Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo Tolstoi

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Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi - Leo Tolstoi


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Spottes darüber, daß Marie das letzte Mittel anwandte, um seine Gefühle zu erwecken.

      »Ja, ich freue mich sehr darüber«, sagte er. »Ist er gesund?«

      Als Nikolai hereingeführt wurde, blickte er erschrocken, aber ohne zu weinen, seinen Vater an. Fürst Andree küßte ihn, schien aber nicht zu wissen, was er mit ihm reden solle. Als Nikolai hinausgeführt wurde, näherte sich Marie noch einmal ihrem Bruder, küßte ihn und war nicht mehr imstande, ihre Tränen zurückzuhalten.

      Er blickte sie durchdringend an. »Weinst du über Nikolai?« fragte er.

      Sie nickte bejahend.

      »Marie, du kennst das Evangelium –« Er schwieg plötzlich wieder.

      »Was sagst du?«

      »Nichts! Du mußt hier nicht weinen«, erwiderte er mit demselben kühlen Blick.

      Als Marie zu weinen begann, begriff er, daß sie über Nikolai weinte, der bald ohne Vater zurückbleiben werde. Mit großen Augen bemühte er sich, zum Leben zurückzukehren und den Standpunkt desselben einzunehmen. »Das muß ihnen traurig erscheinen«, dachte er, »aber wie einfach ist das alles. Die Vögel unter dem Himmel säen nicht und ernten nicht, und der himmlische Vater ernährt sie doch«, sagte er zu sich selbst, er wollte das auch seiner Schwester sagen, »doch nein«, dachte er, »sie fassen das auf ihre Weise auf und verstehen mich nicht! Sie können nicht verstehen, daß alle jene Gefühle, die ihnen teuer sind, alle jene Ideen, die ihnen so wichtig erscheinen – überflüssig und nutzlos sind. Wir können einander nicht mehr verstehen.«

      Der kleine Nikolai war sieben Jahre alt, verstand kaum zu lesen und wußte nichts. Er hat nach jenem Tag viel erlebt und Kenntnisse, Beobachtungsgabe und Erfahrungen erworben, aber wenn er damals auch alle später erworbenen Fähigkeiten besessen hätte, so hätte er doch nicht deutlicher die ganze Bedeutung jener Szene zwischen dem Vater, der Tante Marie und Natalie begreifen können, deren Zeuge er gewesen war, als er sie damals begriff. Er hatte alles verstanden. Ohne zu weinen, verließ er das Zimmer, schweigend ging er zu Natalie, welche ihm nachfolgte, und blickte sie mit seinen gedankenvollen, schönen Augen an. Seine Oberlippe zuckte, er schmiegte seinen Kopf an sie und weinte.

      Von diesem Tag an vermied er Desalles und die Gräfin, die ihn liebkoste. Entweder saß er allein oder er ging schüchtern zur Tante Marie, oder auch zu Natalie, welche er noch mehr zu lieben schien als seine Tante.

      Als Marie ihren Bruder verließ, wußte sie, was ihr Natalies Blick gesagt hatte. Sie sprach nicht mehr mit ihr von der Hoffnung auf Genesung, sie löste sich mit ihr ab an seinem Diwan und weinte nicht mehr, beständig aber betete sie zu jenem Ewigen, dessen Gegenwart über dem Sterbenden jetzt so fühlbar war.

      220

       Inhaltsverzeichnis

      Fürst Andree wußte nicht nur, daß er sterben würde, sondern er fühlte auch schon, daß er sterbe und schon halb gestorben war, er fühlte sich schon allem Irdischen fremd und erwartete ruhig, was ihm bevorstand.

      Jenes Drohende, Ewige, Unbekannte und Fernstehende, dessen Gegenwart er während seines ganzen Lebens beständig empfunden hatte, war ihm jetzt so nahe.

      Früher hatte er sich vor dem Ende gefürchtet, zweimal hatte er das schreckliche, quälende Gefühl der Todesfurcht empfunden, jetzt aber empfand er dieses nicht mehr.

      Das erstemal hatte er jenes Gefühl damals kennengelernt, als die Granate sich wie ein Kreisel vor ihm drehte, während er das Feld, den Himmel, die Gebüsche ansah und wußte, daß vor ihm der Tod lag. Als er nach seiner Verwundung erwachte und in seiner Seele jene Blüte der ewigen, von diesem Leben unabhängigen Liebe erwuchs, fürchtete er nicht mehr den Tod und dachte nicht mehr an ihn. Je mehr er sich in jenen Stunden des einsamen Leidens und des Fieberwahns nach seiner Verwundung in die ihm neu entdeckte Grundlage der ewigen Liebe hineindachte, desto mehr entfernte er sich, ohne es selbst zu fühlen, von dem irdischen Leben. Alles und alle zu lieben, sich immer für die Liebe aufzuopfern, bedeutete jetzt, niemand zu lieben und nicht in diesem irdischen Leben zu existieren, und je mehr er in diesen Anfang der Liebe eindrang, desto mehr entfremdete er sich dem Leben und um so vollständiger vernichtete er jene schreckliche Grenze, welche zwischen Leben und Tod steht, wenn wir keine Liebe haben. In jener ersten Zeit, wenn er daran dachte, daß er sterben müsse, sagte er sich selbst gleichmütig: »Was liegt daran? Um so besser!«

