Oliver Twist. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.ein allzu kräftiges Gedeihen der Kinder zur Folge gehabt hätte, ließ sich nicht erwarten, und so zeigte sich denn auch Oliver Twist von seinem neunten Geburtstage an als ein schwaches, blässliches, im Wachstum zurückgebliebenes Kind. Dennoch lebte, ob von Natur oder als Erbschaft seiner Vorfahren, in Olivers Brust ein kräftiger energischer Geist, der dank der strengen Diät des Hauses Raum genug hatte, sich noch weiter zu entfalten.
Es war an Olivers neuntem Geburtstage. Während er diese Feier im Kohlenkeller zusammen mit zwei anderen jungen Herrn beging, die sich gleich ihm von einer ordentlichen Tracht Prügel erholten, die ihnen zuteil geworden, weil sie sich erfrecht hatten hungrig gewesen zu sein, wurde Mrs. Mann, die treffliche Pflegefrau, durch das plötzliche Erscheinen Mr. Bumbles, des Kirchspieldieners, der seine Schritte dem Gartenpförtchen zulenkte, in Schrecken gesetzt.
»Du mein Gott, Mr. Bumbles, sind Sie’s wirklich?« rief Mrs. Mann und steckte den Kopf anscheinend hocherfreut aus dem Fenster. »Susanna! Holen Sie gleich den kleinen Oliver herauf und die beiden anderen Lausbuben und waschen Sie sie – ach, Mr. Bumbles, wie ich mich freue, Sie wieder einmal zu sehen!«
Mr. Bumble war nun aber ein wohlbeleibter und ebenso heißblütiger Herr, und daher rüttelte er anstatt auf diese freundliche Bewillkommnung in höflicherweise zu antworten, wütend an der Gartenpforte und stieß mit dem Fuß in einer Weise dagegen, wie sie eben nur ein Kirchspieldiener beherrscht.
»Gott im Himmel«, rief Mrs. Mann aus dem Zimmer stürzend – die drei Jungen hatte man inzwischen weggebracht -, »ich habe ganz vergessen, dass ich der lieben Kleinen wegen das Gattertor von innen verriegelt habe. So spazieren Sie doch weiter, Sir. Bitte, treten Sie ein, Mr. Bumble.«
Ihre Einladung war von einem so freundlichen Lächeln begleitet, dass es sicherlich sogar das Herz eines Kirchenpresbyters erweicht haben würde; dennoch besänftigte es den Kirchspieldiener nicht im mindesten.
»Nennen Sie das einen respektvollen Empfang, Mrs. Mann?« fragte Mr. Bumble und fasste seinen Amtsstab noch fester, »dass Sie die Kirchspielbeamten an Ihrer Türe warten lassen, wenn sie in Parochialangelegenheiten und in betreff der Parochialkinder hierher kommen? Sie wissen doch, Mrs. Mann, dass Sie von der Parochialbehörde angestellt sind und von der Parochialbehörde bezahlt werden!«
»Ich erzählte gerade einem paar der lieben Kleinen, Mr. Bumble, derentwegen Sie so freundlich sind sich herzubemühen, dass Sie kommen würden«, wendete Mrs. Mann mit großer Unterwürfigkeit ein.
Mr. Bumble hatte eine sehr hohe Meinung von seiner Rednergabe und seiner amtlichen Wichtigkeit. Er hatte soeben die eine entfaltet und die andere gewahrt. Er schlug daher einen milderen Ton an.
»Nun, nun, Mrs. Mann«, sagte er, »ich bezweifle das ja gar nicht. Lassen Sie mich aber jetzt hinein, Mrs. Mann. Ich komme in Geschäften und habe Ihnen etwas mitzuteilen.«
Mrs. Mann führte den Kirchspieldiener in ein kleines Sprechzimmer, bot ihm einen Sessel an und legte dienstbeflissen seinen dreieckigen Hut und seinen Amtsstab auf den Tisch. Mr. Bumble wischte sich den Schweiß von der Stirn, blickte wohlgefällig auf seinen Dreispitz und lächelte. Wirklich und wahrhaftig, er lächelte! Aber Kirchspieldiener sind eben auch nur Menschen, daher lächelte Mr. Bumble.
