Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.wie irgendeine Jungfer im durchlauchtigsten Deutschen Bunde. Und doch ziert er sich nicht. In seinem Kauen, Schlingen und Schlucken gibt er ganz naiv und auch etwas geschmeichelt Nachricht von sich. Eva findet ihn im geheimen rührend, Irene von Everstein rührend-komisch, Herr Ewald Sixtus »einfach zum Wälzen!« und ich – ich finde, dass sie alle recht haben in ihren Meinungen von ihm; denn ich bin leider am festesten davon überzeugt, ihn längst herausgefunden zu haben, und zwar als einer von den ersten. Gütiger Himmel!
Gütiger Himmel! O du lieber Gott!… Das ist auch so ein Ausruf, durch den sich der Mensch Luft macht, ohne dabei viel an das zweite Gebot zu denken.
Ich stütze den Kopf auf die Hand, und die Rechte, die ihre Federzüge weiterführt, ist nicht mehr imstande, auf jedes Komma und jeden Punkt zu achten. Ist es möglich, dass die Sonne so hell und der Mensch so sorgenlos sein kann? Wir haben es an unserem eigenen Leibe und in unserer eigenen Seele erlebt; also möglich muss es doch wohl sein! Ich habe bis jetzt meistens im Präsens geschrieben: in den Zeitformen der Vergangenheit fahre ich von jetzt an fort zu schreiben.
Unser Behagen an dem guten Tage, an der guten Stunde war wieder einmal auf das Höchste gestiegen, als Jule Grote den Kopf in die Tür steckte und uns benachrichtigte:
»Es steht ein Mann draußen, der will die jungen Herrschaften sprechen; und hier ist ein Brief für dich, Just. Der Landbriefträger von Bodenwerder hat ihn auch eben gebracht; aber er hatte es eilig, und was darin steht, wusste er nicht.«
»Hurra!« riefen Just, Ewald und ich, die Mädchen sahen lächelnd auf und nach der Tür. Dass uns da etwas Unangenehmes oder gar noch etwas viel Schlimmeres kommen könne, fiel uns nicht in den Sinn. Die ganze Welt: die Erde, dieser treffliche Bau, dieser herrliche Baldachin, die Luft, dies wackere umwölbende Firmament, dies majestätische Dach, mit goldenem Feuer ausgelegt, – war alles in zu guter Ordnung, als dass wir uns auch nur den allergeringsten Riss durch es hätten vorstellen können.
»Man hat doch keinen Augenblick vor ihnen Ruhe!« hatte Ewald gerufen und war aufgesprungen, um den Boten von Schloss Werden hereinzuholen oder draußen auszufragen nach dem, was man von uns wünsche. Der Vetter hatte seinen Brief ruhig neben seinen Teller gelegt und nur gesagt:
»Er ist von Stakemann in Bodenwerder. Weshalb kommt der alte Junge nicht selber, wenn er mir was zu sagen hat? Na ja, es ist eben keine Jagdzeit.«
Er wischte langsam und behaglich die fettglänzenden Finger an seiner Lederhose ab, ehe er das Schreiben von neuem aufnahm und es erbrach. Als Gelehrter wusste er natürlich, dass man jedwedes Schriftstück mit dem gehörigen Respekt (selbst wenn es nur vom Freund Stakemann in Bodenwerder war) und vor allen Dingen mit Reinlichkeit zu handhaben habe.
»Komm doch mal heraus, Fritz«, sagte Ewald Sixtus dann von der Schwelle, und auf seinem Gesicht war keine Spur mehr von der Lust der Minute vorhanden.
»Was ist denn?« fragten die beiden Mädchen immer noch lachend; doch schon im nächsten Augenblick hatten sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Vetter Just Everstein zu richten, der mit seinem jetzt geöffneten Briefe in der Hand wortlos und mit offenem Munde dasaß, dann sich über die Stirn strich wie einer, dem der kalte Angstschweiß ausbricht, wieder das Geschreibsel ansah, aber doch nur, als ob er den Inhalt desselben träume, dann die Hand schwer auf den Tisch und auf seinen Teller fallen ließ, dass die Scherben davon nach allen Richtungen hin auseinanderflogen, und zuletzt aufstand und starr dastand und in jenen Riss blickte, der einem jeden zu irgendeiner Stunde mehr oder weniger durch sein Universum gegangen ist. Die Wand und die Stubendecke fällt wohl nicht so leicht ein, wohl aber das mit goldenem Feuer ausgelegte Firmament – die ganze Welt, wie wir sie uns dachten in unserer Unerfahrenheit von ihr.
