"Dies Kind soll leben". Helene Holzman

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abzuringen, daß sie kaum gewahr wurden, was unterdessen mit einem Drittel der städtischen Bevölkerung, den 45000 Juden, geschah.

      Die Umzugswagen fuhren von der Stadt über die Vilijabrücke nach dem Ghetto. Den Armen wurden von Reicheren Mittel für eine Fuhre zur Verfügung gestellt. Viele gingen mehrmals am Tage hin und zurück, um ihren Kram herüberzubringen. Aber jeder Brückenübergang war eine Gefahr. Man fing dort täglich Juden, um sie für verschiedene Arbeiten zu brauchen, zum Räumen von Schutt von bombenzerstörten Gebäuden, zum Reinigen von Kloaken, zum Verscharren gefallener Tiere und anderen unsauberen und schweren Arbeiten. Die Ostjuden entsprachen absolut nicht der allgemeinen Vorstellung der Deutschen. Sie waren ein gesundes, kräftiges und fröhliches Volk. Die Jugend war sportlich geschult, kannte keine Ausschweifung und Trunksucht. Die Deutschen staunten häufig über körperliche Kräfte und Ausdauer, die ihren Vorurteilen über die Juden nicht entsprachen.

      Die Juden waren entrechtet, vogelfrei. In den Umzugswochen wurden Hunderte ohne jeden Grund ins Gefängnis geschleppt, in ihren alten oder neuen Wohnungen ausgeraubt und ermordet, geschlagen und gepeinigt. Den deutschen Soldaten wurde von ihren Vorgesetzten eingeschärft, daß sie mit ihnen nicht wie mit Mitmenschen zu verkehren hätten, sondern sie nur wie Sklaven zur Arbeit zu treiben hätten. Trotzdem gab es unter den Offizieren und den einfachen Soldaten manche, die sich den Verordnungen widersetzten, sie abmilderten und das Ihre taten, um den Juden ihr entsetzliches Los zu erleichtern.

      Ein deutscher Offizier nahm sich einmal einer schwangeren Jüdin an, die in einem Laden in der Reihe stand und vom Pöbel verdrängt wurde, indem er vom Verkäufer verlangte, daß man sie vor den andern bediene. Als die junge Frau ihm danken wollte, verschwand er mit kurzem Gruß. Die Menge gaffte verwirrt.

      Die Frage der Halbjuden und der Juden fremder Staatsangehörigkeit war vorläufig ungeklärt. Wir waren in besonderer Sorge um ein junges Musikerehepaar, im Alter zwischen uns und den Kindern stehend und mit uns allen vier seit Jahren gleichermaßen befreundet. Edwin Geist war Berliner: Komponist, Dirigent und Pianist. In den ersten Jahren des nationalsozialistischen Regimes hatte er sich als Halbjude halten können. Er hatte als Mitglied des deutschen Musikerverbandes die besten Empfehlungen, und eine Oper von ihm erlebte 1934 ihre Erstaufführung in Berlin. Als sich die antisemitischen Gesetze mit den Jahren verschärften, wurde er allmählich überall verdrängt. Bei einem Besuch bei seinen Freunden in Kaunas lernte er seine Frau kennen. Nach einem Jahr kam er wieder, heiratete sie und blieb hier. Der wohlhabende Schwiegervater war sehr unzufrieden über die Ehe seiner Tochter mit einem armen Künstler, wollte nichts geben, und da ein litauisches Gesetz Ausländern jeden Broterwerb verbot, mußten sie sich durch Musikstunden ein sehr kärgliches Brot verdienen.

      Der Nationalsozialismus warf seine Schatten auf die kleinen Nachbarländer. Es wimmelte von Agenten, und man verschärfte die Maßnahmen gegen die Ausländer. Sie durften nicht mehr in Kaunas wohnen, und so wurde auch unser unschuldiger Edwin gezwungen, sich ein Zimmer in einem kleinen Städtchen zu nehmen. Es war ein mühsames Leben, das die beiden führten, ein schwerer Kampf um das tägliche Brot. Die hiesigen Musiker verkannten den originellen Künstler. Sie sahen in ihm nur den Ausländer und Sonderling. Dazu kam noch die Angst vor der Polizei, denn meistens blieb Edwin illegal in der Stadt bei seiner Frau oder auch bei uns.

      Die Einreihung Litauens in die Sowjetrepublik 1940 machte den Sondergesetzen für die Ausländer ein Ende. Man wertete die Menschen nicht mehr nach ihrer Nationalität, sondern nach ihrer Leistung. Edwin Geists Kompositionen wurden im Radio aufgeführt, eine begabte Sängerin sang seine Lieder, er dirigierte ein Konzert in Wilna, und man hätte ihm dort oder in Kaunas gern eine feste Stellung als Dirigent gegeben, wenn er imstande gewesen wäre, eine der Landessprachen, Litauisch, Russisch oder Polnisch, zu erlernen. Er sprach aber nur sein kräftiges Berlinisch, gespickt mit derben und skurrilen Ausdrücken. Als echte Künstlernatur war er Genießer, freute sich mächtig, wenn man ihn gut bewirtete, und wurde bei Wein und gutem Essen so witzig und unterhaltend, daß er die ganze Gesellschaft ansteckte. Aber wehe, wenn ihm die Gesellschaft nicht gefiel, wenn irgend etwas sein subtiles ästhetisches Gefühl störte. Dann konnte er einen ganzen Abend trübe vor sich hinstarren und der liebenswürdigen Wirtin, die ihn zum Tanzen aufforderte, brüsk den Rücken kehren.

