"Dies Kind soll leben". Helene Holzman

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biß er in sein Butterbrot, rief seinen Hund, der nach fallengelassenen Frühstücksbroten der Juden schnappte. Diese Arbeit der Teilung versetzte ihn in behagliche Stimmung. Auch den anderen Herren bereitete sie größtes Vergnügen. Die Juden begriffen, daß»rechts «etwas Böses bedeutete. Einige benutzten einen unbeobachteten Augenblick, um schon vor der Prüfung nach den» Linken«überzulaufen. Andere protestierten, wenn man sie nach rechts verurteilen wollte, zeigten ihre Handwerkerausweise oder nahmen die Protektion der jüdischen Polizeibeamten, die einen gewissen Einfluß hatten, in Anspruch.

      Gerüchte schwirrten. Die Kommission beruhigte wie immer: man brauche einen Teil für auswärtige Arbeit, Straßenbau. Es klang nicht überzeugend, denn die Ausgewählten taugten offenbar nicht zu schwerer Arbeit. Bei den nach links» Geretteten «umarmten sich Verwandte und Freunde. Man jammerte und weinte, wenn ein Teil der Familie abgetrennt wurde. So verging der ganze Tag. Allmählich bekam auch die Kommission ihre düstere Tätigkeit satt. Zuletzt wurden ganze Kolonnen geschlossen nach der einen oder der andern Seite geschickt.»Ihr werdet mir noch dankbar sein, daß ich euch von diesem Mistzeug befreie«, tröstete Rauca die Linken.

      Die Rechten wurden streng bewacht über den Viadukt ins Kleine Ghetto geführt. In der Nacht gelang es trotzdem noch manchen, überzulaufen. Auch die Wache ließ sich bestechen.»Lauft blonde Mädels!«verhalfen deutsche Wachtposten, die erstaunt waren, nicht Stürmertypen[54], sondern sehr liebliche Erscheinungen zu treffen, einigen nach der anderen Seite.

      Am nächsten Morgen führte man alle aus dem Kleinen Ghetto nach dem IX. Fort. Russische Gefangene hatten einige Zeit vorher Gruben gegraben, die sich vom Herbstregen mit Wasser halb angefüllt hatten. Man entriß den Müttern ihre Kinder und warf sie vor ihren Augen in die Gruben. Die Frauen folgten nach. Man erschoß sie mit Maschinengewehren. Sie fielen über die Kinder. Zuletzt die Männer. Wieder war für Hygiene gesorgt. Bevor die Gruben zugeschüttet wurden, bestreute man die Leichen reichlich mit calcium chloratum.

      So wurden an einem Tage 10000 unschuldige Menschen teuflisch niedergemetzelt. Mit ihnen viele andere Gefangene [und] alle Juden, die sich damals im Gefängnis befanden, darunter war auch mein eigenes Kind, meine Marie.[55]

      Die Nachricht von dieser Untat drang bald in die Stadt. Versuche der Geistlichkeit und Intelligenz, bei den deutschen Stellen vorstellig zu werden, scheiterten. Jedem Vermittler legte man» kommunistische «Absichten unter und drohte mit Bestrafung. Durch Soldaten und Partisanen, die beordert waren, bei dem grauenhaften Werk zu helfen, wurden alle Einzelheiten auch im Ghetto bekannt. Das Entsetzen, die Verzweiflung war grenzenlos, und wenn die Mörder ihnen wieder versicherten, daß es nun ganz gewiß die letzte» Aktion «gewesen sei und den Übriggebliebenen nichts geschehen werde, so gab es viele, die sich nicht mehr beruhigen ließen. Damals begannen manche, ihre Flucht aus dem Ghetto vorzubereiten.

