"Dies Kind soll leben". Helene Holzman
Читать онлайн книгу.es noch versteckte Russen, die jeden erschießen, dem sie begegnen. «Wir fürchteten keine Russen. Schon an den Wegrändern wimmelte es von Erdbeeren, und unter den Fichten war es blau von Heidelbeeren. Hier schien noch niemand gesucht zu haben. Ob aus Furcht vor den versteckten Russen? Gretchen hielt sich dicht an mich, aber Marie verlor sich weiter. Ich mußte sie immer wieder rufen und suchen.
Sie hat auf einer moorigen Waldwiese ein Himbeergestrüpp entdeckt. Wir lassen uns Arme und Beine zerkratzen und pflücken, sitzen dann am Wegrand unter einer großen Kiefer, sitzen, wie wir hundertmal im Wald gesessen haben. Um uns summt und zwitschert es. Das Gras blüht und duftet, schöner, schöner Julisommer. Jetzt werden wir nach Hause gehen, und dort wird nicht, wie sonst, der Vater sein. Wir wissen nichts von ihm, nichts. Das Gefängnis ist voll von Juden. Ist er darunter, warum findet er keine Möglichkeit, uns eine Nachricht zu geben?
Am nächsten Tag hörte ich, wie bei Wanda ein Partisan erzählte, daß von den Juden auf dem VII. Fort fast keiner mehr da sei.»Wir haben sie totgeschossen«, sagte er ganz ruhig und gab sein Gewehr zum Spaß einem kleinen Kind in die Hand.»Willst du auch Juden schießen?«Aber das Kind stieß das Gewehr von sich und sagte:»Nein.«—»Das Kind ist besser als ihr«, sagte Wanda,»das weiß, daß es sündhaft ist, Menschen zu morden.«—»Juden sind keine Menschen«, antwortete der Partisan ruhig.
Marie hatte eine Stellung in einem Trust als Übersetzerin angenommen.[26] Deutsche Kräfte wurden sehr gesucht, und der Direktor war sehr zufrieden mit ihr.»Macht nichts, daß sie in der kommunistischen Jugend war, sie ist ein tüchtiges und liebes Mädel.«
Sie arbeitete täglich bis vier Uhr, dann aßen wir zu Mittag und waren froh, miteinander zu sein. Aber Marie hielt es nicht lange zu Hause. Sie hatte einen früheren Freund, einen jungen Arzt, wiedergetroffen, der, ein ernster und hochbegabter Mensch, erfüllt von den Ideen Tolstois, auf Marie tiefen Eindruck machte.[27] Nicht mit der Waffe siegen, sondern durch Liebe. Ein kleiner Kreis junger Menschen hatte sich zur Aufgabe gemacht, die Ideen Tolstois zu verbreiten. Marie war ganz erfüllt von der neuen Mission. Alle Menschen, vor allem die Soldaten, müssen davon überzeugt werden, daß die Waffen nur Unglück bringen. Sie müssen so weit kommen, daß sie den Kriegsdienst verweigern.
Maries begeisterungsfähiges Herz war tief unter dem neuen Einfluß: Friede, Versöhnung, Liebe. Abends saßen wir auf der Veranda, und Marie erklärte glühend die neuen Ideen. Sie hatte schon mit verschiedenen deutschen Soldaten Bekanntschaft gemacht und nicht gezögert, sich ihnen mitzuteilen. Haben die Worte des heldenhaften jungen Mädchens so unmittelbaren Eindruck gemacht, oder war es ihre blühende Frische, der sie erlagen? – jedenfalls fand sich sofort eine Anzahl von Zuhörern, die ihr aus tiefem Herzen zustimmten.
«Sei vorsichtig, solche Reden werden mißverstanden, sind gefährlich«, warnte ich. Aber Marie nannte mich einen traurigen Realisten, der zu keiner Begeisterung fähig sei, und ich zweifelte manchmal, ob ich das Recht habe, diesen kühnen Schwung zu hemmen.
Ich war ständig um sie besorgt. Kam sie einmal abends nicht zur Zeit nach Hause, war ich in Angst um sie, ging auf die Straße. Auf und ab in Ungeduld. Da kommt sie endlich, bittet um Verzeihung. Sie wird mich nicht wieder warten lassen und fortan immer pünktlich kommen.»Geh nicht so viel aus, bleib mehr zu Hause. «Aber nein, es treibt sie ein junger Tatendrang, Idealismus, Lebenslust. Sie besucht ihre jüdischen Freundinnen, verspricht, auch weiter für sie zu sorgen, möchte überall helfen, zu allen gut sein. Sie [be]schafft Brot, Gemüse, Kartoffeln.
Eine neue Freundschaft, in Eile geknüpft, ein Soldat aus Berlin, Musiker. Ihn interessieren die litauischen Volkslieder, die oft abends in mehrstimmigen Melodien trotz Krieg aus den Gärten der Litauer schallen. Marie verbringt einige Nachmittage mit ihm, übersetzt dem jungen Mann die Texte ins Deutsche. Sie improvisiert geformte Nachdichtungen, denn sie kennt und liebt die litauische Dichtung und ist seit Jahren bemüht, litauische Gedichte und Novellen ins Deutsche zu übertragen und sie mit eignen originellen Zeichnungen zu illustrieren.
