Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.Justs Bettsponde ein, in welcher der Vetter, ganz entgegen der landesüblichen Gewohnheit, auf Stroh schläft und auch nicht unter dem gewohnten Federgebirge und kugelartigen Deckbett.
»Er ist ein Monster in allem, was er tut und lässt!« stöhnt Jule Grote jedes Mal, wenn sie den Schlüssel in der Tür steckend findet oder ihn sich mit Gewalt erobert.
Der Vetter, der meinen Arm auch auf der Treppe nicht losgelassen hat, befördert mich mit einem plötzlichen Schub und Stoß in die Mitte seines Heiligtums. Hastig verschließt und verriegelt er die Pforte von innen, dann wendet er mir ein von verschämtem, aber glückseligstem Lächeln verklärtes Gesicht zu und seufzt aus tiefster Brust:
»So! Nun lass sie kommen!… Willst du eine Zigarre, Fritz?«
Ich weiß, obgleich ich selber nichts weiter als ein »dummer Junge« bin, womit ich dem alten wundervollen Jungen in diesem Raume zu Gefallen sein kann wie niemand sonst in der Welt. Und die Luft in diesen engen vier Wänden muss von sonderbaren Sporen und Keimen erfüllt sein: Dschinnistan ist für uns beide da; die träge Verdauungsstunde unter den Bäumen des Grasgartens, aus dem wir eben die Treppe heraufgekommen sind, ist wie in ein fern vergangenes Jahrhundert entrückt. Ich sitze auf dem Bette des Vetters, und er hält mir das brennende Schwefelholz an den dargebotenen Glimmstengel und flüstert glänzenden Auges:
»Langreuter, ich habe ihn heraus!«
Es ist ein süßes Blatt, das ich da verqualme; aber ins Husten gerate ich doch darüber und zwischen dem Husten frage ich:
»Wen hast du heraus, Just?«
Ein Schlag auf die Schulter wirft mich zurück auf den Strohsack und mit dem Hinterkopf an die Wand.
»Den Magister matheseos!… Es ist, weiß Gott, richtig! Das Quadrat der Hypotenuse ist wahrhaftig so groß wie die Summe der Quadrate der beiden Katheten am rechtwinkeligen Dreieck!«
Ich reibe mir wohl den Hinterkopf ein wenig; aber so betäubt haben mich der körperliche Puff und die geistige Überraschung doch nicht, dass ich nicht mit Herz und Seele, mit Armen und Beinen und vor allem mit einem Hurra aus gesunder Lunge an der wissenschaftlichen Errungenschaft des Vetters teilnehmen könnte.
»Das ist famos! Das ist brillant! Just, das ist großartig!… Und ganz allein aus dir selber; – das ist riesig –«
»Ich habe dich auch bloß dazu mit hier heraufgenommen. Jetzt brauchst du nur noch zu brüllen: Das ist borstig! Das ist haarig! – und wir können wieder zu Ewald und den Mädchen in den Garten hinuntergehen, Fritz!«
Es kommt einem gewöhnlich erst, lange nachdem man alle seine Examina hinter sich hat, wie schwer es ist, mit den wirklichen großen Herren aus Dschinnistan umzugehen, und – den meisten kommt es gar nicht. Die lobwürdigsten Examina in sämtlichen Brotfächern tun da nicht das geringste zur Sache. Mit wahrer Subtilität will nur immer das behandelt sein, was hinter dem berühmten Kanzler Oxenstjerna steckt, nicht der wenige Verstand in ihm – nach seinem eigenen Wort –, der dazu gehört, um die Welt militärisch und ziviliter zu verwalten.
