Oliver Twist. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.»Ich werde ihn sogleich holen«, sagte Mrs. Mann und ging zur Türe.
Gleich darauf erschien sie wieder mit Oliver, der inzwischen gewaschen, gestriegelt und angekleidet worden war.
»Mach ein Buckerl vor dem Herrn, Oliver«, sagte sie.
Oliver machte einen Kratzfuß, der zur Hälfte dem Kirchspieldiener und zur anderen Hälfte dem Dreispitz auf dem Tische galt.
»Willst du mit mir gehen, Oliver?« fragte Mr. Bumble feierlichst.
Oliver wollte schon antworten, dass er jederzeit aufs bereitwilligste mit wem immer fortzugehen willens sei, blickte aber zufällig dabei Mrs. Mann an, die hinter den Stuhl des Kirchspieldieners getreten war und Oliver mit fürchterlicher Miene mit der Faust drohte. Er begriff sofort, denn er wusste nur zu gut, was diese Faust alles vermochte.
»Kommt sie auch mit?« fragte er schüchtern.
»Nein, sie kann nicht mitkommen«, sagte Mr. Bumble, »aber sie wird dich schon zuweilen besuchen dürfen.«
Das war gewiss kein besonderer Trost für Oliver, aber trotz seiner Jugend hatte er Grütze genug, sich zu stellen, als verließe er das Haus nur ungern, und überdies waren ihm die Tränen infolge des ewigen Hungerleidens und der erst vor kurzem erfahrenen Züchtigung näher als das Lachen. Wiederholt umarmte ihn Mrs. Mann und gab ihm, was er am meisten brauchte, nämlich ein großes Stück Butterbrot, damit er im Arbeitshaus nicht allzu hungrig ankäme. Damit war die Sache abgemacht. Mit dem Stück Brot in der Hand und seiner kleinen Waisenjungenkappe aus braunem Tuch auf dem Kopf, wurde er sogleich von Mr. Bumble aus dem fürchterlichen Heim geführt, wo niemals der Strahl eines freundlichen Blickes die Finsternis seiner ersten Kinderjahre erhellt hatte. Dennoch konnte er Tränen kindlichen Schmerzes nicht zurückdrängen, als sich das Gartentor hinter ihm schloss; verließ er doch seine Leidensgefährten, die einzigen Kameraden, die er je gekannt, und jetzt zum ersten Mal, seit er wusste, was Erinnerung ist, wurde ihm das Gefühl gänzlicher Verlassenheit in der großen weiten Welt bewusst.
Mit schnellen Schritten eilte Mr. Bumble vorwärts, und der kleine Oliver klammerte sich an seine mit Goldborten besetzten Schöße, trottete neben ihm her und fragte, als sie kaum eine Viertelmeile hinter sich hatten, ob sie bald am Ziele wären. Auf diese öfters wiederholten Fragen gab Mr. Bumble jedes Mal nur sehr kurze und brummige Antworten, denn die Milde, die der Genevre mit heißem Wasser gemischt in seinem Gemüt vielleicht erzeugt haben müsste, war längst verflogen, und er fühlte sich wieder Kirchspieldiener vom Scheitel bis zur Sohle.
Oliver war noch nicht eine Viertelstunde innerhalb der Mauern des Arbeitshauses und hatte kaum ein zweites Stückchen Brot verschlungen, als Mr. Bumble, der ihn der Obhut einer alten Frau inzwischen anvertraut, zurückkehrte und ihm erklärte, die Herren Vorstände hätten befohlen, er solle unverzüglich vor ihnen erscheinen.
