"Dies Kind soll leben". Helene Holzman

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Deutschen Pflicht, sich nicht zu verschließen und die Kraft zu haben, die Schuld auf sich zu nehmen, damit sie gesühnt werde.

      Der Verkehr der deutschen Stellen mit dem Ghetto vollzog sich über den von den Juden gewählten Ältestenrat.[48]Zu Verhandlungen ließ man den Vorsitzenden Dr. Elkes oder einen Stellvertreter in die Stadt kommen. Bei diesen Aussprachen wurden die Vertreter der Juden mit korrekter Höflichkeit behandelt. Bitten, Einwände, Fürsprachen wurden gewissenhaft angehört, und man ließ sich oft herbei, sich von Maßnahmen betreffs des Ghettos etwas abhandeln zu lassen. Sie verhielten sich menschlich zu den unmenschlichen Anordnungen, und gerade in diesem Zynismus enthüllte sich ihre teuflische Gesinnung.

      Mitte September wurden circa 5000»Handwerkerausweise«[49] ausgegeben, die durch das Komitee verteilt wurden. Sie wurden in erster Linie Spezialisten, Männern und Frauen, aber auch andern arbeitskräftigen Personen, darunter auch einige Ärzte, gegeben, aus denen die Arbeitsbrigaden formiert wurden. Aus den Städten der Provinz waren einzelne den Massenmorden entgangen und hatten sich in das Kaunaer Ghetto geflüchtet. Durch diese wurden die Greueltaten in allen Einzelheiten bekannt, und man erwartete täglich ein gleiches Schicksal. Die Handwerkerausweise wurden als eine gewisse Sicherung angesehen. Die Deutschen ließen durchblicken, daß man die Inhaber und ihre Familien verschonen werde. Jeder bemühte sich deshalb, eine solche Ausweiskarte zu bekommen.

      Am 17. September, wenige Tage nach der Verteilung der Handwerkerausweise, wurde früh um sechs Uhr das sogenannte» Kleine Ghetto «von litauischen Partisanen umzingelt und mit Maschinengewehren umstellt. Das Kleine Ghetto war der Teil jenseits der Paneriu-Straße, einer Hauptverbindungsstraße in die Provinz, auf die man im öffentlichen Verkehr nicht verzichten wollte und die man deshalb mit einem Viadukt überbrückt hatte, der die Verbindung zwischen den beiden Ghettos herstellte. Im Kleinen Ghetto wohnten ungefähr 3000 Einwohner. Dort befanden sich das Waisenhaus, das Krankenhaus und andere soziale Institutionen.

      Die Partisanen gingen von Haus zu Haus, holten die Leute aus den Betten und befahlen allen, sich auf dem großen Platz zu versammeln. Man ließ vielen nicht einmal Zeit, sich anzukleiden. Nicht einer durfte zurückbleiben; Kranke wurden getragen. Auf dem Platz wurden sie von deutschen Soldaten unter Leitung von Thornbaum in Gruppen eingeteilt, und man begann sie zum IX. Fort, das circa eine halbe Stunde hinter dem Ghetto liegt, zu treiben. Einen Tag vorher hatte sich schon herumgesprochen, daß russische Kriegsgefangene auf dem Fort lange Gruben geschaufelt hatten, deren Bedeutung nach den Ereignissen in der Provinz eindeutig war. Allen war klar, daß sie von diesem Weg nicht zurückkehren würden, und diesmal bemühten sich die Henker nicht, Illusionen zu wecken. Auf dem Platz waren Filmapparate aufgestellt, die unaufhörlich arbeiteten.

