Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
Читать онлайн книгу.noch einmal zurückgekommen?«
Wieder ging die Klingel.
»Ich werde mal nachsehen«, murmelte er.
»Nein«, bat sie. »Bleib sitzen. Wenn wir mit den Karten unterwegs gewesen wären, hätte der auch umsonst geklingelt!«
»Nur mal nachsehen, Anna!«
»Nein, mach nicht auf, Otto! Ich bitte dich! Ich habe ein Vorgefühl: Wenn du die Tür aufmachst, kommt Unglück ins Haus!«
»Ich gehe ganz leise und sage dir erst Bescheid.«
Er ging.
Sie lag in zorniger Ungeduld. Dass er doch nie und nie nachgab, ihr niemals eine Bitte erfüllen konnte! Es war falsch, was er tat; Unglück lauerte draußen, aber jetzt fühlte er es nicht, wo es wirklich da war. Und nun hält er nicht einmal sein Wort! Sie hört, er hat die Tür geöffnet und spricht mit einem Mann. Und er hat ihr doch fest versprochen, ihr erst Bescheid zu sagen.
»Nun, was ist? Rede doch, Otto! Du siehst, ich vergehe vor Ungeduld! Was ist das für ein Mann? Er ist noch nicht aus der Wohnung!«
»Es ist nichts Aufregendes, Anna. Bloß ein Bote aus der Fabrik. Der Werkmeister von der Vormittagsschicht ist verunglückt – ich muss sofort für ihn einspringen.«
Sie legt sich, nun doch ein wenig beruhigt, in die Kissen zurück. »Und du gehst?«
»Natürlich!«
»Du hast noch kein Mittagessen!«
»Ich werde schon was in der Kantine kriegen!«
»Stecke dir wenigstens Brot ein!«
»Ja, ja, Anna, sorge dich um nichts. Es ist schlimm, dass ich dich hier so lange allein liegenlassen muss.«
»Um eins hättest du doch gehen müssen.«
»Ich werde meine eigene Schicht gleich hinterher abreißen.«
»Der Mann wartet?«
»Ja, ich fahre gleich mit ihm zurück.«
»Also komm schnell wieder, Otto. Nimm heut mal die Elektrische!«
»Versteht sich, Anna. Gute Besserung!«
Er war schon im Gehen, da rief sie: »Ach, bitte, Otto, gib mir doch noch einen Kuss!«
Er kam zurück, ein wenig verwundert, ein wenig verlegen wegen dieses bei ihnen so ungewohnten Zärtlichkeitsbedürfnisses. Er drückte seine Lippen auf ihren Mund.
Sie zog seinen Kopf fest an sich und küsste ihn herzhaft.
»Ich bin dumm, Otto«, sagte sie. »Ich habe noch immer Angst. Das macht wohl das Fieber. Aber jetzt geh!«
So trennten sie sich. Als freie Menschen sollten sie sich nie wiedersehen. An die Postkarten in seiner Tasche hatten sie beide im eiligen Aufbruch nicht mehr gedacht.
Aber dem alten Werkmeister fallen die Karten sofort wieder ein, als er mit seinem Begleiter in der Elektrischen sitzt. Er fasst in die Tasche – da sind sie! Er ist unzufrieden mit sich, daran hätte er denken müssen! Lieber hätte er die Dinger zu Haus gelassen, lieber wäre er noch jetzt aus der Bahn gestiegen, um sie in irgendeinem Hause abzulegen. Aber er findet keinen Vorwand, den er seinem Begleiter plausibel machen kann. So muss er die Karten in den Betrieb mitnehmen, etwas, das er noch nie getan hat, das er nie hätte tun dürfen – aber jetzt ist es zu spät.
Er steht auf dem Klosett. Er hat die Karten schon in den Händen, er will sie zerreißen, fortspülen – und sein Blick fällt auf das mit so vieler Mühe, in so vielen Stunden Geschriebene: es scheint ihm stark, wirkungsvoll. Es wäre schade darum, eine solche Waffe zu vernichten. Seine Sparsamkeit, sein »schmutziger Geiz« hindern ihn an der Vernichtung, aber auch sein Respekt vor der Arbeit; alles, was Arbeit geschaffen hat, ist heilig. Es ist eine Sünde, Arbeit nutzlos zu zerstören.
