"Dies Kind soll leben". Helene Holzman
Читать онлайн книгу.Werk widerwillig und mühsam fort. Wie lange? fragten sie sich täglich. Täglich schwirrten neue Gerüchte. Auf den Forts gräbt man wieder Gruben. Nachts schießen die Posten sinnlos in die Luft, um die Eingeschreckten noch mehr einzuschrecken. Es werden neue Zählungen, Einteilungen gemacht. Verhandlungen mit dem Ältestenrat, über deren Ergebnis die verschiedensten Auslegungen kursieren. Die Soldaten beruhigten die Flugplatzarbeiter: Wenn ihre Arbeit auch schwerer als die der andern sei, so gewähre sie doch auch die größte Sicherheit. Vor drei bis vier Jahren sei der Flughafen nicht beendet, so lange brauche man die Arbeiter.
Es blieb den Ghettobewohnern nicht lange Zeit, sich von der» abgeblasenen «Aktion zu beruhigen. In der Nacht zum 26. September wurden sie durch besonders häufig abgegebene Schüsse auf neue Mordtaten vorbereitet. Morgens von vier Uhr ab wiederholten sich die Szenen des 17. September. Deutsche Polizei, SA-Männer und litauische Partisanen drangen in die Häuser eines Quartals[50] des Ghettos ein und jagten die Schlafenden heraus auf einen Platz, wieder mit Kindern, Alten, Kranken. Maschinengewehre mit Bemannung waren auf den Dächern der umliegenden Häuser aufgestellt. Die Inhaber eines Handwerkerausweises wurden mit ihren Familien nach Hause entlassen. Die andern ordnete man in Trupps und führte sie unter schwerer Bewachung aus dem Ghetto heraus nach dem IX. Fort. Die nicht gehen konnten, wurden in Lastautos verladen. Man sagte ihnen, daß sie in ein anderes Ghetto gebracht würden.
Dort [im IX. Fort] vollzog sich dieselbe entsetzliche Prozedur wie an den Juden der Provinzstädte. Etwa 3000 wurden mit Maschinengewehren erschossen und verscharrt.[51] Ihre Kleider, die sie vorher ablegen mußten, wurden in Lastautos in die Desinfektionsanstalt gebracht. Die Ghettobewohner, die sich ansehen mußten, wie man ihre Brüder abführte, ohne daß es eine Möglichkeit gab, sich zur Wehr zu setzen, zu fliehen, einander zu helfen, waren in panikartiger Verzweiflung. Jordan, der die Aktion geleitet hatte, versprach ihnen, daß dies die letzte gewesen sei und keine Exekutionen mehr vorkommen würden. Man klammerte sich an seine Worte, ohne ihnen zu trauen.
Am 2. Oktober erschien Jordan mit seiner Karawane wieder beim Komitee. Sie besichtigten die sozialen Einrichtungen, die im Kleinen Ghetto waren, insbesondere das Krankenhaus. Sie ordneten an, neben dem Krankenhaus Gruben zu graben.
In der Nacht zum 4. Oktober wurden wieder besonders viele Schreckschüsse abgegeben, die die Ghettobewohner auf neues Unheil vorbereiteten. Als die Aerodrombrigaden, die im Kleinen Ghetto wohnten, von der Nachtschicht heimkehren wollten, fanden sie den Viadukt, der die beiden Ghettos miteinander verband, gesperrt. Ein Maschinengewehr drohte nach der Richtung zum Kleinen Ghetto, das von allen Seiten von Militär umzingelt wurde. Die Menschen wurden aus den Häusern geholt, versammelt, eingeteilt, die Arbeitskräftigen ausgesucht, alle übrigen zum IX. Fort getrieben. Darunter das gesamte Waisenhaus, circa 150 Kinder, mit allen Lehrern und anderem Personal. Allen war klar, welche Absichten man mit ihnen hatte. Die Kinder schrien und weigerten sich zu gehen. Auch Erwachsene versuchten, auf dem Weg zu ihrer Richtstätte zu entlaufen. Sie wurden mit Kolben und Gummiknüppeln geschlagen. Einige brachen tot zusammen.
