"Dies Kind soll leben". Helene Holzman
Читать онлайн книгу.schrieb uns, daß sie gebeten habe, sie zu verhören. Sie wurde in die Gestapo geführt. Dort legte man ihr Fotos irgendwelcher der kommunistischen Konspiration verdächtigter Personen vor. Marie beteuerte, keinen zu kennen. Sie habe sich in dem Jahr der Sowjetregierung nicht politisch betätigt. Sie habe neben ihrer Bürostellung die Abendschule besucht und ihr Abitur gemacht. Als Komsomol habe sie sich einmal wöchentlich abends mit einer Kindergruppe beschäftigt. Dort habe man gehandarbeitet, vorgelesen, gesungen, Theater gespielt. Spionage habe sie nie getrieben. Die Wärterin berichtete Viktor, daß sie sehr deprimiert zurückgekommen sei. Sie fühle, daß man ihr nicht glaube, daß man ihre Worte mißverstehe, daß man sie für raffiniert und verstellt halte.
Ich suchte verzweiflungsvoll nach einem Menschen, der mit seiner Fürsprache die Mißverständnisse aufklärte. Ich ging zu verschiedenen deutschen und litauischen Leuten, die mit der deutschen Polizei in guten Beziehungen standen, aber keiner wollte es riskieren, sich ihrer Sache anzunehmen.
Da hörte ich, daß der Rechtsanwalt Baumgärtel, der früher in Kaunas gelebt hatte, zurückgekommen sei und in der Zivilverwaltung beim Generalkommissariat arbeite. Ich kannte ihn als warmherzigen Menschen, aber großen Antisemiten. Ich hatte Bedenken, zu ihm zu gehen. Wie wird er sich jetzt als nationalsozialistisches Parteimitglied und Beamter des Dritten Reiches zu mir stellen?
Beim Eintritt in das Verwaltungsgebäude mußte ich meinen Paß vorzeigen, wurde eingehend gefragt, was ich bei Baumgärtel wolle, bekam dann einen Zettel, auf dem die genaue Zeitangabe stand, und eine bewaffnete Begleitung bis zu Baumgärtels Tür. Ich zögerte bangen Herzens, ehe ich klopfte. Baumgärtel sprang auf, begrüßte mich äußerst herzlich, war voll Teilnahme für mich, überlegte, wie er mir helfen könne. Er versprach, selbst in die Gestapo zu gehen, zu sagen, daß er unsere Familie persönlich kenne und der Verdacht politischer Konspiration hinfällig sei. Er wolle bitten, den Fall möglichst schnell zu behandeln und eine eventuelle Strafe gering zu bemessen.
Wir sprachen lange miteinander. Er äußerte sich sehr kritisch über» das nationalsozialistische Regime«.»Wir Älteren«, sagte er,»sind uns alle einig, aber es herrscht der größte Terror, und niemand wagt, den Mund aufzutun. Wir Deutschen sind ja leider ein feiges Volk.«
An dieses letzte Wort mußte ich später noch oft denken. Wir verabschiedeten uns sehr freundlich. In zwei bis drei Tagen solle ich wiederkommen und erfahren, was er ausgerichtet. Als ich dem Türposten meinen Begleitzettel abgab, bemerkte er mißfällig, daß ich mich fast eine Stunde aufgehalten habe.
Ich ging ganz verändert nach Hause. Ich malte [mir] schon das Wiedersehen mit unserer Liebsten aus, wie wir drei dann noch viel inniger, einander ganz, ganz nah sein würden, uns einig in unserer Trauer um den Vater und unserer gegenseitigen Liebe. Ich wartete mit Ungeduld auf Gretchens Heimkehr, um ihr die gute Nachricht mitzuteilen.
Inzwischen hatte sie eine Stelle in einem Übersetzungsbüro angenommen. In die Schule würde sie nicht mehr gehen, und sie wollte auch zur Erhaltung unseres kleinen Haushalts und der Sorge um die Schwester beitragen. Sie hatte sich in den letzten Wochen sehr verändert. Sie war kein fünfzehnjähriger kindlicher Backfisch mehr, [sondern] ein ernster Mensch, ein Kamerad.
Da sie noch jünger aussah, als sie war, hatte man nicht viel von ihr erwartet und sie erst nur probeweise angestellt. Sie arbeitete sich aber sehr schnell ein, lernte abends noch Maschineschreiben, und da sie beide Sprachen, Deutsch und Litauisch, sehr gut kannte, galt sie bald als beste Übersetzerin.
Nach drei Tagen passierte ich wieder den Türposten des Generalkommissariats. Auf dem Gang begegnete mir Baron von Grotthus in brauner Uniform mit der Hakenkreuzbinde. Er grüßte mich nicht. Baumgärtel empfing mich vollständig verändert. Er war hastig, aufgeregt.
