Die letzten Zeugen. Birgit Mosser-Schuocker
Читать онлайн книгу.wird in seinen letzten zwei Lebensjahren, die für Millionen seiner Untertanen Kriegsjahre sind, unsichtbar.
Die Monarchie ist im großbürgerlichen Hause Treichl eine Selbstverständlichkeit. »Mein Vater war Offizier in der k. u. k. Armee, bei den Kaiserjägern. Der Monarch war für ihn der Höchste: unbestritten, unantastbar. Meine Mutter stammte aus der Familie Ferstel, die hatten auch eine gewisse Beziehung zum Kaiserhaus. Ich glaube, dass sie innerlich einiges kritisiert haben, aber sie waren kaisertreu«, erinnert sich der ehemalige Bankdirektor.
Heinrich Treichl wächst in einer wohlhabenden Familie auf, bei der Erziehung der beiden Söhne werden traditionelle Werte großgeschrieben. »Meine Mutter war sehr streng, unsere Kinderfrau dafür sehr liebevoll und milde. Der Vater war nicht wirklich streng, obwohl er natürlich auch für eine gewisse Disziplin war, aber wir waren noch zu klein für ihn. Die Kinder waren damals mehr ein Frauengeschäft.«
Die Treichls leben 1916 in einer gemieteten Wohnung in der Elisabethstraße, kaum einen Steinwurf entfernt von der Wiener Ringstraße. Die Familie seines Vaters stammt aus Leogang, einer Marktgemeinde im Salzburger Pinzgau. »Die Treichls waren von einfacher Herkunft, Pinzgauer Bauern, aber sie waren österreichische Patrioten. Meine Mutter war aus einer anderen Klasse, sie war eine Baronin von Ferstel. Ihr Großvater Heinrich war der Architekt, der die Votivkirche geplant und gebaut hat. Darauf war und ist die Familie sehr stolz.«
Heinrich Ferstel hatte 1855 einen Architekturwettbewerb für den ersten Bau an der neu angelegten Ringstraße gewonnen. Sein Entwurf einer neugotischen Kathedrale überzeugte das – nicht nur – in Architekturfragen konservative Kaiserhaus. Mit dem Grundstein zur Kirche, die als Dank für den glücklichen Ausgang eines Messerattentats auf den jungen Kaiser Franz Joseph errichtet werden sollte, konnte der bürgerliche Architekt auch die Basis für ein später beachtliches Vermögen legen. Neben dem Preisgeld von 4000 Gulden und der Reputation, das erste Ringstraßengebäude bauen zu dürfen, erhielt Heinrich Ferstel prestigeträchtige Nachfolgeaufträge und einen Adelstitel dazu. Kaiser Franz Joseph erhob ihn in den erblichen Freiherrenstand. Heinrich von Ferstels Bankgebäude auf der Freyung (das heutige Palais Ferstel) beherbergte das Literatencafé »Central«.
Der Erste Weltkrieg greift auch in das Leben der Familie Treichl ein: »Mein Vater war eingerückt, für kurze Zeit. Er ist dann unabkömmlich gestellt worden, aber er war österreichischer Offizier.«
Auch die großbürgerliche Familie Molden dient dem Kaiser, wie Fritz Molden berichtet: »Mein Großvater väterlicherseits war einerseits Journalist und andererseits auch im k. u. k. Außenministerium tätig. Im Juli 1914, nach der Ermordung von Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo, hat sich der damalige Außenminister Graf Berchtold einen Entwurf für ein Ultimatum an das Königreich Serbien erbeten. Diesen Text hat mein Großvater mitgeschrieben. Der Außenminister hat ihn weitergegeben und wahrscheinlich hat ihn Kaiser Franz Joseph abgezeichnet. Jedenfalls war dieser Text die Grundlage des Ultimatums an die Serben und hat bedauerlicherweise schließlich den Ersten Weltkrieg mitverursacht.«
Berthold Molden verliert in diesem Krieg einen seiner Söhne. Ernst Molden überlebt. »Mein Vater hat in der alten k. u. k. Armee als junger Kadett gedient. Als sein Bruder, Richard Molden, 1915 in Galizien bei einer der großen Schlachten in den Karpaten gefallen war, durfte er aus der Armee ausscheiden. Es war damals ein Gesetz, dass der letzte lebende Sohn – wenn die anderen gefallen waren – nicht mehr an der Front kämpfen musste, damit die Familie erhalten bleibt. So ist mein Vater Anfang 1916 aus der Armee herausgekommen und in den diplomatischen Dienst versetzt worden. Er hat noch im selben Jahr meine Mutter geheiratet und war dann an der österreichisch-ungarischen Botschaft in Kopenhagen und hat an den Verhandlungen für einen Separatfrieden zwischen Österreich-Ungarn und Russland teilgenommen.«
Die Familie Molden hat familiäre Beziehungen zu vielen Teilen des k. u. k. Reiches: »Es gab eine starke Verbundenheit mit verschiedenen Volksgruppen innerhalb der Monarchie. Ein Beispiel ist mein Großvater Berthold Molden: Seine Eltern waren im österreichischen Schlesien zu Hause, kamen aber ursprünglich wahrscheinlich aus einem Gebiet ganz im Osten. Molden – Moldauer. Dann hatte ich noch Vorfahren, die kamen aus Italien. Dadurch haben wir also viele Einflüsse gehabt, aus allen Teilen der Monarchie, und in dieser Welt sind wir, mein Bruder und ich, noch aufgewachsen.«
Am 21. November 1916 stirbt der 86-jährige Kaiser Franz Joseph. Mit dem greisen Monarchen wird eine Ära zu Grabe getragen. Am 1. Dezember, dem Tag der Bestattung, ist Wien eine Stadt in Trauer. Der letzte Weg des Monarchen führt über den Heldenplatz und den Ring zum Stephansdom. In ganz Österreich läuten die Glocken. »Für immer wird das Bild in Erinnerung bleiben: Wie der Sarg des Kaisers, schwarz mit goldener Rahmung, feierlich über die Stufen gehoben, in die Kirche mit dem grauen Portal zu schweben schien«, schreibt die Neue Freie Presse. »Das innerste Gefühl, das wir aus diesem schwermutvollen Heimgang mitnehmen, ist die Hoffnung auf die Zukunft. Hinter dem Sarge schreiten ein Monarch in jugendlicher Kraft und Verbündete, die in der Feuerprobe des Kampfes sich bewährt haben.« Die Monarchie wird den greisen Franz Joseph um nicht einmal zwei Jahre überleben.
