Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.Exemplar vom alten Broeder war freilich nicht aufzutreiben, weder in Neu-Minden noch in Neuyork; aber da liegt schon in Minnesota am Mississippi ein Ding, das heißt Sankt Paul, und da hat mir wirklich und wahrhaftig einer einen Ellendt aufgetrieben, und wenn heute ein eingeborener Neu-Mindener einen Begriff oder eine Ahnung von mensa und amare hat, das heißt in der Römersprache, so bin ich der Mann, der schuld daran ist. O, und der pythagoreische Lehrsatz! Erinnerst du dich wohl noch an den Magister Matheseos, Fritze Langreuter? Und an meine Seelenseligkeit, als ich ihn heraushatte und ihn dir als etwas, was unumstößlich seine Richtigkeit hatte, beweisen konnte? Du hättest die Tafelrunde von alten und jungen Neu-Mindenern sehen sollen, denen ich ihn gleichfalls bewies, mit Kreide auf der Tischplatte, am Winterabend mitten in der amerikanischen Wildnis und viel näher dem Lake superior als der Weser und dem Flecken Bodenwerder und dem Dorfe Kemnade! Siehst du, liebster Freund, so habe ich wenigstens einmal in der Fremde für voll gegolten in dem, was ich zu Hause für das höchste Ideal hielt. Jetzt bin ich mit Ruhe ein Bauer auf meinem alten braven Hofe. Alle Nachbarn sind mir wiederum willkommen wie vor Jahren in meiner Narrenzeit. Ich bin auch mit Vergnügen für jedermann wieder der Vetter Just, und manchmal denke ich wie mit einigem geheimen Vergnügen: Hast du auch weiter nichts vor dich gebracht, Just, als dass sie nicht mehr hinter deinem Rücken über dich lachen, so ist auch das schon bei deiner angeborenen Dummheit und Faulheit etwas ganz Hübsches.«
»O Vetter Just«, rief ich im hellen Enthusiasmus und wahrhaftig mit Tränen in den Augen und einem heißen Kitzel in der Gurgel, »der Vetter Just bist du und bleibst du, und – bei den unsterblichen Göttern – höher als das kann es kein sterblicher Mensch auf dieser Erde bringen! O Vetter, wie freue ich mich, dass ich dich wieder im Lande weiß und von neuem dich auf dem Steinhofe besuchen und bei dir in die Schule gehen kann!«
Vierzehntes Kapitel
So weit waren wir vor Mitternacht gekommen. Nach Mitternacht erzählte der Vetter weiter, wie er durch harte Arbeit, klugen Sinn und treuherziges Beharren in jeglichem wackeren Vornehmen durch gute und böse, durch harte und linde Zeiten, durch schlimme Tage und schlimmere Nächte seinen Weg als ein fester, wirklicher und wahrhaftiger Mann sich in das Vaterland und zu dem alten Erbsitz zurückgebahnt hatte. Wenn nichts in der Welt fest stehenbleibt als ein wirkliches und wahrhaftiges Kunstwerk, wenn alles andere vorbeigehend ist, so hatte dieser Mensch in seinem Leben ein echtes und gerechtes Kunstwerk fest hingestellt, zum Trost und zur Nachahmung für alle, die das Glück hatten, ihn kennenzulernen. Das war old German-text-writing in der vollsten Bedeutung des Wortes, eine leserliche, dauerhafte Schrift mit allen ihren kuriosen Schnörkeln und Verzierungen! Wer darin seine Autobiografie niedersetzte, der konnte gewiss sein, dass sie manchem kommenden Geschlecht von Kindern und Enkeln merkwürdig, rührend und ermutigend sich in das Gedächtnis prägte. Und das deutsche Volk hat wahrlich dergleichen monumenta germanica recht sehr nötig; denn wenn unsere großen Leute dann und wann vielleicht weitherziger als die irgendeines anderen Volkes sind, so sind dagegen unsere kleinen häufig in ebendem Grade kärglicher, kleinlicher, engherziger, mürrischer und unzufriedener als irgendeine Menge, die eine andere Planetenstelle bewohnt; und – ach, wie oft hatte ich mich in den letzten Stunden im ganz geheimen an die Brust geschlagen und geseufzt: Gott sei mir Sünder gnädig! Ich seufzte es aber auf Griechisch: Ο θεος ιλασθητι μοι τω αμαρτωλω, – wahrscheinlich, wie es mir jetzt vorkommt, um in der Befähigung dazu einen Trost zu finden, denn Griechisch konnte der Vetter wenigstens doch nicht!
