Oliver Twist. Charles Dickens

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Oliver Twist - Charles Dickens


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oder zur See ge­schickt wer­den, falls er sich un­ter­fan­gen soll­te auf­zu­mu­cken, da leg­te Oli­ver so we­nig Er­re­gung an den Tag und blieb so stumpf al­lem ge­gen­über, was er an­hö­ren muss­te, dass man ihn ein­stim­mig als einen der ver­stock­tes­ten jun­gen Gal­gen­vö­gel er­klär­te; Mr. Bum­ble be­deu­te­te ihm, so­fort mit­zu­kom­men.

      Wenn es auch wei­ter nicht zu ver­wun­dern war, dass die Her­ren Ge­mein­de­vor­stän­de dar­über in Ent­rüs­tung ge­rie­ten, dass sich ein jun­ger Mensch, der ih­rer Für­sor­ge an­ver­traut war, in ei­nem sol­chen Fal­le gänz­lich emp­fin­dungs­los zeig­te, so be­ur­teil­ten sie den­noch den Fall ganz falsch. Die Sa­che lag ein­fach so, dass Oli­ver nicht nur nicht emp­fin­dungs­los war, son­dern viel­mehr in­fol­ge der schlech­ten Be­hand­lung, die er er­fah­ren, sich auf dem bes­ten Wege be­fand, für sein gan­zes Le­ben in einen Zu­stand tie­ri­scher Stumpf­heit und geis­ti­ger Um­nach­tung zu ver­sin­ken. Un­be­weg­lich und stumm hör­te er die an ihn ge­rich­te­ten Wor­te an, schein­bar voll­stän­dig gleich­gül­tig ge­gen­über sei­nem wei­te­ren Schick­sal. Nach­dem man ihm sein Bün­del, be­ste­hend aus ei­nem klei­nen Pa­ket, in die Hand ge­drückt, zog er sei­ne Müt­ze über die Au­gen und ließ sich wi­der­stands­los von Mr. Bum­ble hin­aus­füh­ren. Eine Zeit lang schleif­te ihn der Kirch­spiel­die­ner hin­ter sich her, ohne ihn ei­nes Blickes oder Wor­tes zu wür­di­gen. Es war ein win­di­ger Tag, und wenn der Luft­zug Mr. Bum­bles Rock­schö­ße auf­weh­te, wo­bei die lang­zipf­li­ge Kirch­spiel­die­ner­wes­te und die Knie­ho­sen aus gel­bem Samt sich den Bli­cken ent­hüll­ten, ver­schwand der klei­ne Oli­ver fast ganz hin­ter den flat­tern­den Klei­dungs­stücken. Als sie sich knapp vor ih­rem Ziel be­fan­den, hielt es Mr. Bum­ble für an der Zeit, sei­nen Blick zu sen­ken und sich zu über­zeu­gen, ob der Jun­ge so­weit prä­sen­ta­bel sei, um das Wohl­ge­fal­len sei­nes neu­en Meis­ters und Herrn er­we­cken zu kön­nen.

      »Oli­ver!« sag­te er.

      »Ja, Sir?« er­wi­der­te Oli­ver mit be­ben­der Stim­me.

      »Schieb dir die Müt­ze aus der Stirn, Jun­ge, und hal­te dich ge­ra­de.«

      Trotz­dem Oli­ver au­gen­blick­lich ge­horch­te und sich mit dem Han­drücken über die feuch­ten Au­gen fuhr, schim­mer­te doch noch eine Trä­ne dar­in, und wie Mr. Bum­ble mit Stren­ge auf ihn her­nie­der­blick­te, roll­te ihm die Trä­ne die Wan­ge hin­un­ter. Eine zwei­te Trä­ne folg­te und noch eine drit­te. Der Klei­ne gab sich alle Mühe, aber es half nichts. Er zog die an­de­re Hand aus Mr. Bum­bles Hand, be­deck­te sein Ge­sicht und wein­te, bis ihm die Trä­nen über das Kinn her­ab­tropf­ten und zwi­schen den ma­gern Fin­gern her­vor­quol­len.

      »Da hört sich doch al­les auf«, rief Mr. Bum­ble, blieb ste­hen und run­zel­te wü­tend die Au­gen­brau­en. »Von all den un­dank­bars­ten ver­dor­bens­ten Wai­sen­bu­ben, Oli­ver, die mir je un­ter­ge­kom­men sind, bist du doch der schlimms­te.«

      »Nein, nein, Sir«, schluchz­te Oli­ver und klam­mer­te sich wie­der an die Hand, die den wohl­be­kann­ten Stock hielt. »Nein, nein, Sir, ich will ja brav sein, wirk­lich, ich will es. Ich bin ja noch so klein, Sir, und so – so -«

      »Was denn – so?« forsch­te Mr. Bum­ble er­staunt.

      »So ein­sam und ver­las­sen, Sir, so schreck­lich ein­sam«, schluchz­te der Klei­ne. »Nie­mand kann mich lei­den. Bit­te, sei­en Sie nicht auch noch böse auf mich.«

      Da­bei drück­te er die Hand aufs Herz und blick­te sei­nem Beglei­ter ins Ge­sicht, wäh­rend Trä­nen tiefs­ten Schmer­zes sei­ne Au­gen füll­ten.