Aber in der Jacke, die er auch in der Werkstatt trägt, kann er die Karten nicht lassen. So legt er sie in die Aktentasche zu dem Brot, zu der Thermosflasche mit Kaffee. Otto Quangel weiß sehr wohl, dass an der Seite der Aktentasche eine Naht offen ist, schon seit Wochen sollte sie zum Sattler. Aber der ist überlastet mit Arbeit und hat geknurrt, zwei Wochen werde die Reparatur wenigstens dauern. So lange hat Quangel die Tasche nicht entbehren wollen, und es ist ihm ja auch noch nie etwas herausgefallen. Also legt er die Karten unbesorgt hinein.
Er geht durch die Werkstatt zu den Ankleideschränken, langsam, schon dorthin und dahin schauend. Es ist eine fremde Belegschaft, er sieht kaum ein bekanntes Gesicht, manchmal nickt er. Einmal legt er auch Hand an. Die Leute sehen ihn neugierig an, ihn kennen viele: Ach ja, das ist der olle Quangel, ein komischer Vogel, aber seine Belegschaft schimpft nie auf ihn, gerecht ist er, das muss man ihm lassen. I wo, ein Antreiber ist er, das Letzte holt er aus seinen Leuten heraus. Aber nein, nie schimpft jemand aus seiner Belegschaft auf ihn. Wie der komisch aussieht, der hat wohl Scharniere am Kopf, der nickt damit so komisch. Still, jetzt kommt er zurück, der kann Quasseln auf den Tod nicht ausstehen, der kiekt jeden, der quasselt, in Grund und Boden.
Otto Quangel hat seine Aktentasche in den Schrank gestellt, die Schlüssel sind in seiner Tasche. Gut, noch elf Stunden, und die Karten werden aus der Fabrik fort sein, und wenn es dann auch Nacht ist, er wird sie schon loswerden, er kann sie nicht noch einmal mit nach Haus nehmen. Anna ist imstande und steht auf, bloß um die Karten wegzubringen.
Bei dieser neuen Belegschaft kann Quangel nicht seinen gewohnten Beobachterposten in der Mitte des Raumes einnehmen – wie das ratscht und tratscht! Er muss von einer Gruppe zur anderen gehen, und hier wissen sie das noch nicht alle, was sein Schweigen und Starren bedeuten soll; manche haben ja sogar die Unverfrorenheit, sie wollen den Meister ins Gespräch ziehen. Es dauert eine ganze Weile, bis die Arbeit so schnurrt, wie er es gewohnt ist, bis sie stiller sind und begriffen haben, dass es hier nichts gibt als arbeiten.
Quangel will sich gerade an seinen Aufsichtsposten begeben, da stockt sein Fuß. Sein Blick weitet sich, ein Ruck geht durch ihn: vor ihm auf der Erde, auf dem mit Sägemehl und Hobelspänen bedeckten Fußboden der Werkstatt liegt die eine seiner beiden Karten.
Es zuckt ihm in den Fingern, er will die Karte sofort heimlich aufheben und sieht, dass zwei Schritte weiter die andere liegt. Unmöglich, sie ungesehen aufzuheben. Immer wieder richtet sich der Blick eines Arbeiters auf den neuen Meister, und was die Weiber sind, so können sie es nicht lassen, ihn anzustarren, als hätten sie noch nie einen Mann gesehen.
Ach was, ich hebe sie einfach auf, ob sie es nun sehen oder nicht! Was geht das die an! Nein, ich kann es nicht tun, die Karte muss hier schon eine Viertelstunde liegen, ein Wunder, dass sie nicht schon einer aufgehoben hat! Vielleicht hat sie aber schon einer gesehen und rasch wieder hingeworfen, als er den Inhalt las. Wenn der mich die Karte aufheben und einstecken sieht!
Gefahr!