Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.über alle Stadien des Verfalles kopfschüttelnd Buch hielten; aber unverantwortlicherweise ersuchte der arme Mann keine, zu seinem Besten einzuschreiten und die Zügel des Hauses zu ergreifen.
So vermehrte sich denn die Bibliothek des Witwers ebenso bedenklich, wie sich alles übrige, was doch auch zum Leben gehört, verminderte. Wirtschafterinnen, Haushälterinnen, Dienstmädchen betrachteten ihn als eine gottgegebene Beute und schoren ihn wie ein Schäflein, allen teilnehmenden und entrüsteten Witwen und Jungfrauen frech vor der Nase. Kein Prätendent, der je auf den Thron seiner Ahnen gelangte, hatte auf dem Wege zu demselben mit größern Schwierigkeiten zu kämpfen als Serena Reihenschlager auf ihrem Wege zur Herrschaft in ihres Vaters Hause.
Seltsamerweise war ihr nicht vom Papa, sondern von der Mama der Name Serena in der Taufe beigelegt worden; aber zu ihrer Charakterbildung hatten Vater und Mutter ein gleiches Teil beigetragen, und darin lagen die Keime ihres Sieges verborgen. Es kam der Tag, an welchem sie die Zügel, nach welchen so viele andere Damen gestrebt hatten, endlich mit ihren eigenen kleinen Händen ergriff, und das war alles in allem genommen ein sehr segensreicher Tag für den Professor Reihenschlager. Nun kehrte die Ordnung schnell wieder ein in Haus und Hof, in Küche und Keller. Das Haus war nicht länger eine Herberge der Ungerechtigkeit und jeglicher Wüstenei, der Garten war nicht mehr eine unromantische Wildnis von Brombeeren, Brennesseln, Schierling und ausgewuchertem Spargel; der Professor selber erschien nicht länger als ein Greuel in den Augen der Menschheit. Die koptische Weisheit quoll nicht länger aus dem Loch im Ärmel, und niemand, der hinter dem Professor herging, konnte nunmehr den Kragen seines Rockes als Spiegel benützen. Die Bibliothek vergrößerte sich nur im richtigen Verhältnis zu den Zahlenreihen des Haushaltungsbuches.
Da stand sie – Fräulein Serena Reihenschlager – neunzehnjährig, aber mit der festen Gewissheit im Busen, im nächsten Monat zwanzig Jahre alt zu werden. Da stand sie hinter dem Busch, diese Tochter einer grade nicht sehr glücklichen Ehe, dieses Kind des Geschreies und der Unordnung, reinlich und rundlich, treuherzig und bieder, ein gutes Mädchen, auf welches man sich überall und unter allen Umständen verlassen konnte! Da stand sie, nicht zu groß und nicht zu klein, mit Augen, die etwas von einem Hausmärchen am Winterabend und von einem Lied beim Heumachen im sonnigen Monat Juni an sich hatten; da stand sie hinterlistig hinter dem Busch und spitzte die Ohren wie jede andere Tochter Evas, welche nicht aus der Art schlug. Ehe wir jedoch die ihr so ungemein interessante Unterhaltung der beiden Herren unsern Freunden vor den Blättern dieses Buches mitteilen, haben wir noch einige Zeilen dem Papa Reihenschlager zu widmen.
Er sah nicht aus wie ein Mann, der gewohnt ist, stets seinen Willen durchzusetzen. Er trug die Schultern hoch und den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Die Hände hatte er sehr tief in die Taschen seines schwarzen Rockes gesenkt, und er konnte es, denn seine Arme waren lang genug. Sein Haar war weiß und hing weit über den Kragen des Rockes hinunter; eigentlich merkwürdig an ihm war nur die breite, klare, reine Stirn; aber sie machte ihn auch zu einem der beneidenswertesten Bürger dieser Welt und entschädigte ihn reichlich für alles, was er im Leben erdulden musste, und die Summe desselben konnte nicht gering sein, wie wir wissen. Innere und auswärtige Kriege, alle täglichen und nächtlichen Widerwärtigkeiten des Ehestandes, Regentage, Frostbeulen, Scheuerlappen, Haar- und Reisbesen mochten über den Mann hereingebrochen sein und ihr Ärgstes an ihm versucht haben: diese glorreiche, weiße Stirn hatte zuletzt doch den Sieg behalten. Seinen echten, wahren Willen hatte der Professor Reihenschlager immer durchgesetzt!
