Oliver Twist. Charles Dickens

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Oliver Twist - Charles Dickens


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dau­er­te lan­ge, bis er sich wie­der er­hob, und die Ker­ze brann­te schon tief im Leuch­ter, als er auf­stand. Vor­sich­tig späh­te er um­her und lausch­te ge­spannt. Dann müh­te er sich ab, den Rie­gel zu­rück­zu­schie­ben, was ihm end­lich ge­lang, und lug­te hin­aus.

      Es war eine kal­te fins­te­re Nacht, und die Ster­ne schie­nen in viel grö­ße­rer Ent­fer­nung von der Erde, als Oli­ver sie je­mals ge­se­hen zu ha­ben sich er­in­ner­te. Kein Luft­hauch reg­te sich. Lei­se schloss er die Türe wie­der, und nach­dem er bei dem er­lö­schen­den Ker­zen­licht die we­ni­gen Klei­dungs­stücke, die er sein ei­gen nann­te, in ein Bün­del ge­schnürt, setz­te er sich auf eine Bank, um den An­bruch des Mor­gens zu er­war­ten.

      Mit dem ers­ten Licht­strahl, der durch die Rit­zen des La­dens schi­en, er­hob er sich, – ein Schau­er­blick nach rück­wärts, ein Mo­ment der Un­ent­schlos­sen­heit, – dann hat­te er die Türe hin­ter sich ge­schlos­sen und stand drau­ßen auf der Stra­ße. Er blick­te nach rechts und links, un­ge­wiss, wo­hin er sich wen­den sol­le. Es fiel ihm ein, ein­mal ge­se­hen zu ha­ben, dass alle Wa­gen, wenn sie nach der Stadt fuh­ren, den Hü­gel hin­auf­wank­ten. Er schlug den­sel­ben Weg ein. Und als er auf der Land­stra­ße an­lang­te, schritt er rüs­tig wei­ter. Er kam am Ar­beits­haus vor­über. Nichts ver­riet, dass sei­ne In­sas­sen zu so frü­her Stun­de schon auf sein könn­ten. Oli­ver blieb ste­hen und späh­te in den Gar­ten. Ein Kind jä­te­te mit dem Spa­ten in ei­nem klei­nen Beet, hob sein blas­ses Ge­sicht, und Oli­ver er­kann­te die Züge ei­nes frü­he­ren Lei­dens­ge­fähr­ten. Er freu­te sich, dass er den klei­nen Jun­gen vor sei­nem Fort­ge­hen noch ein­mal sah, denn er war ihm, wenn er auch jün­ger als er war, ein lie­ber Freund und Spiel­ka­me­rad ge­we­sen. Sie hat­ten zu­sam­men ge­lit­ten, wa­ren zu­sam­men ein­ge­sperrt wor­den und hat­ten im­mer mit­ein­an­der hun­gern müs­sen.

      »Heda, Dick«, sag­te Oli­ver, als der Jun­ge zum Ge­län­der ge­lau­fen kam und ihm sei­nen dün­nen Arm zum Will­kom­men durch die Stä­be reich­te. »Ist schon je­mand auf?«

      »Nur ich.«

      »Sag nicht, dass du mich ge­se­hen hast, Dick«, flüs­ter­te Oli­ver, »ich bin ge­flo­hen. Man hat mich ge­schla­gen und miss­han­delt. Ich gehe und such mir mein Glück wo an­ders. Wo, weiß ich noch nicht. Wie blass du aus­siehst.«

      »Der Dok­tor hat ge­sagt, ich muss ster­ben – ich habs ge­hört«, ant­wor­te­te der Klei­ne mit ei­nem schwa­chen Lä­cheln. »Ich freue mich, dass ich dich noch ein­mal sehe, lie­ber Oli­ver. Aber halt dich nicht auf, geh rasch fort.«

      »Ich will dir nur Le­be­wohl sa­gen«, ant­wor­te­te Oli­ver. »Ich wer­de dich schon noch wie­der­se­hen, Dick. Ich weiß es be­stimmt, Dick. Es wird dir noch ein­mal gut ge­hen und du wirst glück­lich wer­den.«

      »Ich will es hof­fen«, er­wi­der­te der Klei­ne. »Aber erst, wenn ich mal ge­stor­ben bin; vor­her kann’s nicht sein. Der Dok­tor wird schon recht ha­ben, Oli­ver; und ich träu­me so viel vom Him­mel und von En­geln mit mil­den Ge­sich­tern, wie sie hier auf Er­den nicht sind. Komm, gib mir einen Kuss«, – der Klei­ne klet­ter­te auf das nied­ri­ge Git­ter­tor und schlang sei­ne Hän­de um Oli­vers Hals. »Leb wohl, lie­ber Freund, und Got­tes Se­gen.«

      Der Se­gens­wunsch kam von den Lip­pen ei­nes klei­nen Jun­gens, aber es war der ers­te Se­gen, den Oli­ver zu hö­ren be­kam. In al­len Kämp­fen, in al­len Müh­sa­len und Lei­den, die ihn be­tra­fen, ver­gaß er ihn nie.

      Erst um die Mit­tags­stun­de mach­te Oli­ver auf sei­ner Wan­de­rung bei ei­nem Mei­len­stein Halt, auf dem die Ent­fer­nung von der Haupt­stadt an­ge­ge­ben war.