»Sie dürfen jetzt nicht beleidigt sein wegen dem, was ich Ihnen sagen will«, begann Mrs. Mann mit bestrickender Liebenswürdigkeit. »Sie haben einen weiten Weg hinter sich, sonst würde ich gar nicht davon anfangen, aber sagen Sie, wollen Sie nicht ein Gläschen nehmen?«
»Nicht einen Tropfen, nicht einen Tropfen«, wehrte Mr. Bumble ab und schwenkte seine Rechte in würdevoller, aber freundlicherweise.
»Sie werden mir gewiss den Gefallen tun«, beharrte Mrs. Mann auf ihrer Bitte, den Ton, in dem die Weigerung gesprochen worden, aber auch die begleitende Gebärde wohl erfassend. »Nur ein ganz kleines Gläschen mit einem bissel kaltem Wasser und einem Stückchen Zucker?«
Mr. Bumble hüstelte.
»Nur ein ganz kleines Gläschen«, wiederholte Mrs. Mann ihre Bitte in dringendem Ton.
»Was ist es denn?« fragte der Kirchspieldiener.
»Ach Gott, ich muss immer ein bisserl davon hier haben, dass ich den lieben Kleinen eine kleine Herzstärkung geben kann, wenn ihnen nicht recht gut ist, Mr. Bumble«, erwiderte Mrs. Mann, öffnete ein Schränkchen und holte eine Flasche und ein Glas her vor. »Es ist Genevre, ich will Ihnen nichts vormachen, Mr. Bumble, es ist nur Genevre.«
»Geben Sie denn den Kindern Schnaps, Mrs. Mann?« fragte der Kirchspieldiener und verfolgte mit den Blicken den interessanten Prozess der Mischung.
»O mein, ich tue’s halt, so teuer es auch kommen mag«, versetzte die Pflegefrau. »Sie wissen doch, ich könnt die armen Kleinen niemals nicht leiden sehen.«
»Nein, nein«, sagte Mr. Bumble zustimmend, »Sie können es nicht. Sie sind überhaupt eine sehr humane Frau« – dabei setzte sie das Glas vor ihn hin – »ich werde nicht versäumen, bei der nächsten besten Gelegenheit es den Vorständen gegenüber zur Sprache zu bringen, Mrs. Mann«, (dabei zog er das Glas näher zu sich) »Sie fühlen wie eine Mutter«, (dabei ergriff er das Glas) »ich trinke hiermit auf Ihre Gesundheit, Mrs. Mann« (dabei goss er das Glas zur Hälfte hinunter). »So und jetzt wollen wir vom Geschäft reden«, sagte er und holte ein ledernes Taschenbuch hervor. »Der Knabe, der in der Waisentaufe den Namen Oliver Twist bekommen hat, wird heute neun Jahre alt.«
»Gottes Segen über ihn«, warf Mrs. Mann dazwischen und konnte nicht umhin, sich die Augen mit der Schürze zu trocknen.
»Trotz der ausgeschriebenen Belohnung von zehn Pfund, und später sogar von zwanzig Pfund, und trotz der geradezu übernatürlichen Anstrengungen des Kirchspiels«, fuhr Mr. Bumble fort, »sind wir nicht imstande gewesen, seinen Vater zu eruieren oder in Erfahrung zu bringen, wie seine Mutter hieß, was sie war und woher sie stammte.«
Mrs. Mann hob erstaunt die Hände gen Himmel, dachte einen Augenblick nach und fragte: »Wie kommt es denn dann, dass er überhaupt einen Namen hat?«
Der Kirchspieldiener warf sich in die Brust und antwortete: »Den hab ich erfunden.«
»Sie, Mr. Bumble?«
»Jawohl, ich, Mrs. Mann. Wir benennen unsre Zöglinge immer nach dem Alphabet. Zuletzt hielten wir bei S – Swubble, so nannte ich das vorletzte Waisenkind, und der nächste war ein T – Twist; ich habe ebenfalls den Namen erfunden. Wenn wieder einer kommt, wird er