Gegen Mittag wurde das Krankenhaus mit Brennstoff begossen und von allen Seiten in Brand gesteckt. Als das Personal versuchte, die Kranken zu retten – man trug sie in Bahren auf den Hof – , wurden sie daran verhindert. Die Flammen griffen schnell um sich. Das ganze Haus verbrannte mit allen Kranken. Zwei Schwestern und ein Arzt (Dr. Davidovich) wurden bei dem Versuch, Kranke zu retten, auf dem Hof erschossen. Alle Insassen der Infektionsabteilung, 45 Kranke, verbrannten bei lebendigem Leibe. Das Kommando führte SA-Sturmbannführer[52] Thornbaum. Der Stadtkommissar Cramer erschien zu dem grausigen Schauspiel und sagte, die Verbrennung des Krankenhauses sei eine» hygienische Vorsichtsmaßnahme«, um die Ausbreitung von Lepra zu verhüten. In Wirklichkeit gab es dort keinen Leprakranken. Die Infektionskranken hatten Scharlach, Typhus, Tbc, Diphtherie. Mit dem Krankenhaus verbrannten wertvolle medizinische Apparate, ein X-Strahlenapparat, zehn Elektrokardiographen.
Die Menschen sahen vom Großen Ghetto, was auf der andern Seite der Paneriu-Straße geschah. Sie versuchten, den Zugang über den Viadukt zu erzwingen. Die Posten schlugen sie zurück und drohten, man würde jeden, der sich nicht ruhig verhielt, mit zum IX. Fort bringen. Vom Großen Ghetto konnte man sehen, wie sich der traurige Zug der zum Tode verurteilten ca. 2000 Menschen den Berg heraufbewegte, flankiert von deutschen und litauischen Posten, die sie mit Schlägen vorwärtstrieben. Viele, die vom Flugplatz gekommen waren, wußten ihre Eltern, Frauen und Kinder darunter. Die Henker höhnten über ihre Verzweiflung.
Diejenigen vom Kleinen Ghetto, die man vorläufig aufgespart hatte, um sie noch zur Fronarbeit auszubeuten, mußten nun das Kleine Ghetto verlassen. Sie durften nichts mitnehmen. Die Häuser jenseits der Paneriu-Straße standen leer. Partisanen und deutsche Soldaten plünderten nach Herzenslust. Auch Zivilbevölkerung kroch durch den Drahtzaun und räuberte. Nach zwei Tagen erlaubte man den früheren Bewohnern, sich aus ihren alten Wohnungen zu holen, wieviel ihre Hände tragen konnten. Unter ihnen waren unsere Freunde. Edwin hatte als Sanitäter den Brand des Krankenhauses miterlebt. Lyda schleppte aus der unterdessen ausgeräuberten Wohnung noch einiges mit auf die andere Seite. Sie zogen zu ihrem Bruder.
Als die Juden klagten, man habe ihnen doch versprochen, daß keine Exekutionen mehr vorkommen würden, erwiderte Jordan, diesmal sei es eine» Sondermaßnahme «gewesen, aber das sei nun wirklich die letzte, und die Überlebenden hätten nichts mehr zu fürchten, vorausgesetzt, daß sie sich gut verhielten. Wieder klammerten sich die Unglücklichen, die keine andere Möglichkeit einer Rettung sahen, an dieses verlogene Versprechen.