Oliver, der keine besonders klare Vorstellung von dem hatte, was ein Vorstand alles sein kann, war von dieser überraschenden Mitteilung förmlich betäubt und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Es blieb ihm jedoch keine Zeit über diesen Punkt ins reine zu kommen, denn Mr. Bumble versetzte ihm eins mit dem Stock über den Kopf, um seine Geisteskräfte zu erwecken, und eins über den Rücken, um ihn zur Eile anzuspornen. Dann befahl er, ihm zu folgen, und führte ihn in ein großes weißgetünchtes Zimmer, in dem acht oder zehn wohlbeleibte Herren um einen Tisch herumsaßen. Zu oberst in einem Armstuhl, der ein bisschen höher war als die übrigen, ein ganz besonders wohlbeleibter Herr mit einem kugelrunden roten Kopf.
»Mach’ den Herrn Vorständen deine Verbeugung«, befahl Mr. Bumble.
Oliver wischte sich die Tränen aus den Augen und, da er nicht recht begriff, wer von den Anwesenden die Herren Vorstände sein könnten, machte er instinktiv und aufs Geratewohl einen Kratzfuß.
»Wie heißt du, Junge?« fragte der Herr auf dem hohen Stuhl.
Oliver zitterte am ganzen Leib, denn der Anblick so vieler Gentlemen brachte ihn gänzlich außer Fassung. Mr. Bumble versuchte ihn durch eine kräftige Berührung mit seinem Kirchspieldienerstab zu belehren, und das hatte zur Folge, dass er wiederum anfing zu weinen. Er antwortete daher mit leiser und zaghafter Stimme, und das veranlasste einen Herrn in einer weißen Weste auszurufen, er wäre ein dummer Junge – das beste Mittel, ihm Mut einzuflößen.
»Junge«, begann der Herr in dem hohen Stuhl abermals, »höre jetzt, was ich dir zu sagen habe. Du weißt doch, dass du ein Waisenkind bist?«
»Was ist das, Sir?« fragte der unglückliche Oliver.
»Er ist wirklich ein dummer Junge, ich hab’ mir’s gleich gedacht«, sagte der Herr mit der weißen Weste.
»Du weißt doch«, nahm der erste Herr wieder das Wort, »dass du weder Vater noch Mutter hast und vom Kirchspiel erzogen wirst?«
»Ja«, antwortete Oliver unter Tränen.
»Warum heulst du?« fragte der Herr mit der weißen Weste, denn es war doch höchst auffallend, dass Oliver weinte. Welchen Grund konnte er nur haben?
»Ich hoffe, du betest doch jeden Abend«, fragte ein anderer Gentleman in barschem Ton, »und betest für die, die dir zu essen geben und für dich sorgen, so wie es einem Christenmenschen geziemt.«
»Ja, Sir«, hauchte Oliver. In Wirklichkeit hatte er jedoch nie gebetet, weil es ihn niemand gelehrt hatte.
»Man hat dich hierhergerufen«, fuhr der Präsident fort, »um dich erziehen zu lassen, und damit du ein nützliches Handwerk lernst.« – »Du wirst also morgen früh um sechs Uhr anfangen Werg zu zupfen«, setzte der mürrische Gentleman mit der weißen Weste hinzu.
Zum Dank für die Ankündigung dieser beiden Wohltaten machte Oliver unter Nachhilfe des Kirchspieldieners einen tiefen Kratzfuß vor den »Herren Vorständen« und wurde dann in einen großen Saal gesteckt, wo er sich auf einem harten rauen Bett in den Schlaf weinen durfte.
Der arme Oliver ahnte nicht, wie er so dalag und schlief, dass die Herren Vorstände noch am selben Tage zu einem Entschluss gelangten, der von größtem Einfluss auf sein künftiges Geschick sein sollte.
Die Herren Vorstandsmitglieder waren äußerst kluge Männer von tiefer philosophischer Einsicht, und kaum hatten sie ihre Tätigkeit dem Arbeitshause und was damit zusammenhing zugewendet, so fanden sie auch sofort heraus, was ein gewöhnlicher Sterblicher kaum jemals entdeckt hätte, nämlich: dass es darin den Armen ganz über Gebühr gut gehe. Als wäre das Arbeitshaus