Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.es war auch nicht von Bedeutung. Auch von unserem Heimwege durch den heißen, glühenden Tag ist wenig zu reden. Weiße schwere Wolken wälzten sich, als wir in dem morschen Kahne des Vaters Klaus wieder auf dem Flusse schwammen, über die Berge empor und in das lichte Blaue hinein! Irene lag auf der Bank, mit dem Kopfe an Evas Brust, Ewald hatte eine Ruderstange ergriffen, blickte von Zeit zu Zeit auf die beiden Mädchen und nahm ingrimmig unserem Charon den schwersten Teil seiner Arbeit ab. Ich ließ mir wieder die Flut des Stromes über die heiße Hand spülen; aber Kühle war nicht in dem Wasser.
»Ich weiß es wohl, dass es da nicht gut steht«, flüsterte mir der weißhaarige Schiffs- und Fischersmann beim Aussteigen zu, indem er verstohlen mit dem Daumen nach den heimatlichen Bergwäldern deutete. »Jaja, junger Herr, es fließt alles hin wie das da!«, und er deutete auf seinen Fluss.
Das war kein neues Bild; ich aber sah doch auf die eiligen Wasser zurück und fand den Vergleich von neuem tiefsinnig und einzig zutreffend. Wie kommt es, dass wir den Eindruck der höchsten Weltweisheit nie aus dem Verkehr mit den Herren vom Metier, wohl aber gar nicht selten aus der Bekanntschaft und dem Umgange mit dem Vater Klaus in seiner Fischerhütte, mit der alten Tante in ihrem Erkerstübchen und mit dem Unbekannten, dem wir seit vier Wochen täglich in der Gasse begegnen und mit dem wir noch nie ein Wort gesprochen haben, – ziehen?! Weil es die Gemeinplätze, d. h. die höchsten Wahrheiten sind, auf denen unser Leben sprießt, wächst und wuchert, und nicht die hohen Offenbarungen des Menschen im einzelnen. In ruhiger Stimmung bereiten wir uns durch die letzteren wohl auf die entgegengesetzte vor, aber doch mehr, um die gute Stunde noch behaglicher zu machen: die böse Stunde hat noch keiner behaglicher dadurch gemacht.
Es donnerte hinter den Bergen – ein langgezogenes feierliches Rollen dann und wann den ganzen Nachmittag über. Wir kamen nach Hause, und der Herr Graf konnte mit seiner Tochter nichts mehr sprechen. Er starb in der Nacht. Wir anderen von Schloss Werden durchwachten sie, und wir hörten den heftigen Sommerregen in den Blättern rauschen.
Elftes Kapitel
Ich war dreißig Jahre alt geworden und, wie es in den Sternen geschrieben stand, ein Schulmeister. Ich war Doktor der Philosophie und hatte die venia docendi an der Universität Berlin. Wenn sie nur gekommen wären, um das von mir abzuholen, was ich selber gelernt hatte! Aber sie blieben aus; sie schienen der Sache nicht im mindesten zu trauen.
Zuerst versuchte ich es, mein philologisches Wissen auf einem rheinländischen Gymnasium an die Jugend zu bringen; jedoch bekam ich bald von maßgebender Stelle herunter den Rat, diesen Versuch aufzugeben. Man verwies mich zwar nicht offiziell dabei auf meine wirklich etwas hohe Schulter; aber man zuckte doch nur die Achseln, wenn die Jungen lachten und meine Autorität gleich Null blieb.
Die Kirche, die immer den Nagel auf den Kopf trifft, hat auch darin recht, dass sie keinen mit irgendeiner auffälligen Gebrechlichkeit Behafteten unter ihren öffentlichen Dienern leiden will. Sie hat selbstverständlich ihre Würde zu bewahren, selbst auf Kosten ihrer besseren Überzeugung. Hat sie der Schadenfreude und der Lust am Lachen unter ihren Lämmern ein testimonium divitiarum auszustellen, so tut sie es und fühlt nachher nicht das geringste Bedürfnis, sich die Hände zu waschen, wie weiland der römische Prokurator Pontius Pilatus.
