Die letzten Zeugen. Birgit Mosser-Schuocker
Читать онлайн книгу.sich auf den Perron zusammen; insbesondere fiel mir unter den Wartenden eine alte Dame in Schwarz mit ihren beiden Töchtern auf, nach ihrer Haltung und Kleidung vermutlich eine Aristokratin. Sie war sichtlich erregt und fuhr immer wieder mit dem Taschentuch an ihre Augen. Langsam, ich möchte fast sagen majestätisch rollte der Zug heran, ein Zug besonderer Art, nicht die abgenutzten, vom Regen verwaschenen gewöhnlichen Passagierwaggons, sondern schwarze, breite Wagen, ein Salonzug. Die Lokomotive hielt an. Eine fühlbare Bewegung ging durch die Reihen der Wartenden, ich wusste noch immer nicht warum. Da erkannte ich hinter der Spiegelscheibe des Waggons hoch aufgerichtet Kaiser Karl, den letzten Kaiser von Österreich, und seine schwarz gekleidete Gemahlin, Kaiserin Zita. Ich schrak zusammen: Der letzte Kaiser von Österreich, der Erbe der habsburgischen Dynastie, die siebenhundert Jahre das Land regiert, verließ sein Reich!«
Der Wiener Rechtsgelehrte und Politiker Josef Redlich notiert am 24. März 1919 in sein Tagebuch: »Gestern Abend 7 Uhr ist der Kaiser mit seiner ganzen Familie in zwei Hofzügen von Colonel Strutt geleitet von Wien respektive Eckartsau abgereist und heute in der Schweiz angekommen. Der schweizerische Bundesrat hat erklärt, dass mit Rücksicht darauf, dass der Vorfahre Kaiser Karls von Aargau ausgewandert sei, er nichts gegen die Rückkehr des Nachfahren einzuwenden habe. Dazwischen liegen 650 Jahre deutscher und europäischer Geschichte!«13
Die sozialdemokratische Arbeiter-Zeitung berichtet darüber am Montag unter der Schlagzeile »Der Ex-Kaiser mit der Familie in die Schweiz abgereist – Die Flucht durch die englische Regierung vermittelt«. Das Parteiorgan ist peinlich genau darauf bedacht, die Ausreise des Kaisers, der zwar auf die »Ausübung der Regierungsgeschäfte verzichtet«, aber nie formell abgedankt hat, als Aktion der englischen Regierung darzustellen. So sind die beiden Hofzüge von der »englischen interalliierten Lebensmittelkommission« bei der Staatsregierung bestellt worden. Die österreichische Politik will zwar den Kaiser loswerden, ihn aber nicht gewaltsam außer Landes bringen. So verstecken sich die Behörden hinter der englischen Besatzungsmacht und wollen erst eine Stunde vor Abreise der kaiserlichen Familie vom Bahnhof Stopfenreuth erfahren haben, wer im Hofzug in Begleitung von sechs britischen Soldaten und Colonel Strutt tatsächlich Platz nehmen würde. Die Regierungen liefern einander eine Scharade. Und die Schweiz tut so, als ob die Einreise des Habsburgers nichts als die Rückkehr eines Auswanderers sei. Demnach wäre das Deutsche Kaiserreich jahrhundertelang von einem Schweizer Migranten regiert worden.
Wie für Millionen andere Menschen bricht für die Treichls mit dem Ende der Monarchie eine Welt zusammen: »Wir haben den Schmerz der Eltern erlebt, als der Kaiser ins Exil ging. An genauere Erklärungen erinnere ich mich nicht, aber wir haben gewusst, es gibt keinen Kaiser mehr«, erzählt Heinrich Treichl.
Familie Treichl liest an diesem 24. März in der liberalen Neuen Freien Presse den wortgleichen Text wie in der Arbeiter-Zeitung über die Ausreise des Kaisers. Beide Blätter haben die offizielle Aussendung der »Deutsch-österreichischen Staatskorrespondenz« abgedruckt. Einzig die christlichsoziale Reichspost verweigert sich der amtlichen Stellungnahme. Die Treichls empfinden – wie viele andere großbürgerliche Familien – den neuen Staat, die Republik, als Bruch: »Für meine Eltern war das nicht mehr Österreich. ›Das eigentliche Österreich gibt es gar nicht mehr‹, so haben meine Mutter und mein Vater empfunden. Dieses Österreich, das 1918 entstanden ist, hat die Menschen geteilt. Sie waren Monarchisten, nicht im Sinne einer Partei, aber ja, sie waren welche.«
Heinrich Treichl selbst wird später keine Opposition zu diesem Staat empfinden: »Wir haben dieses neu entstandene Österreich als unser Land gesehen.« Nachsatz: »Heute vermisse ich das Österreichgefühl von damals.«
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