»Du hast recht, Vetter«, sage ich kleinlaut zurück; »vergib mir nur noch mal das Dumme-Jungen-Betragen. Na, alter Kerl, gib mir die Hand. Dass ich mich riesenhaft freue, wenn es dir gut geht, weißt du ja. Und dass du ein nobler Kerl bist und zwanzigmal mehr wert als wir anderen miteinander, das weiß ich. Und jetzt komm hierher an den Tisch und beweise mir das nichtsnutzige Untier von Lehrsatz gleichfalls. Was die verdammte Bestie mich an Schweiß und Blut gekostet hat, das wissen die Götter. Und frage nur Ewald. Mathematik ist seine Force, aber drei Glatzköpfe könnten sich Perücken aus den Haaren machen lassen, die er sich darüber ausgerauft hat, und vom Oberlehrer Dr. Grimme weiß ich es fest: er trägt eine aus dem Busche, der auf Ewalds Kopf gewachsen ist, und hat sich das Material selber mit den Wurzeln ausgezogen.«
»Den Witz habe ich schon einmal anderswo in Büchern gelesen, Fritz«, meint der Vetter.
»Dann kannst du dich fest darauf verlassen, dass es gar kein Witz ist, sondern eine richtige, schreckliche Wahrheit, Just. Frage nur Ewald danach.«
Nun hängen wir über dem Tische, und der Vetter Just Everstein beweist mir den Magister. Es müsste ein gut Stück vom einstürzenden Himmel dem Erben und Meister des Steinhofes auf den Kopf fallen, um ihn zum Aufgucken zu veranlassen. Er verwickelt sich und gerät auf falsche Fährten und gerät auch sich mit der Faust in den blonden Haarwulst. Er findet sich wieder zurecht, und es wird licht und immer lichter vor und in seinen Augen. Endlich ist er siegreich durch und sein autodidaktischer Triumph vollständig.
»Hurra!… Weiß Gott, er hat den Pythagoras unter sich und kniet ihm auf der Brust!… Vetter, du bist ein Riese! Und auch dies hast du alles aus dir selber…?«
»Und aus Büchern!« sagt der Vetter Just Everstein viel verschämter als ein junges Mädchen, dem man zum ersten Mal sagt, dass es hübsch sei. Die junge Dame auf dem Ball erfährt da natürlich nichts, als was sie sich schon längst selber mitgeteilt hat; der Vetter Just aber weiß von nichts, was ihn selber angeht, und glaubt am meisten noch der Mamsell Jule Grote, die ihm jeden Tag von neuem zu hören gibt, dass er der größte Nichtsnutz, Unverstand und Tagedieb sei, den der liebe Herrgott in seinem Zorn zu ihrem Elend in die Welt und auf den Steinhof habe hinsetzen können.
Von den »Büchern« kommen wir natürlich auf des Großvaters Bücherschrank. Dschinnistan – Genieland, Geisterland öffnet seine Pforten immer weiter. Wir haben längst alle Berechnung darüber verloren, was es in Bodenwerder geschlagen haben mag auf dem Kirchturme. Wir kümmern uns nicht im geringsten darum, dass es auch auf dem Steinhofe eine Uhr gibt, die ziemlich richtig die Zeit anzeigt und von Jule Grote gewissenhaft immer von neuem aufgezogen wird.
Wir sind zum Kaffee gerufen worden und haben nur geantwortet:
»Ja, gleich. Im Augenblick!«
Irene hatte Freund Ewald die Augen mit ihrem Taschentuch verbunden, und er hat den Blinden im Blindekuhspiel recht gut zu spielen gewusst. Wir haben das helle Lachen und Kreischen wohl vernommen und dabei aufgeguckt und gefühlt, dass es in dieser engen Kammer unter dem Dache an diesem Julinachmittage ziemlich schwül sei trotz dem offenen Fenster; aber wir haben auch diesen Lockungen nicht Folge geleistet, sondern nur wiederholt:
»Ja, gleich! Wir kommen ja schon!«
Damals brummte mir der Kopf, als Ewald Sixtus zuletzt eine Leiter mit Hilfe des Hofjungen vom Schafstall herüberschleppte, sie am Hause emporrichtete und plötzlich durch jaches Erscheinen in der Fensterbank und unbändig Geschrei uns mit roten Köpfen und offenen Mäulern aus Traumland