Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.hatte, so würde mir das leicht genug werden. Ich könnte aber auch den nächsten guten Bekannten oder den ersten besten Unbekannten in der Gasse anrufen, um es mir von ihnen bestätigen zu lassen, wie viel der Mensch mit sich selber zu tun hat und wie wenig Zeit und Nachdenken ihm für den liebsten Freund übrigbleibt, wenn sich eine Wand eine Stunde, einen Tag oder gar ein Jahr zwischen ihn und uns gelegt hat.
Ich habe jahrelang nur gewusst, dass Eva Sixtus in der alten Heimat dem alten Vater immer noch haushalte, dass Ewald in seinem Beruf als Ingenieur in Irland tätig sei und dass Irene von Everstein verheiratet in Wien lebe. Von dem Vetter Just habe ich gar nichts gewusst. Ich erlebte es noch als Student, dass der Steinhof subhastiert wurde und weit unter seinem Wert an einen Landsmann fiel, der schon längst ein freundlich-begehrliches Auge darauf geworfen hatte und einst ebenfalls zu den fröhlichsten und behaglichsten Gastfreunden und Jagdgenossen des Vetters gehörte.
Dass Schloss Werden gleichfalls unter den Hammer kam und unter dem Werte einen Liebhaber fand, erfuhr ich brieflich durch meine Mutter, die dann zu mir ins Rheinland zog und daselbst, wie gesagt, in meiner Kollaboratorwohnung nach längerem schweren Leiden sanft gestorben ist.
Jule Grote sollte immer noch in Bodenwerder wohnen, doch das war ein Gerücht, von dem ich nicht einmal angeben kann, wie es zu mir gelangte. Ich hatte viel zu viel mit meinem Griechischen und Lateinischen, meinen mittelalterlichen Geschichtsquellen, modernen Geschichtsschreibern und parlamentarischen Tagesgrößen zu schaffen, um mich viel um Jule Grote kümmern, mich bei ihr aufhalten zu können. Es ist ja eben kein Aufenthalt in dieser Welt bei den besten Dingen – und bei den besten Freunden auch nicht; und wenn alle Lebenskunst am Ende nur darauf hinausläuft, sich unabhängig von den mitlebenden Menschen und Dingen zu machen, so ist das eigentlich gar keine Kunst, sondern uns allen höchst natürlich.
Nun nahm ich seit verhältnismäßig langer Zeit alles als etwas, was sein konnte, jedoch nicht zu sein brauchte. Es gewährte mir häufig das bekannte egoistisch-kitzelnde Behagen, dass die Tage, an denen auch ich dann und wann grimmig und selbstüberzeugt rief: »Nun soll es sein!«, hinter mir lagen.
Die süße und sonnige, wälderrauschende, ewige Frühlings- und Erntefeste feiernde Zeit von Schloss Werden lag auch hinter mir, und man hat es mir im Lesezimmer der Königlichen Bibliothek nie angemerkt, dass mir bei meiner närrischen Kompilationsarbeit die Erinnerung daran irgendwie hinderlich in den Weg trat und mich vielleicht geduldig stimmte, wenn ein mir augenblicklich nötiges Werk ausgeliehen war und bei einem, wie Freund Ewald seinerzeit sich ausgedrückt haben würde, »dummen und langweiligen Kerl« lag, der doch nichts damit anzufangen wusste.