Der neue Regent, Kaiser Karl I., ist 29 Jahre alt. »Dem Armen war eine unerträgliche Last aufgebürdet: Er sollte gutmachen, was andere versäumt hatten. Er sollte Völker versöhnen, die längst entzweit waren. Selbst einem Genie wäre das nie gelungen«, notiert Berta Zuckerkandl in ihren Erinnerungen Österreich intim.11 Dazu kommt, dass der junge Karl weder zum Herrscheramt erzogen noch vor seiner Thronbesteigung in die Regierungsgeschäfte eingebunden war. Wohl aber hat er alle Fronten inspiziert, Lazarette besucht und Soldaten ausgezeichnet. Der junge Kaiser kennt das Leid, das der Krieg verursacht, aus eigener Anschauung. Möglicherweise ist dies, gemeinsam mit dem Einfluss seiner jungen Gattin Zita, der Grund für die sogenannte »Sixtus-Affäre«. Brieflich versucht Karl, hinter dem Rücken des verbündeten Deutschen Reiches, zu einem Sonderfrieden für Österreich-Ungarn zu kommen. Die Initiative scheitert, das millionenfache Sterben geht weiter.
Kaiser Karl unternimmt noch einen Versuch, den Vielvölkerstaat zu retten: Auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker soll sein Reich in einen Bundesstaat umgewandelt werden, verkündet er am 16. Oktober 1918 den »getreuen österreichischen Völkern«. Doch diese Völker haben sich längst von Österreich und vom Hause Habsburg abgewandt. Kein Volk will die nahende Niederlage mit den deutschsprachigen Österreichern teilen.
»Heil Deutschösterreich!«, hallt es am 21. Oktober 1918 durch den Sitzungssaal der Niederösterreichischen Landesregierung in der Wiener Herrengasse. Die Reichsratsabgeordneten aller deutschsprachigen Wahlbezirke sind zur Konstituierung einer Provisorischen Nationalversammlung zusammengekommen. Einstimmig wird die Gründung Deutschösterreichs beschlossen, dessen Grenzen noch nicht feststehen. Selbstbewusst formulieren die Abgeordneten: »Das deutsche Volk in Österreich ist entschlossen, seine künftige staatliche Ordnung selbst zu bestimmen […] Der deutsch-österreichische Staat beansprucht die Gebietsgewalt über das ganze deutsche Siedlungsgebiet, insbesondere auch in den Sudetenländern; jeder Annexion von Gebieten, die von deutschen Bauern, Arbeitern und Bürgern bewohnt werden, durch andere Nationen wird sich der deutsch-österreichische Staat widersetzen«.12 Ein solches Deutschösterreich würde ein Siedlungsgebiet mit rund 10 Millionen Menschen umfassen. Es wird ein unerreichbarer Traum bleiben.
Laut Protokoll erhebt sich die Versammlung, nachdem die Rede des Abgeordneten Viktor Waldner mit »Heil Österreich« geendet hat, stürmischer Applaus und Heilrufe folgen. Trotzdem ist die Gründung des neuen, deutschsprachigen Staates eine sachliche Angelegenheit. Die Neue Freie Presse berichtet am 22. Oktober: »Der Tag ist ruhig vergangen. Die Versammlung der 210 Abgeordneten war ohne Fahnenschwenken und Böllerschüsse würdig, wenn auch nicht ganz mit jener Hochstimmung, die so bedeutsame Veränderungen sonst begleitet. Der deutsch-österreichische Staat beginnt sachlich, fast möchte man sagen verstandesmäßig, unter dem Eindruck schmerzlicher Notwendigkeiten, denen nicht mehr zu widerstehen war […] Die Deutschen in Österreich waren immer diejenigen, die zugunsten der anderen die Staatspflichten erfüllt haben. Sie haben es satt, die Wächter eines Hauses zu sein, das von allen verlassen ist. Der Traum des alten Österreich ist ausgeträumt.«
Schmerzt es die »Deutsch-Österreicher«, was sie in jenen Tagen in der Zeitung lesen? Erfüllt es sie mit Trauer,