      In Lon­don konn­te man Oli­ver nicht fin­den. Oft hat­te er im Ar­beits­haus sa­gen hö­ren: in Lon­don brau­che nie­mand, der nur ein biss­chen Grüt­ze habe, zu hun­gern, und in die­ser un­ge­heue­ren Stadt kön­ne man le­ben auf eine Wei­se, von der sich Leu­te, die auf dem Lan­de auf­ge­wach­sen sei­en, gar kei­nen Be­griff mach­ten. Es muss­te der rech­te Platz für einen hei­mat­lo­sen Jun­gen sein, sag­te sich Oli­ver. Da­mit sprang er wie­der auf die Füße und schritt, so schnell er konn­te, vor­wärts.

      Al­les, was er mit hat­te, be­schränk­te sich auf eine Bro­trin­de, ein gro­bes Hemd und zwei Paar St­rümp­fe in sei­nem Bün­del, au­ßer­dem auf einen Pen­ny – ein Trink­geld, das ihm Mr. So­wer­ber­ry ein­mal da­für ge­ge­ben hat­te, weil er sich bei ei­nem Be­gräb­nis be­son­ders fei­er­lich be­nom­men.

      Fast zwan­zig Mei­len leg­te Oli­ver an die­sem Tag zu­rück. Die gan­ze Zeit kam nichts über sei­ne Lip­pen als die Bro­trin­de und ein paar Schluck Was­ser. Am Abend leg­te er sich in einen Heu­hau­fen schla­fen und wan­der­te am an­de­ren Tag aber­mals zwölf Mei­len, wo­bei er sei­nen Pen­ny für Brot aus­gab, und über­nach­te­te wie­der im Frei­en, so­dass er am drit­ten Mor­gen, vor Käl­te fast er­starrt, sich kaum von der Stel­le be­we­gen konn­te. Am Fuß ei­nes stei­len Hü­gels war­te­te er, bis die Post­kut­sche vor­bei kam, und sprach die Pas­sa­gie­re, als sie einen Mo­ment aus­stie­gen, um eine Gabe an. Nie­mand hör­te auf ihn, nur ei­ner der Her­ren sag­te ihm, er wol­le ihm einen hal­b­en Pen­ny ge­ben, wenn er eine Stre­cke weit ne­ben dem Wa­gen mit­lau­fen wür­de. Als Oli­ver bald in­fol­ge sei­ner Er­mü­dung hin­ter der Post­kut­sche zu­rück­b­lieb, steck­te der Gent­le­man sei­ne Geld­mün­ze wie­der ein und er­klär­te, da sehe man wie­der, dass das arme Volk viel zu faul sei, sich ein­mal et­was zu ver­die­nen.

      Und der Wa­gen ras­sel­te da­von und ließ nichts wei­ter zu­rück als eine Wol­ke Staub. Vor man­chen Dör­fern stan­den Ta­feln er­rich­tet, auf de­nen je­dem Bett­ler mit der strengs­ten Stra­fe ge­droht wur­de, und furcht­sam eil­te Oli­ver wei­ter, wenn er so et­was las. Wenn er ein­mal vor ei­nem Gast­haus mit hung­ri­gen Bli­cken still­stand, be­fahl man ihm, sich aus dem Staub zu ma­chen, wenn er nicht wol­le, dass man die Hun­de auf ihn los­las­se.

      Es wür­de ihm wohl so er­gan­gen sein wie einst sei­ner un­glück­li­chen Mut­ter, hät­te sich sei­ner nicht schließ­lich ein men­schen­freund­li­cher Schlag­baum­wäch­ter und des­sen Frau an­ge­nom­men und ihn mit ei­nem Stück Brot und Käse ge­labt. Am sie­ben­ten Mor­gen nach Son­nen­auf­gang er­reich­te Oli­ver end­lich mit wun­den Fü­ßen die klei­ne Stadt Var­net. Über­all wa­ren noch die Fens­ter­la­den ge­schlos­sen, und nicht eine See­le ließ sich auf den ver­öde­ten Stra­ßen bli­cken. In ih­rer gan­zen strah­len­den Schön­heit ging die Son­ne auf, aber ihr Licht führ­te Oli­ver nur so recht zu Ge­mü­te, wie elend und ver­las­sen er war. Staub­be­deckt kau­er­te er sich an ei­ner Tür­schwel­le nie­der. All­mäh­lich öff­ne­ten sich die La­den und über­all wur­den die Ja­lou­si­en in die Höhe ge­zo­gen und die Men­schen be­gan­nen hin und her zu ge­hen. Ei­ni­ge stan­den still und sa­hen Oli­ver ein paar Se­kun­den lang an und wand­ten nach ihm den Kopf, und ei­ni­ge nah­men sich so­gar die Mühe zu fra­gen, wie er hier­her ge­kom­men sei. Er ge­trau­te sich aber nicht sie an­zu­bet­teln, son­dern blieb still sit­zen.

      Eine Zeit lang hat­te er so auf der Stu­fe ge­kau­ert und sich über die große An­zahl von Wirts­häu­sern ge­wun­dert, denn je­des zwei­te Ge­bäu­de in Var­net war eine Schen­ke, bald groß, bald klein, als er sich plötz­lich be­wusst wur­de, dass ein jun­ger Bur­sche, der ei­ni­ge Mi­nu­ten vor­her


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