Gesammelte Werke. George Sand
Читать онлайн книгу.mit allem Vertrauen der Welt daran glaubte. Gewiss ist soviel, dass sein junges Herz schon jene streitenden Gefühle und jene verworrenen Regungen in sich spürte, die übersättigten Menschen das Innere bestürmen und zerreißen.
Heftigen Begierden Preis gegeben, vergnügungssüchtig, nur das liebend was ihn glücklich machte, aber alles was sich seinen Freuden entgegenstellte hassend und fliehend, durch und durch eine Künstlernatur d. h. die das Leben mit einer erschreckenden Heftigkeit sucht und schmeckt, fand er, dass seine Liebsten ihm von Passionen die ihn in der Tat nicht tief ergriffen hatten, alle Leiden und Gefahren dennoch auferlegten. Er besuchte sie nun wohl von Zeit zu Zeit, wann ihn sein Verlangen trieb, ward aber immer wieder abgestoßen durch Sättigung und Unlust. Und als dieser seltsame Knabe so seine Seelenkraft ideallos und unwürdig vergeudet hatte, empfand er das Bedürfnis eines sanften Umgangs und eines keuschen, heiteren Ergusses. Er hätte schon wie Jean Jacques sagen können: »So wahr ist es, dass das was uns am meisten an die Frauen fesselt, weniger die Wollust ist, als eine gewisse Anmutigkeit des Lebens an ihrer Seite.«
Ohne nun sich Rechenschaft zu geben über das was ihn zu Consuelo hinzog, – für das Schöne hatte er noch keinen Sinn und unterschied nicht, ob sie hässlich oder hübsch war, – Kind genug um sich mit ihr an Spielereien unter seinem Alter zu vergnügen, Mann genug, um ihre vierzehn Jahre aufs gewissenhafteste zu achten, führte er mit ihr, auf offener Gasse, auf den Marmorfliesen und den Kanälen Venedigs, ein ebenso glückliches, ebenso reines, ebenso verborgenes und fast ebenso poetisches Leben wie Paul und Virginie unter den Pompelmusen ihrer Wildnis. Sie hatten eine größere und gefährlichere Freiheit als diese Kinder, keine Familie, keine wachsamen, zärtlichen Mütter die sie zur Tugend erziehen konnten, keinen treuen Diener der sie abends gesucht und heimgeleitet hätte, nicht einmal einen Hund, um sie vor Gefahr zu warnen; aber sie taten dennoch keinerlei Fall.
Sie kreuzten auf den Lagunen in offener Barke, zu jeder Stunde und bei jedem Wetter, ohne Ruder, ohne Steuermann; sie streiften auf den Morästen ohne Führer, ohne Uhr und unbesorgt um die kehrende Flut; sie sangen vor den geschmückten Kapellen unter der Vigne an den Straßenecken, ohne an die späte Tagesstunde zu denken und brauchten bis an den Morgen kein anderes Bett als die weißen Steinplatten die von der Tageshitze noch warm waren. Sie standen vor dem Pulcinell-Theater still und folgten mit gieriger Aufmerksamkeit dem fantastischen Schauspiele von der schönen Corisanda, der Marionettenkönigin; es fiel ihnen nicht ein, dass sie kein Frühstück gehabt hatten, und wie wenig Aussicht war, ein Abendessen zu erhalten. Sie überließen sich den ungezügelten Freuden des Carneval, nicht weiter verkleidet und geputzt, als er mit seiner umgekehrten Jacke und sie mit einer großen alten Bandschleife über dem Ohre. Auf dem Geländer einer Brücke oder auf den Stufen eines Pallastes, hielten sie köstliche Mahlzeiten von frutti di mare,1 rohen Fenchelstümpfen oder Citronenschalen.