      Da erschien plötzlich ein Auto auf dem Platz. Es entstieg ihm ein höherer Offizier mit einem Zettel in der Hand. Nach kurzer Verhandlung mit dem Leiter der Aktion, Thornbaum, wandte sich der Offizier an die Versammelten mit den Worten:»Die Aktion ist abgeblasen. Ihr könnt der deutschen Wehrmacht danken, daß sie euch das Leben schenkt. «Das Wort» abgeblasen «ging von Mund zu Mund. Da es ein solches Wort auf jiddisch nicht gibt, verstanden es viele nicht gleich. Aber allen wurde sofort offenbar, daß es eine gewaltige Zauberkraft hatte. Die Gruppen, die sich schon auf dem Wege befanden, wurden zurückgeholt, die Filmtechniker stellten die Kurbeln ab, und alle wurden mit einem Gleichmut, als wenn es sich um einen verregneten Spaziergang handelte, beordert, nach Hause zu gehen.

      Jordan versicherte nach diesem Ereignis dem Komitee, daß keine» Aktionen «mehr vorkommen würden, und die Juden waren naiv genug, es ihm zu glauben. Gerade, daß die Aktion» abgeblasen «wurde, nahmen sie für ein Zeichen, daß die deutsche Wehrmacht sich für sie eingesetzt und aus Gründen der Menschlichkeit eine prinzipielle Änderung erwirkt hatte. In Wirklichkeit wird der Grund wahrscheinlich rein praktischer Art gewesen sein: Man brauchte Arbeitskräfte und wollte der jüdischen Sklaven nicht entraten.

      Der größte Teil der jüdischen Arbeitenden wurde auf dem Aerodrom beschäftigt, damals etwa 1200 Männer und 500 Frauen. Sie hatten zur Arbeitsstätte einen weiten Weg zurückzulegen. Früh war gegen halb sechs Uhr Appell. Sie mußten oft über eine Stunde in Dunkelheit und Morgenkälte stehen, ehe sich der Zug in Bewegung setzte. Der Weg ging über die Vilijabrücke durch die belebtesten Straßen der Altstadt, an den beiden Marktplätzen vorbei, über die große Njemenbrücke und dann den Berg zum Flugplatz hinauf. Jüdische Polizei, durch eine Armbinde gekennzeichnet, war für die Ordnung verantwortlich. Jede der dunklen Gestalten war auf Brust und Rücken mit einem gelben Stern gezeichnet, die im spätherbstlichen Dämmer aus den Zügen herausleuchteten.

      Es war bitter, zu sehen, wie schnell sich die städtische Bevölkerung an das ergreifende Bild gewöhnte und völlig gleichgültig an den Gezeichneten vorüberging. Warum empörten sie sich nicht gegen diese hohnvolle Mißachtung jeder Menschenwürde? Warum duldeten sie nur diese Schande, diese Niedertracht? Im Gegenteil, die Deutschen hatten ganz richtig spekuliert. Auch der erbärmlichste Litauer war ein gehobener Mensch im Vergleich zu den Juden, und die deutsche Verwaltung konnte sich manche Härten gegen die Litauer erlauben, weil sie milde erschienen gegen die Grausamkeiten, die sie den Juden antat.

      Und dennoch gab es viele, nicht nur unter der Intelligenz, die ihr Teil dazu beitrugen, den Unglücklichen ihr Los zu erleichtern. Wenn wir am späten Nachmittag an der Njemenbrücke die Heimkehrenden abpaßten, standen dort jedesmal schon einige Frauchen mit Handtaschen und lauerten wie wir, sich ängstlich umsehend, bis die Erwarteten endlich herankamen. Viele von ihnen kannten uns. Sie grüßten unauffällig. Endlich kamen auch unsere Freunde. Vor den jüdischen Posten hatten wir keine Angst, aber unter den deutschen Soldaten, die den Zug flankierten, gab es gefährliche. Die meisten allerdings duldeten diese verbotenen Beziehungen, und fast immer gelang es, schnell unsere Päckchen und Briefchen abzugeben. Zum Miteinandersprechen war niemals Zeit. Erst viel später erfuhren wir Einzelheiten über das Leben auf dem Flugplatz.

