittags Suppe, früh Kaffee und Brot. Ich konnte nicht essen, dachte nur immer an euch und die Sorgen, die ihr euch um uns macht. Am zweiten Tag sagte ich zu dem Beamten, der zur Inspektion hereinkam: ›Ich bin Deutsche. Man hat mich aus Versehen verhaftet. Laßt mich sofort frei.‹ Man rief einen deutschen Polizeibeamten, auf den ich so lebhaft auf deutsch einsprach, daß er sich überzeugen ließ. Er sagte: ›Morgen kommen Sie frei.‹ Heute gegen zehn rief man mich und fragte noch mal, ob ich wirklich Deutsche sei. Dann ließ man mich frei.«

      Da war es nun wieder, mein Sorgenkind, saß vor meinen Augen in der Küche und aß mit großem Appetit ihre Butterbrote.»Nun müssen wir den Vater erlösen.«

      Ich lief noch am selben Tag in die deutsche Sicherheitspolizei.»Tritt nur recht sicher auf als Deutsche«, hatte mich Marie gelehrt. In einem Anmeldezimmer mußte ich lange warten, dann kam ein Beamter und fragte mich genau aus. Eine Deutsche im Ostgebiet ist verdächtig, denn die Deutschen waren alle ins Reich repatriiert.»Aha. Also wegen des jüdischen Mannes sind Sie hiergeblieben. Bringen Sie morgen ein schriftliches Gesuch um Befreiung Ihres Mannes.«

      Am nächsten Tag ein neuer Beamter. Wieder alle Fragen von neuem.»Lassen Sie das Gesuch hier, wir werden uns erkundigen, ob Ihr Mann im Gefängnis ist. Kommen Sie übermorgen wieder.«

      Übermorgen – da wußte kein Mensch etwas von meinem Gesuch. Wieder lauter andere SS-Beamte. Wieder alle Fragen von neuem.

      Ich hatte die Stammrolle meines Mannes mitgebracht, aus der hervorging, daß er im Weltkrieg von August 1914 bis zum Kriegsende deutscher Soldat gewesen war und welche Ehrenzeichen er damals bekommen hatte. Der SS-Beamte warf einen Blick darauf, schob es mir hin und schnarrte:»Das können Sie sich wieder einstecken. Interessiert uns nicht. Jude bleibt Jude. Kommen Sie in ein paar Tagen wieder. «So ging es nicht.

      Der Rechtsanwalt Stankevičius, der meinen Mann gut kannte und sehr schätzte, versprach, seinerseits einen Versuch zu machen. Er reichte zusammen mit Prof. P. [?] und dem Rechtsanwalt T. [?], alle drei bekannte Männer, eine offizielle Bitte um Befreiung meines Mannes ein, der eine sehr angesehene, politisch einwandfreie und von allen geschätzte Persönlichkeit sei, so daß seine Verhaftung nur auf einem Irrtum beruhen könne. Dieses Gesuch brachte er selber auf die Sicherheitspolizei. Es ist nie beantwortet worden.

      Das nächste Mal traf ich in der Polizei einen Beamten, der mein Schüler im Deutschen Gymnasium gewesen war. Er gab mir die Hand. Das war ungewöhnlich, denn diese Beamten vermeiden das sonst. Er schickte mich zu einem andern Beamten. Man wußte weder etwas von meinem Gesuch noch von dem Gesuch der drei litauischen Koryphäen.»Kommen Sie nach einer Woche. Wenn Ihr Mann da ist, werden wir ihn nach Hause schicken.«

      Ich jagte von einer Stelle zur andern. Auf den Straßen wurde regelrechte Jagd auf Juden gemacht. Partisanen drangen in jüdische Wohnungen ein, gaben einen Schuß zum Fenster hinaus und verhafteten oder erschossen die ganze Familie unter dem Vorwand, daß die Juden selbst auf deutsche Soldaten geschossen hätten. Die jüdischen Wohnungen wurden geplündert. Litauische Partisanen und deutsche Soldaten forderten Abgabe von Geld, Uhren, Schmuck, steckten sich ein, was ihnen gefiel.

      Durch die Straßen wurden größere und kleinere Trupps von Juden zum Gefängnis geführt, von dort oder oft auch direkt zum VII. Fort. Auf dem Savanoriu-Prospekt, der breiten Landstraße, die ostwärts führt, auf der sich die russische Armee zurückgezogen hatte, auf der die unvorbereiteten Familien der russischen Armee, der russischen Beamten geflohen waren, auf der Hunderte von Juden sich noch bis in die letzten Stunden vor [dem] Einmarsch der Deutschen – sogar viele auch später noch – gerettet hatten, auf dieser Straße wurden immer neue Trupps von Juden, Männer, Frauen, nach dem VII. Fort getrieben. Sie gingen sprachlos, wie entgeistert über das unfaßbare Dunkle, das über sie hereingebrochen. Die Frauen manchmal in leichten Sommerkleidern, ohne Mantel. Die Männer ohne Kopfbedeckung. Andere trugen [einen] Mantel und in der Hand ein Bündel. Hinter und neben ihnen Partisanen, das Gewehr in der Hand, mit harten, grausamen Gesichtern und überzeugtem Schritt, wie die Schächer auf einer mittelalterlichen Kreuzigung von Multscher.[20] Ach, solche Leidenswege sollten hier jetzt tausendmal wahr werden. Kein Bild kann diese tierische Grausamkeit, diese abgründigen Leiden darstellen.