      Es gab in Kauen[56] nicht wenig Menschen, die in tiefer Empörung über die Verbrechen waren. Aber nur wenige waren bereit, einen der Unglücklichen aufzunehmen und zu retten. Die Gestapo hatte es verstanden, die Bevölkerung einzuschüchtern. Ein Dorf mit vorwiegend russischen Bauern, bei denen sich Juden versteckt hielten, wurde niedergebrannt, die Bauern mit Familien teils erschossen, teils zur Zwangsarbeit verschickt. Man verhaftete Leute, die in die Brigaden gingen, hängte ihnen Schilder mit der ehrenvollen Aufschrift» Judenknecht «um und führte sie durch die Straßen. Wenn man einen Juden in der Stadt fand, wurde er zusammen mit dem, der ihn versteckt hielt, erschossen.

      Trotz alledem gab es Unerschrockene, die es darauf ankommen ließen. Bei Frau Dr. Kutorga, der Augenärztin, der Mutter von Viktor, lebte eine Jüdin wochenlang in der Küche, bis es mit Hilfe ihres deutschen Mannes und eines Eisenbahnbeamten, der Patient der Ärztin war, gelang, sie mit falschen Papieren nach Berlin zu expedieren, wo sie unerkannt als Deutsche weiterlebte. Frau Dr. Kutorga hielt die Beziehungen zu ihren jüdischen Kollegen ununterbrochen aufrecht. Sie trug fast täglich Lebensmittel, die ihr bäuerliche Patienten vom Lande brachten, in die Brigaden, bewahrte ihnen Wertgegenstände und half ihnen, sie zu verkaufen. Jedes Wort, das sie mit ihren Patienten, mit Bekannten sprach, war Aufklärung, gegen die Verbrecher gerichtet. Reine Menschlichkeit war jede ihrer Taten und [jedes] ihrer Worte.

      Das konnte nicht lange unverborgen bleiben. Mißgünstige Hausgenossen verklagten sie. Nachts gab es Haussuchungen, man beorderte sie zu Verhören auf die Polizei. Da sie sehr gut deutsch sprach und sie die Rolle der zu Unrecht Angeschuldigten glaubhaft spielte, ließ man sie wieder frei, nachdem sie schriftlich erklären mußte, daß sie sich künftig von jeder antideutschen Aktivität, vor allem von jeder Beziehung zu den Juden fernhalten würde. Sie unterschrieb und pflegte ihre verbotenen Beziehungen unerschrocken weiter. Wenn ich zu ihr kam, hörten wir zusammen die ausländischen Sender. Damals ging die deutsche Wehrmacht noch im Sturmschritt vorwärts. Aber wir ließen uns den Glauben nicht nehmen, daß es ein Ende haben würde mit diesen Siegen, diesen unermüdlichen Verbrechen an anderen Völkern, der Überheblichkeit, Grausamkeit, Bestialität.

      Zweites Heft

      Noch nie war der Herbst so kalt, so dunkel, so trostlos gewesen wie in diesem Jahr. Wir verrichteten mechanisch unsere Tagesarbeit. In Gretchens Dienststelle ahnte keiner, was das junge Kind mit sich trug. Ihr Verhalten, ihre Gesten waren ebenso verschwiegen wie ihr Mund. Ich sah die Zeichen, die das Leid auf ihr junges Gesicht setzte, wie sie mit jedem Tag blasser wurde. Ich wartete täglich mit Ungeduld auf ihr Kommen nach dem Dienst. War sie einmal nicht ganz pünktlich, lief ich auf die Straße, ihr entgegen. Entsetzliche Befürchtungen schnürten mir die Kehle. Dieselben Ängste überfielen sie, wenn ich einmal nicht ganz pünktlich zu Hause war. Diese Sorge umeinander, die immerwährende Furcht, daß wir auseinandergerissen werden könnten, verließ uns keine Stunde. Sie blieb. Sie hielt uns ständig in Atem, bestimmte unser Denken und Tun.

      So glaubten wir, daß es für Grete besser wäre, statt in einem privaten Übersetzungsbüro lieber in einer öffentlichen Dienststelle zu arbeiten. Ich vertraute mich einem der Generalräte an, von dem ich wußte, daß er trotz seiner hohen Stellung ein leidenschaftlicher Feind der Nazis war.[57] Er nahm Grete als Privatsekretärin in seine Behörde auf und versprach, sie unter seinen besonderen Schutz zu stellen.

