"Dies Kind soll leben". Helene Holzman
Читать онлайн книгу.daß wir davon gesprochen, meine nächtlichen Qualen mitgefühlt und mitgelitten.
Am Tage war alles einfacher. Wir beschlossen, daß Gretchen allein nach Deutschland flieht. Es war nicht schwer, einen Soldaten zu finden, der bereit war, sie in seinem Lastwagen über die schwach kontrollierte Grenze zu nehmen. Wir trafen Vorbereitungen, aber es war uns nicht ernst. Schließlich sprachen wir nicht mehr darüber.
Die deutsche Armee ging mit Siegesschritten tief nach Rußland hinein. Noch einige Tage, und sie werden Leningrad eingenommen haben oder vielleicht vorher Moskau. Sie sind die ewig siegenden Eroberer. Die Welt sah es mit Staunen und Bewunderung. Die deutschen Soldaten brüsteten sich. Die Länder, in die sie schreiten, legen sich ihnen zu Füßen. Sie beschlagnahmen die Ernten, plündern die Warenlager der Städte, schlagen die Wälder, versklaven die Bevölkerung. Sie überraschen die Völker mit einem fertigen, bis ins kleinste ausgeklügelten Verwaltungssystem, das sofort in Kraft gesetzt wird. Sie sind unwiderstehlich, und dennoch, dennoch – von Anfang an war zu fühlen, daß dieser blendende Aufbau einen Konstruktionsfehler hatte. Es fehlte etwas in seinen Maßen. Dem Fundament war nicht zu trauen. Der hörige Glaube an die Unfehlbarkeit des Regimes, die maßlose Überheblichkeit gegenüber allen anderen Völkern und nicht zuletzt ihr wahnwitziger Antisemitismus – aus dem allen konnte und konnte am Ende nichts Gutes hervorgehen.
So warteten wir nur auf die Zeit, in der das offenbar werden würde. Die Oberschwester eines Lazaretts, die mir meine Pelzjacke abkaufen wollte, zog sich schließlich vom Kauf mit der Begründung zurück, daß Deutschland noch im Herbst den Krieg gewinnen würde und sie den Pelz in ihrer süddeutschen Heimat nicht nötig haben werde. Damals konnte sich noch niemand vorstellen, daß schon der Winter die ersten großen deutschen Niederlagen bringen würde, von denen Deutschland sich nicht wieder erholen konnte. Und doch war uns schon gewiß, daß der Zusammenbruch kommen würde. Wir wußten uns in dieser Hoffnung einig mit den Freunden und Geschwistern in der Heimat. Wir bekamen von dort spärliche, verängstigte Nachrichten, Todesanzeigen im Felde gefallener Freunde. Ein Sohn meiner Schwester war vor Leningrad gefallen, der andere hatte sich die Füße erfroren. Er lag monatelang schwerkrank im Lazarett.
Der Winter hatte schon so früh mit eisiger Kälte eingesetzt, daß die Bauern Kartoffeln und Gemüse noch nicht geerntet und eingemietet hatten. Ein großer Teil erfror und verfaulte auf dem Felde. Wir standen stundenlang vor den offiziellen Geschäften, wo es Kohl und rote Rüben zu den festgesetzten, niedrigen Preisen gab. Wir standen abwechselnd, weil es für einen zu kalt auf dem zugigen Savanoriu-Prospekt war. Man stand und stand geduldig in der langen Reihe und hörte das Geschwätz der Weibchen an, die mit derselben Ergebenheit warteten, wie sie den Freitod der Familie Robaschenski als unfromm verurteilten und über die schrecklichen Geschehnisse sprachen, die sich im Ghetto ereignet hatten.
Anfang September begann die vollständige Ausrottung der Juden in der litauischen Provinz. Es wurde dabei nach einem bis ins kleinste ausgearbeiteten Plan vorgegangen, so daß in allen Landstädten dieser grauenvolle Vernichtungsprozeß auf die gleiche Weise abrollte.
Deutsche Polizei warb unter der litauischen Land- und Kleinstadtbevölkerung um Partisanen, Henkersknechte ihrer harmlosen Mitbürger, mit denen sie ihr Leben lang zusammengelebt hatten. In den Landstädtchen hatten Litauer und Juden trotz vieler kleiner Spannungen im besten Einvernehmen gelebt. Die Juden waren Handwerker, Kaufleute, Unternehmer, Gastwirte, Ärzte und bildeten einen wichtigen Bestandteil des wirtschaftlichen Lebens. Die litauischen Beamten pflegten gute Beziehungen zu den tüchtigen jüdischen Landärzten, Advokaten, Ingenieuren, und die Litauer rühmten sich, daß es in ihrem Lande niemals Pogrome wie in Rußland und Polen gegeben habe.
Jahrelange systematische Wühlarbeit seitens des nationalsozialistischen Regimes hatte den Boden bereitet. Alles, was sich im Zeichen des sich vorbereitenden Krieges an Unebenheiten, Schwierigkeiten des Lebens, Teuerung und Arbeitsnot entwickelte, alles wurde den Juden als Ursache zugesprochen. Jetzt sei der Tag der Rache gekommen, peitschte die Propaganda die dunklen Gemüter auf, der Augenblick, da man sich am Besitz der Juden, der bei vielen ein Anlaß des Neides gewesen war, schadlos halten konnte. Es meldeten sich die Schlechtesten der Bevölkerung, die Faulen, die Tunichtgute, die Beutegierigen. Die Deutschen versprachen den Partisanen reichen Anteil an der bevorstehenden Beute und gaben ihnen zur Ermunterung Schnaps in großen Mengen. Der Akt konnte beginnen.
