Oliver Twist. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.mit einem Strick an den Sims des Kamins gebunden über dem Feuer hing, lagen ein paar Würste, und darüber gelehnt, eine große Gabel in der Hand, stand ein uralter vertrockneter Jude, sein schurkisches Gesicht mit den abstoßendsten Zügen von der Welt von rotem Kraushaar beschattet. Der Mann war in einen schmutzigen Flanellkittel gehüllt, der nur seinen Hals freiließ. Seine Aufmerksamkeit schien zwischen der Bratpfanne und einem Kleidergestell zu schwanken, an dem eine große Anzahl von seidenen Taschentüchern hing. Auf dem Boden lagen nebeneinander ein paar grobe Betten aus alter Sackleinwand, und um den Tisch herum saßen vier bis fünf Jungen, keiner älter als Mr. Dawkins, rauchten aus langen Tonpfeifen oder tranken Schnaps wie Erwachsene. Sie scharten sich sogleich um Jack, der dem alten Juden ein paar Worte ins Ohr flüsterte, sich dann umdrehte und Oliver angrinste.
Auch der Jude warf Oliver einen lauernden Blick zu, ohne dabei die Gabel aus der Hand zu legen.
»Hier, Fagin«, sagte Jack Dawkins, »ist mein Freund Oliver Twist.«
Der Jude grinste, machte Oliver eine tiefe Verbeugung, nahm ihn bei der Hand und gab der Hoffnung Ausdruck, der Ehre seiner näheren Bekanntschaft teilhaftig werden zu dürfen. Darauf stellten sich die Jungen mit ihren Tonpfeifen um Oliver und schüttelten ihm sämtlich die Hände, und zwar besonders eifrig die, in der er sein Bündel trug. Einer der jungen Gentleman war bestrebt, ihm die Mütze vom Kopf zu ziehen, und ein anderer geruhte, ihm die Finger in die Taschen zu stecken, offenbar um ihn der Mühe zu entheben, sie vor dem Schlafengehen selbst auszuleeren. Die Jungen hätten ihre Höflichkeiten wahrscheinlich noch weiter ausgedehnt, würde der Jude nicht seine Gabel des öfteren auf die jungen Herren haben herabsausen lassen.
»Mir freien sich außerordentlich, Ihnen zu sehen, Oliver, ganz außerordentlich«, versicherte der Jude. »Baldowerer! nemm die Würscht vom Feier und setz ä Schüssel für Mr. Oliver an den Herd. Ah, Sie sehen sich die Taschentücherlich an, lieber Freind? Ja ja, es sind ihrer ä ganze Menge. Mir haben se eben sortiert, weil se sollen gewaschen werden; das ist alles, Mr. Oliver, weiter nix, hähä.«
Die Rede des alten lustigen Juden wurde von seinen hoffnungsvollen Zöglingen mit einem wiehernden Gelächter begrüßt, und sich noch schüttelnd vor Lachen; machten sie sich an ihr Abendessen.
Oliver aß, was ihm zugeteilt wurde, und nachher braute ihm der Jude ein Glas heißen Grog, den er auf der Stelle austrinken musste, da noch ein anderer Gentleman das Glas brauche. Oliver tat, wie ihm befohlen wurde, und gleich darauf fühlte er, dass er sanft auf einen Strohsack gelegt wurde. Dann verfiel er in tiefen Schlaf.
9 – Enthält weitere Einzelheiten über den liebenswürdigen alten Herrn und seine hoffnungsvollen Zöglinge.