      Ein paar Tage waren wir beruhigt, aber da fingen ihre Kollegen zu tuscheln an. Sie fragten herausfordernd, wer und wo ihr Vater sei.»Etwa im Ghetto?«rätselte ein platinblondes, impertinentes Fräulein, und der Übersetzer Bukauskas erging sich in allgemeinen Antisemitismen. Der Generalrat, der in der letzten Zeit ständig in schwerem Alkoholrausch stand, hatte das Geheimnis verraten.

      Nach einer Woche kam Gretchen noch bleicher als sonst nach Hause.»Es ist aus mit uns. Alle wissen über mich Bescheid. Alle sprechen darüber. Der Generalrat will mit dir sprechen. «Sie war so erregt, so schwach, daß sie nicht essen konnte. Wir ließen unsere Suppe stehen und suchten den Generalrat in seiner Privatwohnung [auf], die sich im Hause seiner Behörde befand. Er zog uns in seine Stube.

      «Es steht schlecht mit euch. Die Polizei sucht euch. Ihr könnt hier nicht bleiben, ihr müßt fliehen. Bleibt vorläu-fig bei mir, hier wird euch niemand suchen. «Der Rat schrieb einen Brief an seine Geschwister, die im Memelgebiet[58] in einem einsamen Walde ein Gut hätten. Dort sollten wir uns versteckt halten. Seine Geschwister seien einfache Bauern. Aber, sagte er gleich, sie würden uns nur gegen gute Bezahlung aufnehmen. Ich sagte ihm, daß ich kein Geld hätte, nur die goldene Uhr meines Mannes und einige Schmuckgegenstände. Ich solle ihm alles bringen, er werde uns dafür Geld schicken. Wir blieben die Nacht bei ihm, lagen angekleidet zusammen auf dem großen Bett, und Gretchen schlief an meiner Seite sofort ihren tiefen Kinderschlaf. Der Rat schlummerte auf dem Lehnstuhl.

      In der Nacht stand er leise auf, schlüsselte an einem Schränkchen. Gretchen schreckte auf. Vielleicht will er uns vergiften, damit wir von unserer Qual befreit werden? Aber nein, im Schränkchen standen verschiedene Flaschen, Cognac, Rum. Er trank, trank und trank wieder. Er bot jedesmal auch mir an. Ich begoß mit meinem Gläschen unbemerkt den verkümmerten Blumentopf auf dem Schreibtisch. Er erzählte von seinem Leben, wie er früher Priester gewesen sei und später geheiratet habe. Und dann beschrieb


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<p>54</p>

Gemeint ist das Stereotyp des knollennasigen, unter dicken Augenbrauen und schwarzem Kraushaar verschlagen hervorblickenden» Juden«, das vor allem vom» Stürmer«, dem von Julius Streicher herausgegebenen antisemitischen» Deutschen Wochenblatt zum Kampfe um die Wahrheit«, aber auch von anderen Zeitungen der Nazizeit in unzähligen Karikaturen verbreitet wurde.

<p>55</p>

Vgl. hierzu die im Anhang, S. 348, zitierte Tagebucheintragung Elena Kutorgas vom 31. Oktober 1941.

<p>56</p>

Helene Holzman benutzt hier ausnahmsweise einmal den von der deutschen Besatzungsmacht verwendeten Namen für Kaunas.

<p>57</p>

Das im August 1941 gegründete Kollegium der Generalräte war das oberste Organ der litauischen» Selbstverwaltung «während der deutschen Besetzung. Vorsitzender war Petras Kubiliunas. Der Generalrat, dem sich Helene Holzman anvertraute, war Vladas Jurgutis.

<p>58</p>

Der nördlich der Memel (russisch: Njemen – litauisch: Nemunas) und des Rus gelegene Teil Ostpreußens kam mit der größten Stadt Memel (litauisch: Klaipeda) nach dem Ersten Weltkrieg unter französische Mandatsverwaltung und wurde 1923 von Litauen annektiert. Im März 1939 erzwang das Deutsche Reich die Rückgabe. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Memelgebiet der Litauischen Sowjetrepublik angegliedert und gehört heute zu Litauen.