Aber er erzählte nun davon, wie er seine alte Jule aus Bodenwerder abgeholt und im Triumph nach dem Steinhofe zurückgebracht habe, und das war wiederum mehr als Griechisch und Sanskrit.
»Ich hatte ihr natürlich«, berichtete er, »auch von Amerika aus von allem Guten, was mir zuteil wurde, das ihr Gehörige zukommen lassen; aber der Tag, an dem ich selber heimkam, war doch das Beste sowohl für sie wie auch für mich. Schade, dass ich euch – dich, Irene und Ewald – nicht von Schloss Werden dazu herüberholen konnte! Gottlob, Eva Sixtus und ihr Vater sind wenigstens dabeigewesen und mit von neuem auf dem Steinhofe eingezogen. Dass die ganze Umgegend auf den Beinen war, kannst du dir wohl vorstellen. Freilich bei mehr als einem guten Freunde, mit dem ich von meinem jammerhaften Abschiede her einen Schinken im Salze hatte, habe ich wohl ein Auge zudrücken müssen, wenn er mir am liebsten als mein allerbester Freund um den Hals gefallen wäre; aber ich habe es gern getan. Je mehr man sich den Wind draußen in der wilden Welt um die Nase hat wehen lassen, desto bescheidener wird man in seinen Ansprüchen an den Charakter der Menschheit und nimmt am guten Tage still mit in den Kauf, worüber man am schlimmen vor Wut und Ärger aus der Haut fahren möchte. Zwischen der alten Jule und manchem früheren guten Haus- und Hof- und Jagdfreunde ging es freilich nicht so glatt ab, und manch einer bleibt heute noch ihretwegen weg vom Hofe, der meinetwegen wieder ganz behaglich seine Beine unter unserem Tische ausstrecken könnte. Die Weiber sind in diesen Dingen nämlich von einem viel besseren Gedächtnis als wir Männer, Fritze; und Gnade Gott manchem armen Sünder, wenn sie es durchsetzen und am Jüngsten Gerichte Sitz und Stimme kriegen. Gnade für Recht ergeht da gewisslich nicht; – selbst bei unseren deutschen Frauenzimmern nicht, welche immer noch die besten sind und die harmlosesten, was gleichfalls eine von meinen amerikanischen Erfahrungen ist und die ich auch dir jungem Menschen, Fritzchen, mitgebracht haben will. Und es soll mich recht freuen, wenn du noch Gebrauch davon machen willst. Aber das ist ja alles nur beiläufig, nimm’s nicht übel; ich sage dir, Doktor, den Weg von Bodenwerder nach dem Steinhofe hättest du an dem Tage sehen sollen! Und dann unsere Ankunft auf dem alten ausgemergelten, nichtsnutzigen Haferacker – weißt du, an der Fenz – nein, Gott sei Dank, an der echten, richtigen Weißdornhecke und dem Plankenzaun, über den ihr mich so oft angecheer’t habt. Wenn es in meiner Erzählung hiervon etwas kraus durcheinandergeht, so gehört auch das zu dem Spaß, denn es kommt einzig und allein daraus her. Sonst kann ich jetzt unter Umständen recht gut bei der Stange bleiben. Ich hatte selbstverständlich mich schon ein paar Wochen vor unserem Haupteinzuge auf dem Hofe installiert. Junge, und ich habe die ersten Nächte in meinem Erker auf Stroh geschlafen; und – o! – so hat lange keiner in dieser Welt der Plagen und schweren Sorgen und Arbeiten die Beine von sich gestreckt und die Arme unter dem Hinterkopfe zusammengelegt, mit dem Blicke an den alten kahlen Wänden herum und durch das Fenster in die Nacht hinein und dann in den dämmernden Morgen! Ich habe da wie ein König geschlafen, denn ich habe den größten Teil der Nächte verwacht; aber dagegen waren es sehr angenehme schlaflose Nächte. Ihr waret alle darin eingeschlossen wie ich selber von meinem