      Er wohnte mit seiner Frau Lyda in einem unschönen, einfenstrigen Zimmer, das ganz vom Klavier ausgefüllt zu sein schien. War er bei Stimmung, so spielte er aus seiner Oper vor, sang alle Rollen, erklärte und mimte dazwischen, und seine junge, schöne Lyda mußte mitspielen. Sie war auch Pianistin und war, wie es Gott von der ersten Frau, die er geschaffen, verlangt hatte, eine wahre Gehilfin ihres Mannes.

      Dieses eine glückliche Jahr, das zwar wenig Erfüllung gebracht hatte, aber voll blühender Ansätze und hoffnungsvoller Träume gewesen war, [ging] zu Ende. Lydas Vater war in den ersten Tagen der Okkupation von den Häschern ergriffen worden und seitdem verschwunden. Lyda wollte die verzweifelte Mutter nicht allein lassen, verbrachte den halben Tag bei ihr. Was sollte aus ihnen werden? Edwin als Reichsdeutscher[29] und Halbjude würde vielleicht nicht dem Ghettogesetz unterstehen. Lyda redete ihm zu, hierzubleiben. Es werde ihr leichter, allein, als mit ihm zusammen, das schreckliche Los auf sich zu nehmen. Sie kam zum erstenmal mit dem gelben Stern zu uns. Marie umarmte sie zärtlich, tröstete sie, sie solle ihren Edwin nur unserer Fürsorge überlassen. Wir besuchten sie oft.

      Am 3. August war Sonntag. Wir beschlossen, noch einmal zu dritt in unsern Wald zu gehen. Wir wollten Beeren für Edwin und Lyda suchen. Das Wetter war dunstig, als ob es regnen würde, ganz windstill, schwül. So hielt es sich den ganzen Tag. Wir suchten wieder mehrere Körbchen voll. Mittags fielen ein paar Tropfen, dann hellte es sich auf.»Das ist eine gute Vorbedeutung«, sagte Marie, und auf dem Nachhauseweg führten wir wieder unser Lieblingsgespräch: Wir dachten uns die Welt aus, die vom» Gesetz des Guten «regiert würde, und wie jeder Mensch darin seinen richtigen Platz finden würde, ohne daß Zwang und Strafe nötig sei.

      Marie ging noch gegen Abend zu Geists und brachte ihnen ein Körbchen Erdbeeren, Himbeeren und Heidelbeeren gemischt. Es duftete herrlich. Als sie nach Hause kam, schalt ich sie, daß sie so spät gekommen. Marie versprach, keinesfalls wieder nach neun Uhr zu kommen. Ich solle ihretwegen keine Sorgen haben.

      «Der Dienst im Büro ist langweilig«, erklärte sie immer nach Kontorschluß. Wenn sie doch eine andere Arbeit finden könnte. Sie wollte so gern Krankenschwester werden oder studieren. Ich vertröstete sie auf später.»Jetzt müssen wir uns möglichst unscheinbar machen. Ihr seid beide jung und werdet noch bessere Zeiten erleben. «Wir saßen an diesem Abend noch lange zu dritt auf dem Balkon und sprachen vertraut und innig miteinander.

      Am nächsten Tag ging Marie am Nachmittag wieder fort. Sie habe eine Verabredung mit ihrer Kollegin Nina, der sie deutsche Stunden gebe. Es wurde Abend. Marie war noch nicht zurück. Schon nach neun. Ich stand am Pfosten des Gartentors, sah nach rechts und links, lief die Straße herauf und herunter. Gretchen kam dazu. Das Warten wurde immer angstvoller. Sie hatte so fest versprochen, nicht spät zu kommen. Es wurde allmählich dunkel. Von fern kam eine eilige, helle Gestalt die Straße herauf – nein, sie ist es nicht. Immer weniger Menschen gingen. Wir sahen schon nicht mehr viel, hörten nur gespannt auf sich nahende Schritte. Es schlug zehn. Nach zehn Uhr war strenge Polizeistunde. Noch eine Viertelstunde warteten wir, dann gingen wir schweigend ins Haus.

      Qualvolle Nacht, qualvoller Tag. Ich ging am nächsten Morgen in ihre Dienststelle. Niemand wußte etwas. Marie sei am gestrigen Nachmittag nicht bei ihr gewesen, sagte Nina. Ich bat den Direktor, die Polizei anzurufen. Er lehnte kühl ab. Er wolle damit nichts zu tun haben. Ich lief zu Maries Freunden. Keiner hatte sie gesehen.

      Am nächsten Morgen ging ich in das litauische Polizeipräsidium. Mußte lange in einem Vorzimmer warten, bis ich vorgelassen wurde. Ein junger Beamter blätterte in einer Liste. Ja, vorgestern, am 4. August, sei Marie Holzman verhaftet und ins Gefängnis eingeliefert worden. Er versuchte mich zu beruhigen. Es würden jetzt viele verhaftet und, falls nichts vorläge, wieder freigelassen. Allerdings, wenn sie dem Komsomol angehört habe, so sei das schon schlimmer. Ich solle ihr aber jedenfalls morgen, Donnerstag, etwas zu essen bringen.

      So schrecklich die Tatsache war, so war ich doch etwas durch den freundlichen Beamten beruhigt. Nun wußte ich doch wenigstens, wo sie meine Gedanken finden konnten. Ich eilte, um auch Gretchen


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<p>29</p>

Vgl. Anm. 5 über den Begriff» Volksdeutsche«.