Oliver Twist. Charles Dickens

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Oliver Twist - Charles Dickens


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und Ge­bär­den zu ler­nen, die ei­nem rich­ti­gen Lei­chen­be­stat­ter un­be­dingt nö­tig sind, so fand er gar oft Ge­le­gen­heit, die be­mer­kens­wer­te Stand­haf­tig­keit zu be­wun­dern, mit der ge­wis­se Leu­te, die sich ei­nes star­ken Ge­müts er­freu­ten, Ver­lus­te an Be­kann­ten, Freun­den und Ver­wand­ten zu tra­gen wuss­ten.

      Be­fremd­li­cher­wei­se wirk­ten sol­che Bei­spie­le von Re­si­gna­ti­on nicht an­ste­ckend auf Oli­ver Twist; er kam viel­mehr nicht aus der Ver­wun­de­rung her­aus. Trotz­dem er­trug er ge­dul­dig mo­na­te­lang die schlech­te Be­hand­lung von sei­ten Noah Clay­po­les, der im­mer ge­häs­si­ger ge­gen ihn wur­de, da er sich zu­rück­ge­setzt fühl­te und kaum mit­an­se­hen konn­te, wie Oli­ver, der jün­ge­re Lehr­ling, tag­aus tagein im schwar­zen Rock und Flor aus­rücken durf­te, wäh­rend er, der Se­ni­or, sich mit Pelz­kap­pe und Le­der­ho­se be­gnü­gen muss­te. Char­lot­te be­han­del­te Oli­ver schlecht, weil Noah ihn schlecht be­han­del­te, und Mrs. So­wer­ber­ry war sei­ne aus­ge­spro­che­ne Fein­din, weil Mr. So­wer­ber­ry eher dazu neig­te, ihn freund­lich als un­freund­lich zu be­han­deln.

      Ei­nes Ta­ges nun zur ge­wöhn­li­chen Mit­tags­stun­de wa­ren Oli­ver und Noah in die Kü­che hin­ab­ge­klet­tert, um sich an ei­ner knap­pen Ra­ti­on Ham­mel­fleisch vom schlech­tes­ten Na­cken­stück güt­lich zu tun, da wur­de Char­lot­te hin­auf­ge­ru­fen und Noah Clay­po­le, hung­rig und ver­bit­tert, glaub­te ihre Ab­we­sen­heit nicht bes­ser be­nüt­zen zu kön­nen, als sei­nen jun­gen Kol­le­gen zu hän­seln.

      Als Ein­lei­tung leg­te er die Füße auf das Tisch­tuch, zupf­te Oli­ver an den Haa­ren, zwick­te ihn in die Ohren und gab der An­sicht Aus­druck, Oli­ver sei ein »Krie­cher«. Des wei­te­ren gab er der Hoff­nung Aus­druck, Oli­ver noch ein­mal am Gal­gen bau­meln zu se­hen, und dass es ihm auch auf den wei­tes­ten Weg nicht an­kom­men wer­de, falls ein­mal die­ses er­sehn­te Er­eig­nis ein­tre­ten soll­te. Da aber alle die­se hä­mi­schen Ver­su­che, Oli­ver zum Wei­nen zu brin­gen, fehl­schlu­gen, fing Noah Clay­po­le an, im­mer di­cker und di­cker auf­zu­tra­gen.

      »Zucht­häus­ler!« rief er end­lich. »Was macht üb­ri­gens dei­ne Mut­ter?«

      »Sie ist tot«, sag­te Oli­ver, »sprich nicht von ihr.«

      Das Blut stieg ihm in die Wan­gen, und sei­ne Lip­pen zuck­ten selt­sam. Noah Clay­po­le hielt das für ein Vor­zei­chen, dass Oli­ver gleich in Trä­nen aus­bre­chen wür­de, und mach­te eine neue At­ta­cke.

      »Woran ist sie denn ge­stor­ben, Zucht­häus­ler?« frag­te er.

      »An ge­bro­che­nem Her­zen, hör­te ich die alte Wär­te­rin sa­gen«, mur­mel­te Oli­ver, mehr zu sich selbst spre­chend als zu sei­nem Kol­le­gen. »Ich glau­be, ich ver­ste­he, was das heißt.«

      »A was, dum­mes Zeug, Zucht­häus­ler«, sag­te Noah, wäh­rend eine Trä­ne Oli­ver über die Wan­ge lief. »Was hat dich denn so plötz­lich zum Flen­nen ge­bracht?«

      »Ach nichts«, er­wi­der­te Oli­ver, sich schnell die Au­gen trock­nend. »Du brauchst dir nichts dar­auf ein­zu­bil­den. Aber schweig jetzt, das rat ich dir.«

      »Was? Ra­ten tust du’s mir?« rief Noah. »Ist das eine Frech­heit! Na, und dei­ne Mut­ter, das war auch so die Rech­te.« Da­bei nick­te er hä­misch mit dem Kopf und rümpf­te sei­ne klei­ne rote Stülp­na­se.

      »Du tust mir ja leid, du Ar­men­häus­ler«, fuhr er, durch Oli­vers Schwei­gen kühn ge­macht, höh­nisch mit er­heu­chel­tem Mit­leid fort. »Aber es lässt sich mal nicht mehr än­dern. Du kannst ja auch nichts da­für und dau­erst mich ja von Her­zen. Aber dei­ne Mut­ter war halt – na, du weißt schon was.«

      »Was sagst du da!« fuhr Oli­ver auf.