      Ein paar Se­kun­den lang be­trach­te­te Mr. Bum­ble Oli­vers hil­fe­fle­hen­des Ge­sicht voll Er­stau­nen, dann hüs­tel­te er ein paar­mal ver­le­gen, mur­mel­te ein paar Wor­te über das dum­me Wet­ter und er­mahn­te ihn, ein gu­ter Jun­ge zu sein. Dann fass­te er ihn wie­der bei der Hand und ging schwei­gend mit ihm wei­ter.

      Der Lei­chen­be­stat­ter hat­te eben sei­nen La­den ge­schlos­sen und mach­te ge­ra­de beim Schim­mer ei­ner Talg­ker­ze ein paar Ein­tra­gun­gen in sein Kon­to­buch, als Mr. Bum­ble ein­trat.

      »Aha«, rief er und blick­te von dem Bu­che auf. »Sie sind es, Bum­ble.«

      »Ja­wohl, ich bins«, er­wi­der­te der Kirch­spiel­die­ner. »Hier ist er. Ich habe Ih­nen den Jun­gen mit­ge­bracht.«

      Oli­ver mach­te einen Kratz­fuß.

      »Also das ist der Jun­ge, was?« frag­te der Lei­chen­be­stat­ter und hielt die Ker­ze in die Höhe, um den Klei­nen bes­ser be­sich­ti­gen zu kön­nen. »Lie­be Frau, sei ein­mal so gut und komm einen Au­gen­blick her.«

      Mrs. So­wer­ber­ry tauch­te aus ei­nem klei­nen Zim­mer hin­ter dem La­den auf, und auf den ers­ten Blick konn­te man er­ken­nen, dass sie eine klei­ne ha­ge­re Per­son mit zän­ki­schem Ge­sichts­aus­druck war.

      »Lie­be Frau«, be­gann Mr. So­wer­ber­ry be­tre­ten, »das ist der Jun­ge aus dem Ar­men­haus, von dem ich dir er­zählt habe.« – Oli­ver mach­te aber­mals einen Kratz­fuß.

      »Gott im Him­mel«, rief die Frau, »ist der aber klein!«

      »Frei­lich, ein we­nig klein ist er«, gab Mr. Bum­ble zu und sah Oli­ver mit ei­nem stra­fen­den Blick an, als ob die­ser die Schuld dar­an tra­ge, dass er nicht grö­ßer ge­wor­den sei. – »Klein ist er, das lässt sich nicht be­strei­ten. Aber er wird schon noch wach­sen, Mrs. So­wer­ber­ry.«

      »Ja, ja, auf uns­re Kos­ten!« zank­te die Frau ver­drieß­lich. »Und bei dem, was bei uns auf den Tisch kommt. Ich ken­ne schon die Ar­men­haus­kin­der, die fres­sen im­mer mehr, als sie wert sind. Aber die Män­ner wis­sen na­tür­lich im­mer al­les am bes­ten. Marsch, die Trep­pe hin­un­ter, du Häuf­chen Un­glück!« Mit die­sen Wor­ten öff­ne­te Mrs. So­wer­ber­ry eine klei­ne Tür und dräng­te Oli­ver eine stei­le Trep­pe hin­ab in einen feuch­ten fins­tern Kel­ler, der den Vor­raum zum Koh­len­kel­ler bil­de­te und die Be­zeich­nung Kü­che trug. Dort saß ein schlum­pi­ges Dienst­mäd­chen mit Schu­hen mit schie­fen Ab­sät­zen und blau­en St­rümp­fen voll großer Lö­cher, die of­fen­bar schon seit lan­gem auf Re­pa­ra­tur war­te­ten.

      »Hier, Char­lot­te«, sag­te Mrs. So­wer­ber­ry, »gib dem Jun­gen ein paar von den Res­ten, die für Trip auf­ge­ho­ben wor­den sind. Seit mor­gens streunt das Biest auf der Gas­se her­um, da soll es sich mal hung­rig zu Bett le­gen. Hof­fent­lich ist der Bur­sche da nicht zu hei­kel. He, Jun­ge, was sagst du dazu?«

      Oli­ver, des­sen Au­gen, als von Es­sen die Rede war, auf­ge­leuch­tet hat­ten, zit­ter­te förm­lich vor Gier und be­teu­er­te, dass er durch­aus nicht hei­kel sei; und dar­auf­hin wur­de ihm eine Schüs­sel Spei­sen­ab­fäl­le vor­ge­setzt.

      Wenn da nur so ein ge­wis­ser satt­ge­fres­se­ner Theo­re­ti­ker mit ei­nem Her­zen von Stein zu­ge­se­hen hät­te, wie sich Oli­ver Twist über das Fut­ter her­mach­te, das für den Hund be­stimmt war, und die Gier, mit der er die Bis­sen aus­ein­an­der­riss – hal­b­ohn­mäch­tig von Hun­ger. Noch bes­ser, wenn ein sol­cher Theo­re­ti­ker selbst ein­mal ge­zwun­gen wäre, sich über eine der­ar­ti­ge Sor­te Fut­ter herzu­ma­chen …

      »Na?« frag­te die Frau Lei­chen­be­stat­te­rin, als Oli­ver mit al­lem gründ­lich auf­ge­räumt hat­te, stumm vor Ent­set­zen und bö­ser Ah­nung, wie das mit dem Ap­pe­tit des Lehr­jun­gen


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