Mir wird bedenklich flau zumute, wie ich alles dieses hier niederschreibe, und ich denke, offen gestanden, mit einigem Grauen an die möglicherweise doch eintretende Stunde, in der ich diese Seiten mit ihren liebenswürdigen Selbstbekenntnissen wieder überlesen werde. Es ist immer eine sonderbare, heikle Sache um das Wiederlesen im eigenen Lebensbuche! An welche Leser ich mich aber mit dem eben Niedergeschriebenen wende, weiß ich, Gott sei Dank, nicht. Mündlich hätten mich wohl nicht sehr viele aussprechen lassen, sondern das meiste von sich aus anders und besser zu berichten gewusst. Und es ist gut so, denn es ist die gute Meinung, die die Welt von sich hat und lebhaft geltend macht, die diese sonderbare Universitas aufrecht und im Gange erhält. Was sollte aus ihr, der Welt, werden, wenn jeder es vermöchte, den anderen ruhig aussprechen zu lassen? Eine recht objektive Welt, aber eine vielleicht doch etwas zu ruhige – so etwas wie ein Universalkirchhof vielleicht, voll sehr weise im Lapidarstil redender Leichensteine. Der Herr erhalte uns also im recht fröhlichen Kriege gegeneinander, solange es ihm gefällt, uns überhaupt zu erhalten!
Zwölftes Kapitel
Ob er wirklich so existiert, wie wir ihn aus tausendfachem Zusammentreffen mit ihm kennenlernen, lassen wir eine offene Frage bleiben. Wie wir ihn in unsere philosophischen Systeme einzureihen belieben: im praktischen Dasein bleibt er verteufelt mehr als ein bloßes Wort oder ein Begriff. Er ist und bleibt der Herr und Gebieter. Und im Gegensatz zu den übrigen Erdenherren und Erdengebietern lässt er sein Kommen vorher durchaus nicht ankündigen, weder durch die drei Stöße mit dem Marschallstabe auf den Parkettfußboden noch durch Posaunenstöße, durch das Hervorrufen der Wachen, den obligaten Trommelwirbel, das Präsentieren der Gewehre und das Senken der Fahnen. Die Erdenherren vor allen übrigen Sterblichen wissen es am genauesten, dass er auch dazu – viel zu vornehm ist: er, der Zufall nämlich.
Von der Suppe aufsehend bei meinem altgewohnten, tagtäglichen Speisewirt, fand ich ihn mir plötzlich wieder einmal gegenüber, und der Löffel entfiel meiner Hand. Der Löffel ist der Hand viel größerer Philosophen, Geschichtskenner und dergleichen Leute bei derartigen Gelegenheiten entsunken, und sie haben es hoffentlich stets für eine Gnade gehalten, wenn ihnen der Appetit nicht für längere Zeit oder gar für immer verdorben wurde.
Gottlob war das letztere bei dieser Gelegenheit bei mir nicht der Fall; aber die Erstarrung blieb dessenungeachtet für längere Zeit die nämliche, bis sich das sie in ihr Gegenteil, die höchste Bewegung, auflösende Wort fand:
»Vetter!… Der Vetter Just!«
Je unmöglicher es erschien, desto bedingungsloser drängte sich die Gewissheit auf, dass er es war. Ja, er war es! Er war es unbedingt!… Ausgeweitet nach allen Dimensionen; mit einem Ansatz zwar zu einer hohen Stirn, sonst jedoch in keiner Weise infolge seines landwirtschaftlichen Bankerottes verfallen und zu einer selbstgelehrten Ruine geworden, sondern auch – ganz im Gegenteil!…
Er war es ganz gewiss, und zwar mit einem gewissen, völlig undefinierbaren Anstrich vom Exotischen, einem ihm ganz sonderbar gut passenden Anflug von Amerikanertum. Wäre einer von den Göttinger Sieben seinerzeit nach Amerika ausgewandert, so hätte er so zurückkommen können; Professor Gervinus vielleicht ausgenommen. Es war wundervoll!
»Just Everstein!« stammelte ich noch einmal, mehr gegen mich selber als gegen diese unvermutete Erscheinung am Berliner Wirtstische gewendet; und nun legte auch sie, die Erscheinung, oder er, der Vetter Just, Messer und Gabel nieder, legte dann gleichfalls erstaunt einen Augenblick lang beide Hände auf den Tisch, erhob sich dann langsam, bog sich über, warf das Salzfass um, was beiläufig diesmal ausnahmsweise kein übel Omen war, und rief ganz mit der alten unveränderten Stimme vom Zaun oder der Haustürtreppe