      Es wurde dort in drei Schichten gearbeitet, Tag und Nacht, ohne Unterbrechung. Zwei deutsche Baufirmen waren die Unternehmer des Flughafenbaus. Die Juden wurden zu allen untergeordneten physischen Arbeiten verwendet. Sie mußten Steine tragen, den Boden planieren, Wäsche waschen, Waggons ausladen. Die Meister der Baufirmen waren harte, herzlose Leute, die die Arbeit zur Sklavenfron herabdrückten. Die Tagesleistung wurde mit 50 Pfennig entlohnt, ein Hohn bei den damals herrschenden Lebensmittelpreisen (Butter und Speck 20 bis 25 Reichsmark pro Kilo). Während der ersten Monate bekamen sie dort nichts zu essen, im Winter wurden Küchen eingerichtet. Die Produkte wurden geliefert.

      In so einer Küche arbeitete auch meine Lyda und hatte so wenigstens einige Stunden täglich einen warmen Platz. Edwin war auch auf dem Flugplatz, als Sanitäter. Die» Küche «war ein Schuppen mit einem eisernen Herd. Dort waren etwa dreißig Frauen mit den Vorbereitungen der Mahlzeit beschäftigt. Das Essen wurde in großen Kesseln dreimal täglich für circa je 1500 Personen gekocht. Die Kessel standen außerhalb der Küche im Freien, mit einem Bretterdach überdeckt. Der Lehmboden um Schuppen und Kessel war vom Regen aufgeweicht. Nach Arbeitsschluß mußten alle in Brigaden geordnet den Modder durchwaten, um am Kessel in ihrem mitgebrachten Eßnapf einen Schlag Suppe zu empfangen.

      Sie waren erfroren und todmüde, dennoch gab es jedesmal Krawall. Einer wollte zu wenig bekommen haben, andere waren unzufrieden, daß man ihnen nur Brühe, aber kein Fleisch und Kartoffeln eingeschöpft hätte. Die deutschen Posten, die selber müde und mißgestimmt waren, trieben zur Eile, schlugen mit dem Gewehrkolben und hetzten: Schneller, schneller! Manchmal war ihre Rauheit nur äußerlich. Oft riefen sie die Arbeitenden an die Schuppenwand, um beim Essen gegen den Wind geschützt zu sein, [oder] zum Feuer, damit sie sich erwärmten, und hatten tiefes Verständnis dafür, daß man so wenig als irgend möglich arbeitete. Die Meister der Baufirmen dagegen waren hinterher, daß möglichst viel geleistet wurde. Sie schlugen die Säumigen erbarmungslos und zwangen [sie] zu ägyptischer Fron und Knechtschaft.

      Auch russische Gefangene arbeiteten auf dem Aerodrom, schweigend und schwach vor Hunger. Gelegentlich mußten Juden, die fast alle Deutsch und Russisch verstehen, Dolmetscher spielen. So arm und elend sie waren, sahen sie in den Russen die noch Bedürftigeren, und manches mitgebrachte Stück Brot ließen sie heimlich in die Hände der Gefangenen gleiten.

      Zog die Nachtschicht im trüben


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<p>48</p>

Der Ältestenrat wurde auf deutschen Befehl als Instrument der inneren Selbstverwaltung am 4. August 1941 gebildet. Zum Vorsitzenden wählten die Vertreter der jüdischen Gemeinde von Kaunas den angesehenen Arzt Elchanan Elkes. Dem Ältestenrat gehörte auch Avraham Tory (Golub) an, dessen Tagebuch,»Surviving the Holocaust. The Kovno Ghetto Diary«, eine besonders aufschlußreiche Quelle für die Geschichte des Kaunaer Ghettos ist.

<p>49</p>

Sie wurden auch» Jordan-Scheine «genannt, nach dem deutschen Referenten für Judenfragen in Kaunas, Fritz Jordan, der sie einführte.