Ich ging und überließ es besser gewachsenen Oberlehrern und Kollaboratoren, die blonde und blauäugige Jugend der Germanen zum Einjährig-Freiwilligen-Dienst und auf das Abiturientenexamen vorzubereiten.
Was ich dann trieb? Ich war stark im Griechischen und Lateinischen. Einer Lieblingsneigung wegen hatte ich mich auf das Auffinden und Nutzbarmachen mittelalterlicher Geschichtsquellen geworfen, und man hat mich draußen eine Zeit lang schändlicherweise im Verdacht gehabt, Doktordissertationen aus vielerlei Fächern im Vorrat anzufertigen, auf Lager zu halten und sie bei sich bietender Gelegenheit gegen jedes Honorar unter dem Siegel der Verschwiegenheit (Diskretion selbstverständlich) zu verschleißen.
Dies ist eine schnöde Verleumdung! Ich habe nur einem Menschen zum »Doktor« verholfen, und der bin ich selber; und, um eine Redensart der Πολις anzuwenden: was ich mir dafür kaufen konnte, war unbedeutend.
Aber es nennen sich manche Leute Geschichtsforscher und edieren Monografien, Volks- und Völkerhistorien und haben seltsamerweise vor den Quellen gerade eine so große Scheu wie vielleicht in ihrer Jugend vor dem Quellwasser, wenn es am Sonnabendabend zu einer gründlichen Reinigung ihrer Person verwendet werden sollte. Für diese und ähnliche Herren war ich und bin ich der rechte Mann. Als wirklich geheimer Mitarbeiter bin ich denn auch für mehr als einen Parlamentarier schätzbar, und manches »Hört, hört!« und manches »allgemeine Beifallsgemurmel« wäre eigentlich auf meine Rechnung und nicht die des »verehrten Vorredners« und weit und tief blickenden Realpolitikers auf der Tribüne der gegenwärtig tagenden hohen politischen Körperschaft zu setzen.
Was ich mir hierfür kaufen konnte, war etwas, wenngleich nicht viel mehr als das, was mir die Sprachen der Griechen und Römer zu Utilitäts- und Luxuszwecken und Ausgaben abwarfen.
So ging es mir denn erträglich nach Wunsch, und sogar was den Luxus anbetrifft; das jedoch erst seit dem schlimmen schwarzen Tage, an dem ich meine gute Mutter verlor und leider nicht mehr für ihr Behagen in ihren Greisenjahren zu sorgen hatte. Ich saß im Winter warm zu Hause, ich speiste in einer der Restaurationen mittleren Ranges der Stadt, und ich konnte mir dann und wann ein Buch, wenn auch nur antiquarisch, anschaffen: auf dem hohen Standpunkte wohlangewendeter Lehrjahre, der sich in dem französischen Wort »Je ne lis plus, je relis seulement!« darlegt, bin ich auch bis heute noch nicht angelangt, hoffe ihn aber dermaleinst zu erklimmen.
Mein »Zu Hause« bestand in einer bescheidenen Junggesellenwohnung im vierten Stockwerk eines Hauses in der Mittelstraße. Ich besaß wohl eine eigene Bibliothek, aber keine eigenen Möbel.
Ich hatte harte, steinige Pfade gehen und meine Wege häufig recht heftigem Winde, argen Staubwirbeln und unbehaglichem Regenschauer abkämpfen müssen. Selbst in den äußerst seltenen Momenten, wo ich mich für einen äußerst gescheuten Menschen dabei hielt, zog ich wenig Genuss und Befriedigung daraus, nämlich aus dem, was die Nebenmenschen gewöhnlich etwas spitzig eine äußerst glückliche Selbstüberzeugtheit zu nennen pflegen. Und nun genug hiervon. Wie kurz und abbrüchig ich dieses alles hingeschrieben habe, so habe ich es doch nur wie jeder andere gemacht und