"Dies Kind soll leben". Helene Holzman

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Gefangene aus den Lagern als Hilfskräfte für die Landwirtschaft zu holen. Meistens wurden sie dort gut herausgefüttert und fühlten sich sehr wohl. Aber es kam auch oft vor, daß einer davonlief. Deshalb wurde es später viel schwerer, die Bewilligung zur Haltung von Gefangenen zu bekommen.

      Zu jener Zeit bekamen manchmal auch Städter die Erlaubnis zur Haltung eines Gefangenen. Unsere Nataschas wollten gleichfalls einen als Hauswächter und Pfleger des Gartens bekommen. Sie hatten sich bereits mit einem bekannt gemacht, der noch im Lazarett lag. Da man in der Administration deutsch sprechen mußte, ging ich als Vermittlerin mit.

      Während wir im Vorhof warteten, kamen verwundete und kranke Gefangene heran. Wir verteilten unser Mitgebrachtes. Die Russen bedankten sich sehr. Sie steckten sich sofort die Papirossen[41] an, bissen in das geröstete Brot. Da [es] ihnen aber unpassend erschien, das rösche Brot so laut krachen zu lassen, bemühten [sie] sich, vorsichtig zu kauen, um nicht zu laut zu knuspern. Natascha fing ein Gespräch mit ihnen an. Wir schauten [uns] dabei ununterbrochen ängstlich nach allen Seiten um, im Bewußtsein, hier ein strenges Verbot zu übertreten. Aber hier im Lazarett schien ein angenehmes Milieu zu sein. Ärzte und Pfleger duldeten stillschweigend das Unerlaubte, und die Kranken versicherten, daß sie gut behandelt würden.

      In der Kanzleistube sprachen wir mit einer sehr liebenswürdigen Dame, die – jung, blondlockig, schön und elegant – der Atmosphäre einen unerwarteten Glanz gab. Personal und Patienten strahlten, wenn diese Sonne ihr Licht auf sie scheinen ließ, und auch wir wurden davon betroffen. Die Strahlende versprach, für die Zuteilung des erbetenen Gefangenen Sorge zu tragen. Wir könnten ihn, wenn wir wollten, jetzt gleich sehen und alles mit ihm besprechen.

      Man schickte einen Boten, und bald kam der Verlangte langsam über den Lazaretthof angezockelt. Natascha setzte sich mit ihm auf ein Bänkchen am Toreingang. Ihr strenges Profil kam mir, von der Sonne beschienen, nicht mehr chinesisch vor, sondern ganz slawisch, eine echte, kleine Russin im Gespräch mit dem großen, etwas schwerfälligen Mann, der einen Arm gegipst und mit Gaze verbunden hoch auf ein unbequemes Gestell gebunden trug.

      Wir gingen vergnügt und mit unserm Erfolg zufrieden nach Hause.»Wie kann der Mann, der anscheinend lange schwer verletzt ist, schon in wenigen Tagen zur Arbeit entlassen werden?«fragte ich Natascha.»Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Iwan ist überhaupt nicht verletzt, sondern wegen kranker Augen in ärztlicher Behandlung. Den pompösen Verband mit dem Gestell trägt er, wie noch viele andere Lazarettinsassen, nur als Attrappe für die deutsche Kontrolle. Das machen ihnen die litauischen Ärzte und Pfleger aus Mitleid, damit die armen Schlucker noch ein Weilchen im Lazarett bleiben können.«

      Ich hörte hier zum ersten Mal von so wohlorganisierter Sabotage. Später lernte ich sie noch an vielen Stellen kennen und bewundern.

      Iwan kam nicht am verabredeten Tag, und Natascha und ich gingen wieder ins Lazarett. Das Bild hatte sich völlig verändert. Schon der Torposten wollte uns den Eintritt verwehren. In der Kanzlei neue Menschen. Die Strahlende, die ihr Amt so virtuos verwaltet hatte, war verschwunden. Später hörte ich von einem Arzt, daß die Deutschen entdeckt hätten, daß sie eine Polin sei, und sie deshalb sofort entlassen und nach Deutschland zurückgeschickt hätten. An ihrer Stelle saß ein derber Gefreiter und sagte uns klipp und klar, daß an private Stadtbewohner keine Gefangenen mehr gegeben werden dürften. Während Natascha den vergeblichen Versuch machte, Iwan noch einmal zu sprechen, und ich im Hof wartend stand, wurden aus dem gegenüberliegenden Gebäude zwei Tote herausgetragen. Die wächsernen Füße ragten aus dem Leintuch. Sie wurden auf einen Karren geladen und fortgeführt.

      «Wie bei meinen Besuchen beim Rechtsanwalt Baumgärtel«, dachte ich auf dem Heimweg,»das erste Mal so hoffnungsvoll, und nach wenigen Tagen hat sich alles gewandelt.«

      Das Ghetto war am 15. August geschlossen worden. Am Tor standen Wachtposten, die den Eintritt verwehrten. Die Juden durften es nur in Begleitung von Wachen verlassen. Täglich kamen größere und kleinere geschlossene Gruppen – »Brigaden«– über die Vilijabrücke in die Stadt, um bei den deutschen Militär- und Zivilbehörden zur arbeiten. Die Stellen forderten am Vortage von der Ghettoverwaltung die benötigte Zahl von Arbeitskräften.