Serena Reihenschlager besaß ein sanftes Herz; allein in diesem Augenblick stampfte sie jedes Mal ärgerlich mit dem Füßchen auf, wenn das Gespräch der beiden Herren wieder in das Koptische zurückfiel oder ein Rauschen in den letzten Blättern des Jahres einen Teil der Unterhaltung ihrem Verständnis entzog. Wir halten es für ein großes Glück, dass uns von dieser Unterhaltung nichts verlorenging.
Die Sache hatte ungemein gelehrt angefangen!
»Was ist der Ursprung der Sprache? Ein ungeschlachter Naturlaut aus vollem Halse!« sagte der Professor beim Eintritt in den Garten. »Der Urmensch verwundert sich ungeheuer, und alle Verwunderung ist O A! Bekommt der Urmensch einen Tritt, wirft man ihm ein Loch in den Kopf, stößt er mit der Kniescheibe gegen einen scharfen Stein, so ist der verdumpfte Vokal, das U, ganz an seiner Stelle. Der Urmensch, aber auch der moderne Mensch schließt seinen Mund und schnaubt Unwillen; der Nasenlaut verabscheut oder verneint überall, wo zwei im Namen des Geselligkeitstriebes zusammenkommen, um die Prinzipien der Geselligkeit über den Haufen zu werfen –«
»Der Mensch, und nicht allein der Urmensch verengt seinen Mund und zieht die Spitzen desselben lächelnd zurück in E I bei jedem lieben, lieblichen, vergnüglichen Anblick, und das soll für heute den Übergang aus der Wissenschaft der Sprache zu einer anderen gleich hohen Wissenschaft bilden«, sagte Hagebucher. »Herr Professor, was ist Ihre Ansicht von dem Weibe im Allgemeinen und von dem europäischen Weibe im besondern?«
Der Professor zuckte zusammen gleich einem Schuldner, welchem ganz unvermutet an einer Straßenecke die Faust des Gläubigers in die Weste greift:
»Wa – a – as?! Was wollen Sie von mir wissen? Diese Frage –«
»Erscheint Ihnen etwas wunderlich und jedenfalls sehr ex abrupto gestellt. In der Tat, ich habe sie auch noch ein wenig näher zu begründen; hören Sie mich! In der Ästhetik, der Weltgeschichte und dem sozialen Rechte habe ich mich, Wasser und Blut schwitzend, von neuem orientiert; das Individuum ist mir mehr als je ein Rätsel. Ich weiß, wie sich die Massen bewegen, wie sie sich heben und senken; dem einzelnen gegenüber bin ich heute noch gradso verloren wie an jenem Tage, an welchem der Lloyddampfer mich am Triestiner Molo absetzte, und habe ich jetzt eigentlich nichts weiter erlangt als die Überzeugung, dass jeder, der den Menschen kennen will –«
»Sich der vergleichenden Sprachforschung zu widmen hat!« suppeditierte der Professor.
»Mit dem Weibe beginnen muss!« schloss Hagebucher ein wenig grimmig seinen Satz und fuhr fort:
»Ich habe mit dem Weibe begonnen: aber ich bin nicht weit gekommen. Der Vetter Wassertreter kannte nur die Tante Schnödler und die Cousine Klementine; meine Mutter und Schwester dürfen natürlich nicht in Betracht gezogen werden; denn solche verwandtschaftlichen Beziehungen verwirren das Auge mehr, als sie es klar machen: die erste, welche mir im höchsten Glanz und Reichtum der Form und