      Ich stand am Straßenrand und suchte in den traurigen Zügen, sah darunter Bekannte. Manche grüßten verstohlen. Den ich suchte, sah ich nicht. Wir gingen zu dritt. Auch Maries und Gretchens Augen prüften die Vorbeigehenden. Keiner von uns sprach aus, was er dachte.

      Ich lief in die neu geschaffenen Behörden, bis zum General Raštikis[21], wartete lange im Vorzimmer. Dort umarmten sich angesehene Litauer und beglückwünschten sich zu den neuen Stellungen, in die sie das neue Regime gesetzt hat. Ich stand starr daneben und sah mir ihre hohle Freude an. Einige dieser neuen Koryphäen sollten sehr schnell zur Einsicht kommen, von welcher Art diese» Befreiung «war.

      Zu Raštikis selbst wurde ich nicht gelassen. Sein Stellvertreter. Ich merkte gleich, diese Leute haben nichts zu sagen. Sie handeln nach den Befehlen der Eroberer. Der Mann notierte sich auf, und ich fühlte, daß nichts geschehen werde. Aber auch Juden kamen doch heraus auf Empfehlung. Ich hörte von verschiedenen Fällen.

      Da traf ich auf der Laisves Allee den jungen Architekten Moschinskis, erzählte ihm in Eile, und er war sofort bereit, mir zu helfen. Wir gingen zusammen in das Gefängnis. Er kannte den Direktor persönlich.»Ja«, sagte der,»das Gefängnis ist seit zwei Tagen in den Händen der Gestapo. Wir haben nichts mehr zu sagen.«

      Wir gingen zusammen in die Kriminalpolizei. Auch dort wurde Moschinskis als bekannte litauische Persönlichkeit begrüßt. Er schilderte meinen Mann als Menschen hoher Kultur, unpolitisch usw.»Seit einer Woche im Gefängnis?«sagte der Beamte bedenklich.»Von denen sind wenig übriggeblieben. «Er nahm den Hörer und rief das Gefängnis an. Max Holzman? Ja. Der ist noch da.»Seien Sie beruhigt, Frauchen. Morgen mittag um zwölf ist Ihr Mann wieder zu Hause.«

      Ich schüttelte dem Beamten die Hand und verabredete mit Freund Moschinskis, der außerhalb der Stadt wohnte, daß er in einer Stunde zu uns zum Mittagessen kommen soll, und lief nach Hause zu den Kindern, um ihnen die frohe Nachricht zu bringen. Wir saßen auf dem Balkon. Nur erst wieder vereint sein, dann wollten wir schon gemeinsam überlegen, wie wir dem Schicksal trotzen könnten. In Deutschland, hatten wir gehört, gab es Ausnahmegesetze für Mischehen.[22]

      Am nächsten Morgen ging ich früh auf den Markt. Es gab kein Gemüse, kein Obst. Schließlich bekam ich am Rande der Stadt von Bauern, die mit ihren Wagen hereinfuhren, frische Walderdbeeren. Ich eilte zurück. Vielleicht ist mein Mann schon gekommen. Nein, niemand ist gekommen. Ich ging mit den Kindern auf die Straße. Wie immer seit dem Einzug der Deutschen waren fern und nah Schüsse zu hören: Jagd auf verstreute russische Soldaten, auf Juden. Wir gingen die Straße auf und ab, auf und ab, standen lange an der Straßenkreuzung, wo ich schon einmal stundenlang gewartet hatte.

      Dort speit alle fünf Minuten der elektrische Aufzug, der die Stadt mit dem Grünen Berg verbindet, einen Strom von Menschen aus. Manchmal glaubten wir, den Vater zu erkennen. Kam dort nicht eilig ein Herr mit einem weißen Panama? Aber nein, ein wildfremder. Wir standen und standen, bis wir endlich stumm, todmüde nach Hause gingen.

      So warteten wir noch


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<p>19</p>

Wörtlich:»Der litauische Hof«, eine halbstaatliche Handelsgenossenschaft für Lebensmittel wie Obst, Gemüse und Honig, in deren Büro Marie eine Zeitlang gearbeitet hatte.

<p>20</p>

Hans Multscher (ca. 1400–1467), Maler und Bildhauer. Sein malerisches Hauptwerk ist der Wurzacher» Passionsaltar«(1447) mit der Kreuztragung Christi, heute in Berlin.

<p>21</p>

General Statys Raštikis, vor dem Krieg Generalstabschef der litauischen Armee, war in der im Juli 1941 gebildeten, von der deutschen Besatzungsmacht allerdings weitgehend ignorierten litauischen Regierung Verteidigungsminister.

<p>22</p>

Am Rand der Seite ein wohl nachträglicher Zusatz, der sich nicht zuordnen läßt, möglicherweise etwas, das Moschinskis Helene Holzman damals erzählt hat: In Wilna habe auf deutschen Befehl die Stadtverwaltung verordnet, daß alle Juden einen gelben Stern auf der Brust tragen müssen. Die Kaunaer Stadtverwaltung habe sich gesträubt, eine solche Verordnung zu erlassen. In Wilna wurde dieser Befehl erstmals am 3. Juli 1941 herausgegeben, in Kaunas durch den Stadtkommissar Cramer am 31. Juli 1941.