Man drang in die Wohnungen der Juden ein und trieb alle Bewohner aus den Häusern auf den Marktplatz oder in die Synagoge. Kranke, Säuglinge wurden getragen. Man sagte ihnen, daß sie anderwärts zur Arbeit benötigt und zeitweilig umgesiedelt würden, und hieß sie, die notwendigen Kleidungsstücke mitzunehmen. Auf den Straßen, Plätzen [und in den] Synagogen spielten sich bereits die schrecklichsten Szenen ab. Man schlug die Juden mit Knüppeln und Gewehrkolben, entriß ihnen die herbeigeschleppten Sachen, [trennte] Kinder von Müttern, bespie und verhöhnte sie. Dann wurden sie geschlossen aus der Stadt getrieben.
An vielen Orten hatte man einige Tage vorher jüdische Ingenieure mit Hilfspersonal geholt und sie unter dem Vorwand, Brunnen graben zu müssen, im Walde oder auf freiem Felde breite Gruben ausstechen lassen. Nachdem sie die Arbeit ausgeführt hatten, wurden sie an Ort und Stelle erschossen.
Zu diesen Gruben wurden die Juden geführt. Ihre Bündel mußten sie auf einen Haufen legen und ihre Oberkleidung ausziehen. So wurden sie halbnackt in Partien an den Rand der Gruben getrieben und mit Maschinengewehren erschossen. Zuerst die Kranken, Alten, dann die Kinder und Frauen, zuletzt die Männer. Die Erschossenen fielen in die etwa zwei Meter tiefen Gruben. Verwundete wurden erstochen oder erschlagen.
Das Gemetzel währte an vielen Orten den ganzen Tag. Bevor die Reihe an sie kam, waren die Unglücklichen Zeugen, wie man die anderen abschlachtete. Wenn die Gruben, in denen die Toten in vielen Schichten übereinanderlagen, voll waren, wurden die Juden gezwungen, sie zuzuschütten, nachdem man die Leichen aus» hygienischen Gründen «mit calcium chloratum bestreut hatte. Kleine Kinder wurden lebendig in die Gruben geworfen und verschüttet. Manche Männer setzten sich zur Wehr, sprangen den Exekuteuren an die Gurgel und zogen sie mit in das grauenvolle Massengrab.
Die Exekuteure waren überall litauische» freiwillige «Partisanen. Deutsche Polizei und Wehrmacht leitete und überwachte die Handlung. Wo die Litauer schlappmachten, wurden sie mit Alkohol aufgemuntert. An vielen Orten wurden die Szenen von deutschen Filmakteuren aufgenommen. Bei den Aufnahmen wurde darauf geachtet, daß nur litauische Exekuteure auf die Platte kamen. Die Deutschen bemühten sich später, den Tatbestand zu fälschen, als ob litauische Initiative in» gerechter Volkswut gegen die jüdischen Ausbeuter «die Gemetzel veranstaltet habe.
Alles geschah am hellichten Tage. Tausende von Litauern waren Augenzeugen. Litauische Geistliche, höhere Beamte, frühere Offiziere versuchten einzuschreiten. Einige Beherzte, die das Schreckliche zu verhindern suchten, büßten mit ihrem Leben. Der Blutrausch führte zu entsetzlichen Exzessen. Jüdische Mädchen wurden von den Henkern in den Busch gezerrt und geschändet, bevor sie getötet wurden. Einer dieser Mörder wurde wahnsinnig, beschrieb hinterher immer wieder, wie sein Opfer still seine Schuhe ausgezogen und nebeneinander gestellt habe, wie unschuldig und lieblich sie gewesen sei – er konnte das Bild nicht ertragen und beging Selbstmord.
Als die ersten Berichte zu uns nach Kaunas drangen, wollte man sie nicht glauben. Ich habe später viele Augenzeugen aus verschiedenen Städten gesprochen. Man hat mir noch viele Einzelheiten genau berichtet. Die Exekutionen hatten eine schauerliche Ähnlichkeit untereinander und endeten überall mit der vollständigen Vernichtung der Juden. Nur in vier Städten, Wilna, Kaunas, Schaulen und Semeliškes[47], wurden Ghettos errichtet, nicht etwa um das Leben der Juden zu schonen. Nein, schon damals wurde auch [über] diesen der Stab gebrochen, aber man brauchte Arbeitskräfte, die man vor ihrer Vernichtung noch ausnutzen wollte.
Von unseren Freunden aus dem Ghetto bekamen wir auf Umwegen Briefe – Briefe des Jammers, der Sehnsucht, der Verzweiflung. Von» namenlosem Leid «schrieb Lyda. Sie hatten nichts zu essen, keine Heizung, aber das waren ihre geringsten Sorgen.
Wir schickten Päckchen durch Lydas Bruder, der in einer Brigade in der Stadt arbeitete. Durch diese und andere Brigaden waren wir in ständiger Verbindung mit den Juden im Ghetto und litten mit ihnen die entsetzlichen Verbrechen, deren unschuldige Opfer sie waren. So teuflisch, so unbeschreiblich
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Ghettos, die länger Bestand hatten, gab es nach den verfügbaren historischen Untersuchungen auf litauischem Gebiet nur in drei Städten, Kaunas, Wilna und Schaulen (šiauliai). Zu Beginn der deutschen Besetzung wurden allerdings für kurze Zeit auch in zahlreichen kleineren Orten Ghettos errichtet.