Den Boten hatte uns meine Mutter eine Stunde nach unserem Weggange von Schloss Werden nachgejagt. Der Herr Graf war in einem Gartenwege vom Schlage gerührt, gelähmt und bewusstlos aufgefunden worden. Als der Bote sich aufs Pferd warf, lebte der arme Herr zwar noch; aber es stand schlimm mit ihm, und – »die Frau Langreuter wäre am liebsten selber gekommen, um die gnädige Komtesse nach Haus zu holen«, sagte der Bote. »Was ich sonst vernommen habe, ist, dass kurz vor dem Unglück ein Brief von dem Herrn Doktor Schleimer in Bodenwerder angekommen war.«
Das war ein jäher Schrecken, der an dieser Stelle kurz abgemacht werden muss.
Den Brief hatte der gute Freund des Vetters aus Bodenwerder geschrieben, und er lautete:
»Pass auf, Vetter Just! Seit vorgestern fehlt der Doktor Schleimer, und seit heute Morgen ist es sicher, dass er, wenn er es irgend möglich machen kann, fürs erste nicht nach Hause kommen wird. Du solltest das Aufsehen hier sehen; aber natürlich hat’s jetzt jeder längst vorausgewusst. Ob ihn die Gerichte durch ihre Steckbriefe und Signalements wieder einholen werden, ist die Frage. Aber eine andere Frage ist’s, wie Du eigentlich mit ihm stehst. Du weißt, er hatte einen sicheren Schuss, das muss man ihm lassen; aber dass er auch zu anderen Dingen als bloß zur Jagd nach dem Steinhof hinaufgekommen ist, glaubt mehr als einer, der manchmal nach Euch hingehorcht und seine Augen offen gehabt hat, z. B. ich. Kannst Du ihm ruhig nachsehen, so ist’s mir sehr lieb, und ich bitte Dich, gib baldigst Nachricht, dass ich aus der Sorge komme. Hast Du da Dreck am Stecken, so bin ich Dein Freund und habe Dich hiermit verwarnet. Du bist dann aber zu Deinem Trost der einzigste nicht, der sich vor Gift die Haare auszuraufen hat. Hier sind Dutzende, die dem Notar den Kalk von den Wänden herunter nachfluchen, und darunter am meisten die, welche mit dem urfidelen Kerl (und das war er!) auf der Kegelbahn und an unserem runden Tisch beim Posthalter Brüderschaft gemacht oder ihn zum Gevatter gebeten haben. Aber das will noch gar nichts sagen; meine feste Überzeugung ist, dass der Gegend das richtige Licht erst dann aufgesteckt wird, wenn es jeder von Euch biederen Landleuten zu den Akten gegeben hat, wie er unter Euch gewirtschaftet hat. Wahrhaftig, mir sollte es recht leid tun, Vetter, wenn Du auch in diesem Falle mit zu seinen besten Bekannten gehörst, und ich kann nur wünschen, dass Dir Dein verrücktes Latein und sonstige unsinnige Liebhabereien zum ersten Mal was genützt und zu dem richtigen Misstrauen in Geldsachen und Unterschriften gegen die Menschheit verholfen haben. Dieses alles habe ich Dir als Freund geschrieben; denn dass es mir recht käme, wenn dem Steinhofe durch solchen abgefeimten, nichtswürdigen Spitzbuben und Durchgänger ein Malheur passierte, wirst Du wohl aus alter Bekanntschaft und von wegen der vielen vergnügten Stunden daselbst nicht meinen«, usw.
Der Vetter Just stand auf, setzte sich wieder, ließ die Hände matt und flach auf die Knie fallen und stöhnte:
»Kinder, das ist freilich wohl für uns alle die letzte vergnügte Stunde auf dem Steinhofe gewesen. O Fräulein