Genug, sie führten ein fröhliches und freies Leben und ihre Liebkosungen waren nicht gefährlicher, ihre Gefühle nicht verliebter als es zwischen gesitteten Kindern gleichen Alters und Geschlechtes der Fall gewesen wäre. Tage, Jahre flossen hin; Anzoleto hatte andere Liebsten, Consuelo ahnte nicht einmal dass es noch eine andere Art Liebe gäbe als diese, deren Gegenstand sie war. Sie trat in die Mädchenjahre und empfand keine Nötigung, sich zurückhaltender gegen ihren Bräutigam zu betragen; er sah sie größer werden und sich verwandeln und empfand keine Ungeduld und wünschte keinen Wechsel dieser unbewölkten, offenen, unsträflichen Vertraulichkeit.
Vier Jahre waren vergangen, seitdem der Professor Porpora und der Graf Zustiniani einander ihre »kleinen Musiker« vorgestellt hatten. Der Graf hatte seitdem nicht mehr an die junge Kirchensängerin gedacht und der Professor hatte nicht minder den schönen Anzoleto vergessen, an dem er damals bei einer ersten Prüfung nichts von dem gefunden hatte, was er bei seinen Zöglingen voraussetzte, nämlich vor allem eine ernste und geduldige Auffassungsgabe, sodann eine an Selbstvernichtung gränzende Demut des Schülers vor dem Lehrer, und endlich den völligen Mangel jeder vorgängigen musikalischen Unterweisung.
»Redet mir niemals«, sagte er, »von einem Schüler, dessen Kopf sich meinem Willen nicht wie eine unbeschriebene Tafel darbietet, wie ein reines Wachs, das von mir den ersten Eindruck zu empfangen hat. Ich habe nicht Zeit, meinem Schüler ein Jahr zum Verlernen zu schenken, bevor ich zu lehren anfangen kann. Soll ich auf eine Schieferplatte schreiben, so bringet sie mir rein; und damit nicht genug, bringet sie mir auch gut. Ist sie zu stark, so wird sie nicht empfänglich sein, ist sie zu schwach, so wird sie mir unter der Hand zerbrechen.«
Kurz, er gestand zwar dem jungen Anzoleto ausgezeichnete Mittel zu, erklärte aber beim Schlusse der ersten Stunde dem Grafen etwas verdrießlich, und mit einer ironischen Anspruchslosigkeit, sein Unterricht sei nicht für einen bereits so weit vorgerückten Schüler, und um – »die natürlichen Fortschritte und die unwiderstehliche Entwicklung dieser magnifiquen Anlage zu erschweren und zu hemmen« sei der erste beste Lehrer gut genug.
Der Graf schickte seinen Schützling zu dem Professor Mellifiore, welcher von der Roulade bis zur Kadenz und von dem Triller bis zum Gruppetto seinen glänzenden Fähigkeiten die vollständigste Entwicklung gab und ihn so weit brachte, dass, als er 23 Jahre alt sich in dem Salon des Grafen hören ließ, jedermann ihn fähig sprach, im Theater San Samuel mit großem Erfolg in den ersten Partien aufzutreten.
Eines Abends wurde nämlich die ganze kunstliebende Noblesse und was nur von Künstlern in Venedig einiges Renommé genoss, zu einer letzten und entscheidenden Probe eingeladen. Zum ersten Male in seinem Leben schälte sich Anzoleto aus seiner gemeinen Tracht, zog eine Atlasweste und ein schwarzes Staatskleid an, ließ seine schönen Haare frisieren und pudern, steckte seine Füße in Schnallenschuhe, gab sich eine feierliche Miene und schlich auf den Zehenspitzen an ein Klavier, wo er, bei dem Scheine von tausend Wachskerzen und angegafft von zwei- bis dreihundert Personen, erst mit den Augen dem Ritornelle folgte, sodann seine Lungen aufblies und sich mit seiner Dreistigkeit, mit seinem Ehrgeiz und mit seinem hohen Brust-C in die gefährliche Laufbahn schwang, auf welcher keine Jury, kein Kampfrichter, sondern ein ganzes Publikum in der einen Hand die Siegespalme, in der anderen das Pfeifchen hält.
Ob Anzoleto innerlich bewegt war, ist keine Frage; er ließ jedoch sehr wenig davon blicken, und nicht sobald hatten seine