      Die Militärstellen waren beliebter, trotzdem die Arbeit dort häufig physisch schwerer war. Aber unter Offizieren und Soldaten gab es viele, deren Gefühl sich gegen die offenbare Verletzung der Menschenwürde empörte und [die] sie persönlich auszugleichen versuchten. Die jiddische Sprache ist der deutschen so verwandt, daß eine Verständigung ohne weiteres möglich ist. Die deutschen Soldaten, die hier häufig zum erstenmal in ihrem Leben mit Juden in engere Berührung kamen, erlebten zu ihrem größten Erstaunen, daß das von der deutschen Propaganda geschaffene Zerrbild in keiner Weise auf die Wirklichkeit paßte. Sie fanden anstellige, tüchtige Handwerker, die ihr Fach ausgezeichnet verstanden, sie fanden Lastträger von ungewöhnlichen körperlichen Kräften, intelligente Ingenieure. So entwickelten sich oft sehr freundliche Beziehungen zwischen den Soldaten und den Juden. Sie schütteten sich gegenseitig ihr Herz aus, und manchmal entwickelten sich richtige Freundschaften.

      Unter den jüdischen Mädchen und Frauen fanden sie die lieblichsten, anziehendsten Erscheinungen, und auch da entstanden rasch menschliche Beziehungen, oft solche mit der Hoffnung auf Dauer» nach dem Kriege«, die sich freilich nicht verwirklichen konnte. Offiziere nahmen jüdische Mädchen zur Instandhaltung ihrer Wohnung. Aus den Aufwartungen wurden Hausfrauen, und die intimen Beziehungen sprachen der propagierten natürlichen rassischen Abneigung Hohn. Wurden diese Verhältnisse von den Vorgesetzten entdeckt, so schickte man die Offiziere schleunigst an die Front.

      Natürlich gab es auch viele, die den Juden von vornherein mit dem ihnen eingeprägten Vorurteil begegneten und sich durch keine Einsicht davon abbringen ließen. Aber solche waren unter den Soldaten viel seltener als bei der Zivilverwaltung. Vielleicht hatte auch das Beispiel, die würdige Erscheinung der obersten militärischen Person, des Generalmajors Just[42], seine Wirkung, während die Häupter der Zivilverwaltung wahre Untiere waren, die in ihrer Überheblichkeit im Laufe der drei Okkupationsjahre nicht nur gegen die Juden, sondern auch gegen die Litauer die schwersten Verbrechen begingen.

      Eine Brigade von Frauen wurde beordert, in den Verwaltungsgebäuden die verwahrlosten Klosetts zu reinigen. Auf die Forderung von Bürsten und Lappen antwortete man ihnen:»Nehmt eure Kleider!«Auch zum Dielenscheuern, zum Fensterputzen wurde ihnen das nötige Putzzeug verweigert. Man sah gebildete Juden als Straßenkehrer, beim Räumen vom Schutt, Ausbessern der Straßen.

      Sie sollten eigentlich nur Schwerarbeit leisten. Da aber überall Arbeitskräfte fehlten und es sich zeigte, daß die Juden auf allen Gebieten tüchtige Kräfte stellen konnten, wurden einzelne auch als Übersetzer in den Schreibstuben, als Drucker, Ingenieure, Buchhalter, anfangs sogar auch als Ärzte verwendet.

      Man holte jüdische Fachärzte, wenn in schweren Fällen die anderen keinen Rat mehr wußten. Man sah gelegentlich, wie einer der bekannten Chirurgen oder Internisten von einem Partisanen mit dem Gewehr in der Hand durch die Stadt geführt wurde. Der Partisan auf dem Fußsteig, der Arzt daneben im Rinnstein mit dem gelben Stern.[43] Die Frau eines hohen Zivilbeamten, eines schweren Antisemiten, ließ sich von einem jüdischen Gynäkologen von einer Zwillingsgeburt entbinden.

      Die Beschäftigung der Ärzte wurde bald verboten. Die Deutschen verzichteten lieber auf die rettende medizinische Hilfe, als ihre Notwendigkeit einzugestehen. Eine Ausnahme bildete der Zahnarzt Dr. Quitzner, der bis zuletzt mit seiner Frau als Assistentin in der Gestapo als Zahnarzt arbeitete. Er hatte sein vollständig eingerichtetes Kabinett, und die Mörder von Tausenden von Juden ließen sich von seiner geschickten Hand die Plomben, Kronen und Gebisse machen. Er wurde täglich mit einem Auto vom Ghetto abgeholt und wieder zurückgebracht.

      Am 18. August wurden circa 500 intelligente, gutgekleidete Juden zur Sonderverwendung in einem Archiv gefordert. Sie sollten etwas Gepäck mitnehmen, da man sie längere Zeit außerhalb der Stadt beschäftigen werde. Es meldeten sich viele freiwillig. Sie waren erfreut, zu so angenehmer Arbeit gebraucht zu werden, und verabschiedeten sich wohlgemut von ihren Angehörigen. Die zur geforderten Zahl Fehlenden wählte der Ältestenrat aus. Am Morgen verließen 534


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<p>41</p>

Russische Zigaretten mit einem langen Mundstück aus Pappe.

<p>42</p>

Es gab einen relativ humanen deutschen Offizier, Oberst Erich Just, der als Beauftragter des Wehrmachtbefehlshabers Ostland im Baltikum war. Möglicherweise ist aber doch Heinz Jost gemeint, ein allerdings nicht durch seine Milde bekannt gewordener Generalmajor der Polizei. Er war ab März 1942 mit der Wahrung der Geschäfte des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD und des Chefs der Einsatzgruppe A beauftragt. Avraham Tory (S. 251) berichtet, der Ältestenrat des Kaunaer Ghettos habe sich bemüht, mit Jost in Kontakt zu kommen, da er vor dem Krieg mit einigen Juden, die nun im Ghetto lebten, befreundet gewesen sei. Offenbar hoffte man, in ihm einen Fürsprecher zu finden.

<p>43</p>

Vgl. Anm. 31, S. 44.