Spät am nächsten Morgen erwachte Oliver nach langem, festem Schlummer. Es war niemand im Zimmer als der alte Jude, der Kaffee zum Frühstück in einer Pfanne kochte und leise vor sich hin pfiff, beständig mit dem Blechlöffel in dem Topf herumrührend. Jedes Mal, wenn auch nur ein leises Geräusch von der Straße heraufdrang, hielt der Jude inne, um zu lauschen, beruhigte sich aber jedes Mal wieder und pfiff und rührte weiter. Oliver war zwar aufgewacht, befand sich aber noch in jenem Zustand zwischen Schlafen und Wachen, wo man mit halboffnen Augen daliegt und, obgleich man alles, was um einen ringsum vorgeht, genau wahrnimmt, doch näher dem Traume ist als wirklichem Wachsein. Mit halbgeschlossenen Augen sah er den Juden, hörte sein leises Pfeifen und das Geräusch, wie er mit dem Löffel in der Pfanne herumkratzte. Als der Kaffee fertig war, schob der Jude den Kessel vom Feuer weg, stand eine Weile unschlüssig da, drehte sich dann nach Oliver um und rief ihn an.
Oliver antwortete nicht, sondern schien allem Anschein nach weiterzuschlafen. Hierauf schlich der Jude leise zur Türe und schloss sie ab. Dann zog er aus einer Falltüre im Boden eine kleine Schatulle hervor, setzte sie sorgfältig auf den Tisch, und seine Augen funkelten, wie er den Deckel aufhob und in das Kästchen hineinblickte. Dann rückte er einen alten Stuhl herbei, setzte sich und holte eine prachtvolle goldene Uhr mit Diamanten besetzt hervor.
»Verdammt pfiffige Hunde«, murmelte er vor sich hin, zog die Schultern in die Höhe und verzerrte die Muskeln seines Gesichts zu einem scheußlichen Grinsen. »Verdammt geschmierte Hunde und verbissen bis zum letzten Atemzug. Nix haben sie dem alten Pfaffen verraten, nix haben se veretzt den alten Fagin, hihi. Worüm hätten se auch sollen? Was hätts ihnen auch geholfen? Das Malheur hätten se doch nix abgehalten; nicht um ä Minute. Famose Burschen, feine Burschen.«
Dann legte er die Uhr wieder in das Kästchen zurück, holte noch mehrere andere ähnliche hervor, dann: Ringe, Armbänder und sonstige Pretiosen, alle so wundervoll gearbeitet, dass Oliver förmlich geblendet war.
Den Schluss bildete ein Schmuckstück, das so klein war, dass der Jude es ganz in seiner Handfläche verbergen konnte. Es schien sich eine sehr kleine, kaum sichtbare Inschrift darauf zu befinden, denn Mr. Fagin legte das Kunstwerk flach auf den Tisch, hielt die Hand darüber und betrachtete es lange und ganz nah und mit scharfem Blick. Dann legte er es, offenbar nicht imstande, die Inschrift zu entziffern, wieder weg, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und murmelte:
»Ist doch ä feine Sache das Hinrichten. Ä Toter bereit nix mehr. Ä Toter kann nix mehr verraten. Haast ä Geschäft. Fünfe aufgehängt hinter enander und keiner mehr da, um den reumütigen zu spielen.«
Plötzlich fielen die funkelnden schwarzen Augen des Juden, der bisher gedankenverloren vor sich hingestarrt, auf Olivers Gesicht und begegneten dessen Blicken, die mit stummer Neugier auf ihn gerichtet waren. Heftig schlug er die Schatulle zu, ergriff das Brotmesser, das auf dem Tische lag, und sprang wütend auf. Er zitterte vor Entsetzen, denn das Messer, das er in der Hand hielt, zuckte in der Luft heftig hin und her, wie Oliver deutlich bemerken konnte.
»Was soll das?« rief der Jude. »Was spionierst de da? Warum bist de plötzlich wach? Was hast de gesehen? Sprich, sag ich dir, wenn dir dein Leben lieb ist.«
»Ich konnte nicht mehr schlafen, Sir«, erwiderte Oliver demütig. »Verzeihen Sie, wenn ich Sie gestört habe, Sir?«
»Du bist nicht wach gewesen vor einer Stunde?« rief der Jude mit wilden Blicken.
»Nein, wirklich nicht«, beteuerte Oliver.
»Ist das auch sicher wahr?« rief der Jude drohend.
»Ganz gewiss, Sir. Ich bin eben erst aufgewacht.«
»Schon gut, schon gut«, murmelte der Jude, nahm plötzlich sein altes Wesen wieder an und spielte mit dem