Die feinen deutschen Herren erfanden bald genug einen neuen Vorwand für ihre teuflischen Verbrechen. In der Nähe des Tores ertönte eines Tages ein Schuß. Es wurde behauptet, daß ein junger Mann ein Attentat auf den Chef der Ghettowache Koslowski beabsichtigt hätte. Das Quartal wurde abgesperrt und etwa 1000 Menschen als des Mordanschlags oder der Beihilfe verdächtig festgenommen und zum IX. Fort abgeführt.[53]
Die Ghettoleute erwarteten mit jedem neuen Tag den Tod. Der Herbst war gekommen. Es wurde kalt und regnete viel. Am 26. Oktober wurde der Ältestenrat von Jordan zu einer Besprechung aufgesucht. Nach langen Verhandlungen gab der Ältestenrat durch ausgehängte Zettel bekannt, daß sich am 28. Oktober, sechs Uhr früh alle Einwohner ohne Ausnahme auf dem großen Platz einzufinden hätten. Für warme Kleidung und Nahrung für den ganzen Tag sei zu sorgen. Es handele sich, so wurde wieder ausdrücklich versichert, um eine friedliche Maßnahme, und zu Aufregung sei kein Grund vorhanden. Man munkelte, daß man die Arbeitsunfähigen in das» Kleine Ghetto«, das seit dem Krankenhausbrand und der Evakuation leer stand, umsiedeln würde. Sie würden dort geringere Lebensmittelkarten als die Arbeitenden bekommen.
Ein großes Aufgebot von Wachtposten füllte die Straßen, sorgte dafür, daß keiner zu Hause blieb. Ein paar Kranke, die man doch fand, erschossen die Posten an Ort und Stelle. Pünktlich um sechs Uhr waren alle Häuser und Straßen leer. Etwa 28000 Menschen waren auf dem kahlen Gelände versammelt. Die jüdische Ghettopolizei, durch Armbinden kenntlich, sorgte für Ordnung.
Es wurden einzelne Kolonnen gebildet, die sich eine neben der andern, mit der Front nach Nordwesten aufstellen mußten. In der ersten Kolonne standen die Mitglieder des Ältestenrates, jeder mit seiner Familie. In der zweiten die Polizei, dann die Angestellten der Administration und schließlich alle Brigaden, nach ihren Arbeitsplätzen geordnet, alle mit ihren Familien. So warteten sie fröstelnd am trüben, kalten Morgen zwei Stunden, bis gegen acht Uhr die deutsche Kommission anrückte. Jordan, der Beauftragte für jüdische Angelegenheiten der Zivilverwaltung, Thornbaum, Stütz, Rauca, Vertreter der Gestapo, mehrere andere Deutsche, ein litauischer Fliegeroffizier. Sie pflanzten sich vor den Kolonnen auf und ließen eine Kolonne nach der andern langsam vorbeiziehen.
Aus den beiden ersten wurden nur wenige ausgesucht und nach rechts befördert. Die übrigen ließ man nach links gehen. Aber schon aus den nächsten wurden mehr herausgepickt. Anfangs verstand keiner den Sinn dieser Teilung in Schafe und Böcke. Aber allmählich trat das Prinzip klar hervor: nach links kamen die Kräftigen, Arbeitsfähigen, gut Gekleideten, nach rechts die Alten, Kranken, Armen, besonders auch die mit ausgeprägt jüdischer Physiognomie.
Am eifrigsten
50
Quartier, Stadtviertel.
51
Wahrscheinlich wurden an diesem Tag, dem 26. September 1941, 1200 Menschen ermordet. (Vgl.»Hidden History«, S. 243). Möglich, daß Helene Holzman diese Aktion und die von ihr anschließend geschilderte Liquidierung des Kleinen Ghettos am 4. Oktober, bei der etwa 1800 Menschen (Helene Holzman nennt auf S. 91 die Zahl 2000) ermordet wurden, zusammengenommen hat. Der» Jäger-Bericht «beziffert die Zahl der Opfer bei diesen beiden Aktionen mit 1608 und 1845.
52
Im Text: SA-Bannerführer.
53
Hier verwirrt sich die Chronologie der Ereignisse. Das vorgetäuschte Attentat auf den deutschen Ghetto-Kommandanten Willy Koslowski diente als Vorwand für die Mordaktion vom 26. September 1941, von der Helene Holzman weiter oben (S. 88f.) schon berichtet hat. Vgl. dazu Tory, S. 60.