      Aber nach jener Nacht in Mitischtschi, als während der Fieberglut sie vor ihm erschien, nach der er sich gesehnt hatte, und als er ihre Hand an seine Lippen drückte und stille Freudentränen weinte, stahl sich die Liebe zu einem weiblichen Wesen unmerklich in sein Herz und verband ihn wieder mit dem Leben, und freudige und sorgenvolle Gedanken suchten ihn wieder heim. Wenn er sich aber jener Stunde auf dem Verbandsplatz erinnerte, als er Kuragin erblickt hatte, konnte er jetzt nicht mehr zu jenem Gefühl zurückkehren, jetzt quälte ihn die Frage, ob er am Leben geblieben sei, und er wagte nicht danach zu fragen.

      Seine Krankheit nahm ihren physischen Verlauf. Es war nicht etwas Besonderes gewesen, was nach Natalies Meinung vor zwei Tagen mit ihm vorgegangen war, es war nur der letzte innere Kampf zwischen dem Leben und dem Tod, in welchem der Tod siegte. Es war die Erkenntnis dessen, daß er noch am Leben hing, das sich ihm in Gestalt der Liebe zu Natalie zeigte, und ein letzter Anfall von Schrecken vor dem Unbekannten.

      Es war am Abend. Wie gewöhnlich am Nachmittag befand er sich in einem leichten Fieberzustand und seine Gedanken waren außerordentlich klar. Sonja saß am Tisch. Er schlummerte, plötzlich empfand er ein Gefühl des Glücks.

      »Ah, sie ist hereingekommen«, dachte er, und wirklich saß an der Stelle Sonjas Natalie, die soeben mit unhörbaren Schritten eingetreten war. Seit der Zeit, wo sie zu ihm kam, hatte er immer jenes physische Gefühl ihrer Nähe empfunden.

      Sie saß in einem Lehnstuhl, die eine Seite ihm zugewendet, um ihm das Kerzenlicht zu verdecken, und strickte einen Strumpf. Sie hatte stricken gelernt, als Andree ihr einmal gesagt hatte, niemand verstehe so die Kranken zu pflegen als die alten Ammen, welche Strümpfe stricken, und in dem Stricken liege etwas Beruhigendes. Als sie eine Bewegung machte, fiel das Knäuel von ihren Knien herab. Erschrocken fuhr sie zusammen, blickte sich um, verdeckte die Kerze mit der Hand, bog sich mit einer vorsichtigen, gewandten Bewegung herab, hob das Knäuel auf und nahm wieder ihren früheren Sitz ein.

      Er blickte sie an, ohne sich zu rühren, und bemerkte, daß sie nach dieser Bewegung tief aufatmen mußte, dies aber nicht wagte und vorsichtig den Atem einzog.

      »Sie schlafen nicht?« sagte sie, als sie eine leise Bewegung vernahm.

      »Nein, ich sehe schon lange nach Ihnen, ich habe es gefühlt, als Sie eintraten. Mit Ihnen kommt immer die Stille … das Licht.«

      Natalie rückte mit freudig strahlendem Gesicht nahe zu ihm.

      »Natalie, ich liebe Sie zu sehr, mehr als alles auf der Welt, und ich …«

      Sie wandte sich ab. »Warum zu sehr?« fragte sie.

      »Warum? Nun, wie denken Sie, werde ich am Leben bleiben?«

      »Ich bin überzeugt davon!« rief Natalie hastig und umfaßte ihn leidenschaftlich.

      Er schwieg.

      »Wie schön wäre es!« Er küßte ihre Hand.

      Natalie befand sich in freudiger Erregung, erinnerte sich aber sogleich, daß er Ruhe nötig habe.

      »Aber Sie haben nicht geschlafen, Sie müssen einschlafen. Geben Sie sich Mühe!« sagte sie.

      Sie ließ seine Hand mit leichtem Druck los, ging zu der Kerze und setzte sich wieder auf ihren früheren Platz. Zweimal blickte sie sich nach ihm um, seine Augen blickten glänzend nach ihr hinüber. Sie stellte sich selbst eine Aufgabe an ihrem Strumpf und nahm sich vor, sich vor Beendigung derselben nicht umzusehen.

      Wirklich schloß er bald darauf die Augen und schlief ein. Aber nach kurzer Zeit erwachte er in


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