      »Na ja, so eine ganz Schlech­te«, er­wi­der­te Noah kalt­blü­tig. »Für dich war es wohl das bes­te, du Ar­men­häus­ler, dass sie recht­zei­tig ins Grab ge­bis­sen hat, sonst wär sie jetzt im Zucht­haus oder am Gal­gen. Oder viel­leicht nicht?«

      Pur­pur­rot vor Wut sprang Oli­ver auf, pack­te Noah an der Gur­gel und schüt­tel­te ihn, dass ihm die Zäh­ne im Mun­de klap­per­ten. Dann schlug er ihn mit ei­nem ein­zi­gen ge­schick­ten Hieb zu Bo­den.

Bild: 043_Oliver_Twist_005.jpg

      Noch eine Mi­nu­te vor­her war Oli­ver das ru­higs­te sanf­tes­te Ge­schöpf der Welt ge­we­sen. Aber jetzt hat­te die scheuß­li­che Be­schimp­fung sei­ner Mut­ter sein Blut zum Wal­len ge­bracht. Sei­ne Au­gen blitz­ten, und er war völ­lig um­ge­wan­delt, wie er auf den fei­gen Quäl­geist, der vor ihm auf dem Bo­den lag, nie­der­blick­te.

      »Er will mich er­mor­den«, heul­te Noah. »Char­lot­te! Mrs. So­wer­ber­ry! – Er schlägt mich tot – Hil­fe – zu Hil­fe! Oli­ver ist ver­rückt ge­wor­den. Char – lot­te!«

      Ein lau­tes Ge­kreisch aus Char­lot­tens und ein noch lau­te­res aus Mrs. So­wer­ber­rys Mund war die Ant­wort, und gleich dar­auf kam das Dienst­mäd­chen in die Kü­che her­ein­ge­stürzt, wäh­rend die Meis­te­rin wohl­weis­lich auf der Trep­pe oben ste­hen blieb, bis sie sich ver­ge­wis­sert, dass nichts für sie auf dem Spie­le stän­de, wenn sie ganz die Trep­pe her­un­ter­käme.

      »O du elen­des Un­ge­heu­er«, kreisch­te Char­lot­te und pack­te Oli­ver mit al­ler Kraft an der Brust. »Du – klei – ner – mord – gie­ri­ger – Schuft.« Und bei je­der Sil­be ver­setz­te sie dem ar­men Oli­ver zum Er­göt­zen der An­we­sen­den einen Hieb.

      Ihre Faust war ziem­lich ge­wich­tig und hät­te Oli­vers Mord­lust, wenn eine sol­che vor­han­den ge­we­sen wäre, si­cher ge­dämpft. So aber kam auch noch Mrs. So­wer­ber­ry dazu, stürz­te in die Kü­che, hielt ihn mit ei­ner Hand fest und zer­kratz­te ihm mit der an­de­ren das Ge­sicht. Das gab na­tür­lich Noah sei­nen Mut wie­der zu­rück, er stand auf und be­gann von rück­wärts auf Oli­ver ein­zu­hau­en.

      Die­ser über­stürz­te An­griff war doch et­was zu hef­tig, als dass er hät­te lan­ge dau­ern kön­nen. Als sich die drei müde ge­prü­gelt hat­ten und nicht mehr wei­ter konn­ten, schlepp­ten sie Oli­ver, der sich im­mer noch aus Lei­bes­kräf­ten wehr­te und aus vol­lem Hal­se schrie, in den Koh­len­kel­ler, wo sie ihn ein­sperr­ten. Dann sank Mrs. So­wer­ber­ry in einen Stuhl und brach in Trä­nen aus.

      »O Gott, sie stirbt«, jam­mer­te Char­lot­te. »Ein Glas Was­ser, Noah! Was­ser! Schnell, schnell!«

      »Ach, Char­lot­te, wir kön­nen Gott dan­ken, dass wir nicht längst alle in un­sern Bet­ten er­mor­det wor­den sind.«

      »Ja, ja, es ist eine Gna­de des Him­mels, Ma­da­me«, er­wi­der­te das Dienst­mäd­chen. »Der arme Noah, er war schon halb tot, als ich her­ein­kam.«

      »Der arme, arme Jun­ge«, rief Mrs. So­wer­ber­ry mit­lei­dig. Und auch Noah war ganz er­grif­fen und heu­chel­te ein paar Trä­nen.

      »Was sol­len wir nur tun?« riet Mrs. So­wer­ber­ry. »Mein Mann ist nicht zu Hau­se, nie­mand ist da, und die Tür wird uns der Mord­bu­be in ein paar Mi­nu­ten ein­ge­tre­ten ha­ben.« Oli­vers ener­gi­sche At­ta­cken ge­gen die Bret­ter­wand des Koh­len­kel­lers lie­ßen ein sol­ches Er­eig­nis al­ler­dings als höchst wahr­schein­lich an­neh­men.

      »O Gott, o Gott, ich weiß auch nicht, was wir tun sol­len, Mrs.


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