«Ich hatte schon Angst, daß man Sie verhaftet hat, weil Sie gestern nicht gekommen sind. Ich habe mich indirekt erkundigt und erfahren, daß Sie auf der Schwarzen Liste stehen. Leider ist es unmöglich, jetzt für Ihre Tochter das geringste zu tun. Sie selbst sind in größter Gefahr. Sie müssen sofort mit Ihrer jüngeren Tochter fliehen. Ich rate Ihnen, nach Deutschland zu gehen. Dort wird man Sie nicht suchen, und Ihre zahlreiche Familie wird Ihnen helfen. Versuchen Sie, von einem Postauto illegal über die Grenze genommen zu werden, oder zu Fuß als Bäuerin. Hier haben Sie für die weitere Reise etwas Geld. Ich mahne Sie ganz dringend, sofort aus Kaunas zu verschwinden.«
Er drückte mir achtzig Reichsmark in die Hand und verabschiedete mich. Ich fühlte, daß er [sich] fürchtete, länger mit mir zu sprechen. Ich ging langsam die Treppe herunter. Der Türposten konnte sich diesmal nicht über meinen zu langen Aufenthalt beschweren.
Man sucht mich. Vor dem Eingang hielt ein Auto. Der Uniformierte, der heraussprang, kam auf mich zu. Jetzt verhaften sie mich, dachte ich.»Verstehen Sie deutsch? Können Sie mir sagen, wie ich zur Feldkommandantur komme?«
Ich holte Gretchen aus dem Büro ab und nahm sie mit mir nach Hause. Ich war nicht aufgeregt und bemühte mich, meine Kleine nicht zu sehr zu erregen. Trotz der Warnung blieben wir die Nacht in unserer Wohnung. Am nächsten Tag sprach ich kurz mit unserer Hauswirtin, die von Beginn unseres Unglücks teilnahmsvoll und hilfsbereit gewesen war. Wir wollten uns vorläufig in der Stadt verstecken. Ich gab ihr einige wertvolle Sachen zur Aufbewahrung. Wenn man nach uns frage, solle sie nicht wissen, wo wir sind. Grete ging in den Dienst. Dort wird man sie bestimmt nicht suchen.»Finde ein Versteck«, bat sie beim Weggehen. Ich stand auf der Straße und wußte nicht, was tun.
Sie zerstören uns, zerstören uns ganz und gar. Nach der Verordnung, die im Ghetto angeschlagen war, hätten wir dorthin umziehen müssen. Jetzt erwartete uns für Nichtbefolgung die angedrohte» härteste Strafe«.
Wo finde ich einen Menschen, der nicht Angst hat, mit mir zu sprechen, der uns berät und hilft? Ich kannte so viele angesehene Litauer, viele der wieder angekommenen Deutschen, und doch gab es keinen, an den man sich wenden konnte. Algirdas fiel mir ein. Anderthalb Stunden Wegs zu seiner Wohnung. Er war nicht zu Hause. Seine Frau versprach, daß er am nächsten Tag in die Stadt kommen würde. Wieder, wie schon einmal, mit Angst und Sorgen beladen den weiten, ermüdenden Weg zurück. Eine zweite schlaflose Nacht.
Ich hatte mich mit Algirdas bei Natalia Iwanowna verabredet, einer Russin, deren Mann kürzlich gestorben war. Sie bedauerte, daß sie andere Leute bei sich wohnen habe, sie hätte uns sonst gern aufgenommen. Algirdas schlug eine andere Russin vor. Man telefonierte, und nach einer Stunde kam eine zierliche Dame, die sofort bereit war, mich mit zu ihrer Freundin zu nehmen, in deren Haus sie mit noch einer dritten Russin wohne. Sie sprach weder deutsch noch litauisch. Auf dem Weg versuchte ich mich auf englisch zu verständigen, denn man hatte mir gesagt, daß sie in der Mandschurei aufgewachsen sei und dort englisch gesprochen habe. Sie antwortete aber fast nichts, war sehr scheu und kühl. Sie sieht mit den dunklen Augen und dem gelblichen Teint wie eine allerliebste Chinesin aus, dachte ich. Sie war mir fremd, und die ganze Stadt, die so oft gegangenen Straßen, waren mir fremd.
Das altmodische Holzhäuschen, in das sie mich führte, lag nicht weit von unserer Wohnung, aber abseits der Straße, hinter großen Bäumen mit noch einigen ähnlichen Häuschen, die wie vergessen aus der zaristischen Zeit schienen. Innen war ein großer Raum, in dem mit halbhohen Bretterwänden einzelne Stuben angedeutet waren. Sie gingen nach Süden und Westen und waren trotz zerbrochener Fensterscheiben und notdürftiger Möblierung freundlich und hell.
Die chinesische Natascha besprach sich mit ihrer Freundin, der das Häuschen gehörte. Sie war sogleich bereit, uns aufzunehmen. Sie hieß ebenfalls Natascha, und trotzdem sie etwas besser als die andere litauisch sprach, konnten wir uns nur schlecht verständigen. Ich fühlte mich wie ein unliebsamer Fremdkörper in dieser intimen Welt, gerade weil die Hilfsbereitschaft so ohne Ansehn der Person gewährt wurde. Es wurde verabredet, daß wir uns schnell unsere nötigsten Sachen holen und unsere Wohnung vorläufig nicht mehr aufsuchen sollten. Als ich Gretchen abholte und ihr unser Quartier beschrieb, erinnerte sie sich, dieses Häuschen bereits zu kennen. Dort wohne unsere alte Bekannte Ludmilla.
Mit Ludmilla hatten wir vor Jahren Datsche an Datsche einen Sommer in einem einsamen russischen Walddorf verbracht, wo sie das ganze Jahr lebte, die Bauern kurierte und beriet, die Kinder lehrte und mit ihnen Theater spielte. Sie war seit Jahren schwer leidend und hatte,