Er ist ganz bezaubert von der vermeintlichen Litauerin, denn Marie hält ihre Abstammung verborgen. Nach einer Woche muß er weiter zur Front und schreibt einen Abschiedsbrief, wie unendlich viele geschrieben worden sind, voll Sehnsucht nach Liebe und bleibendem Glück.
Es war ihr gegeben, die Herzen der Menschen zu gewinnen. Es ist ihre Art, in allem, was sie ergreift, produktiv zu sein. Immer arbeitet ihre Phantasie, drängt, zu formen, zu gestalten. Das Leben ist ihr eine Reihe herrlicher Sensationen, sie ist jeden Tag gespannt, was er ihr bescheren wird. Sie ist gläubig, gläubig an den Sieg des Guten, kühn, tapfer, opferbereit.
«Sei vorsichtig«, warnte ich sie damals oft.»Sprich nicht offen mit jedem Fremden. Sei vorsichtig, vor allem mit den deutschen Soldaten. «Marie versprach es. Ich solle mir keine Sorgen machen. Sie wollte mir keine Sorgen machen.»Seufze nicht. Sei nicht traurig«, sagte sie mir oft, und wir lächelten einander an und verbargen uns gegenseitig den Schmerz über das dunkle, unfaßbare Verschwundensein des lieben Vaters.
Mit Gretchen war sie offener als mit mir. In ihr hatte sie eine vollkommene Vertraute, denn unsere Kleine mit ihrem tiefen, frühreifen Verständnis für alles Menschliche war mit ihrem kritischen Verstand der älteren Schwester überlegen. Ihre Schüchternheit, ihr Mißtrauen gegen Fremde, ihre klare Beobachtungsgabe waren eine vollendete Ergänzung zur intuitiven, gläubigen Schwester. Die langen, hellen Abende füllten sie mit ihren vertrauensvollen, innigen Gesprächen, bis Gretchen kindlich und schroff abbrach:»Jetzt schlafe ich ein.«
Aber Marie war zu erfüllt, zu bewegt von allem Geschehen und von der großen Idee, die zu verbreiten ihre Mission war. Während die Kleine schon schlief, kam sie mit ihrem Kopfkissen in mein Zimmer und machte sich auf dem Sofa ein Lager, und nachdem Gretchen die Vertraute ihrer persönlichen Angelegenheiten war, philosophierte sie mit mir über das große Gebot der Nächstenliebe und des wehrlosen Duldens[28]: die Soldaten aller Länder so überzeugen, daß sie den Krieg verweigern – dann wird kein beutegieriger Tyrann mehr Krieg führen können.
Sie war nicht zufrieden mit der Warnung ihrer Mutter, vorsichtig zu sein. So werde man nie etwas Großes erreichen. Der resistente Kampf der Sanften, Waffenlosen, der Liebenden, Verstehenden – müssen nicht Haß und völkischer Dünkel schmelzen, wenn der ewige Erlösergedanke sie anweht?
«Ich habe durch Viktor ein paar Soldaten im Lazarett kennengelernt. Wir haben sie besucht und mit ihnen gesprochen. Sie sind ganz einverstanden mit uns. Es ist so leicht, sie zu überzeugen. «Und alle diese Gespräche verschleierten nur den wilden Schmerz um unseren liebsten Menschen.
Um uns starrte die Welt in Grausamkeit, Haß und Mord. Man fühlte, wie das deutsche Regime nach einem genau ausgearbeiteten, bereits bewährten System arbeitete. Die Beschlagnahme der reichen Lebensmittel des Landes, die knappen Zuteilungen an die Bevölkerung, die Einstellung der Zivilisten in deutsche Dienste – alles vollzog sich lückenlos schnell, musterhaft ordentlich. Den Litauern imponierte diese Schneidigkeit. Sie beugten sich willig den harten Gesetzen, durch die sie jeder Freiheit und Selbständigkeit beraubt wurden.»Der Deutsche schafft Ordnung«– und sie spürten nicht, daß die gelobte Ordnung ihre Versklavung schaffte.
Man mußte stundenlang vor den Läden anstehen, um die Ration auf die Lebensmittelkarte zu bekommen. In Deutschland hatte man sich durch jahrelange Entwöhnung längst an einen bescheidenen Ernährungsstand gewöhnt. Hier kam der Umschwung ganz plötzlich. Die Märkte, die mit billigen, vorzüglichen Landwirtschaftsprodukten überfüllt gewesen waren, standen leer. Der freie Verkauf wurde verboten. Die Bauernwagen, die mit ihren Produkten in die Stadt gefahren kamen, wurden von Soldaten angehalten und beschlagnahmt.
Das Geld war gleich in den ersten Tagen entwertet worden, 10 Rubel = 1 Mark. Die Soldaten stürzten sich wie Heuschreckenschwärme in die Läden und kauften alles, was nicht rationiert war. Schokoladengeschäfte, Parfümerien waren in wenigen Tagen ratzekahl gekauft. Stoff- und Schuhgeschäfte, Haushalts- und Eisenwaren[läden] wurden geschlossen. Das Wort» Beschlagnahmt «prangte überall an den verschlossenen Ladentüren, während sich die neuen Herren bereits an die reichen Lager machten.
Von den Litauern hatten viele die Situation auch schon erfaßt
26
Vgl. Anm. 19.
27
Viktor Kutorga.
28
«Wehrlos «im Sinne von» waffenlos«,»unbewaffnet«.