Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin

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Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter  Benjamin


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an der Tür verließ, davon will ich nicht reden. Aber das weiß ich bestimmt: In Erinnerung an jenen Abend werde ich niemals an dieser Anstalt vorbeigehen können, ohne daß das Herz mir weh tut und die Kehle sich mir zuschnürt; auch könnte ich an diesem Ort nicht einmal die beste Partie mit meiner gewohnten guten Laune anbieten – selbst die Flinte und die Brille nicht –, mag mir auch der Minister des Innern fünfhundert Pfund Belohnung dafür bieten und die Ehre, hinterher meine Beine unter seinen Mahagonitisch zu strecken, als Zugabe.

      Trotzdem empfand ich die Einsamkeit im Wagen, die jetzt folgte, nicht mehr so stark wie früher. Denn sie hatte ihre festgesetzte Frist, wie lange das Ende auch noch anstehen mochte, und wenn ich ein wenig bedrückt war, so konnte ich mich mit dem Bewußtsein trösten, daß sie zu mir und ich zu ihr gehörte. Immer mit Plänen für die Zukunft beschäftigt, in der sie wieder dasein würde, kaufte ich nach einigen Monaten einen zweiten Wohnwagen, und was glaubt ihr wohl, was ich damit beabsichtigte? Ich will es euch sagen. Ich beabsichtigte, ihn mit Regalen und Büchern für ihre Lektüre auszustatten und für mich selbst einen Sitz darin anzubringen, wo ich sitzen, ihr beim Lesen zusehen und mich über den Gedanken freuen konnte, daß ich ihr erster Lehrer gewesen war. Ohne die Sache zu übereilen, ließ ich unter meiner eignen Aufsicht die einzelnen Teile mit allerhand Kunstgriffen zusammenschlagen. Hier war ihr Bett in einer Koje mit Vorhängen, dort war ihr Lesepult, hier ihr Schreibtisch, und an einer anderen Stelle befanden sich ihre Bücher, Reihe auf Reihe, mit und ohne Bilder, gebunden und ungebunden, mit Goldrand und einfach, so wie ich sie partienweise für sie zusammenlas, während ich im Land herumzog, in Nord und Süd und Ost und West, soweit der Wind im Land bläst, hier und da und an jedem Ort, über die Berge und weiter fort. Und als ich den Karren so ziemlich mit Büchern gefüllt hatte, fiel mir ein neuer Plan ein, der, wie sich dann herausstellte, meine Zeit und Aufmerksamkeit für eine gute Weile in Anspruch nahm und mir über die beiden Jahre hinweghalf.

      Ohne habgierig zu sein, habe ich es doch gern, wenn meine Sachen mir gehören. Zum Beispiel möchte ich nicht einmal euch als Partner an meinem Händlerkarren haben. Nicht etwa, daß ich euch mißtraue, aber mir ist es lieber, ich weiß, daß er mein eigen ist. Ebenso wäre es euch wahrscheinlich lieber, ihr wüßtet, daß er euch gehört. Nun gut! Eine Art Eifersucht begann sich meiner zu bemächtigen, wenn ich daran dachte, daß alle diese Bücher schon lange, bevor sie von ihr gelesen wurden, von anderen Leuten gelesen worden waren. Mir schien es, als ob das ihr Besitzrecht daran beeinträchtigte. So tauchte denn folgender Gedanke in mir auf: Könnte ich nicht ein ganz neues Buch, das eigens für sie gemacht wäre, herstellen lassen, so daß sie die erste sein würde, die es liest?

      Dieser Gedanke gefiel mir, und da ich niemals derjenige gewesen bin, der einen Gedanken in sich schlafen ließ (denn in meinem Beruf muß man die ganze Gedankenfamilie, die man hat, aufwecken und ihre Nachthauben verbrennen, oder man kommt unter die Räder), so machte ich mich sogleich an die Ausführung. Da ich so weit im Land herumkam und es meine Aufgabe sein würde, je nach Gelegenheit mit verschiedenen Schriftstellern einen Handel abzuschließen, entwarf ich den Plan, daß dieses Buch eine gemischte Partie sein sollte. Es sollte so etwas sein wie das Rasiermesser, das Bügeleisen, die Chronometer-Taschenuhr, die Dinnerteller, das Teigholz und der Spiegel zusammen und nicht wie die Brillengläser oder die Flinte als ein einzelner, individueller Artikel angeboten werden. Als ich zu diesem Entschluß gekommen war, faßte ich gleichzeitig einen zweiten, den ich euch ebenfalls mitteilen will.

      Ich hatte schon oft bedauert, daß sie mich noch niemals gehört hatte, wenn ich auf dem Trittbrett stand, und daß sie mich niemals würde hören können. Nicht daß ich eitel bin, aber wer stellt gern sein Licht unter einen Scheffel? Was hat man von seinem Ruf, wenn man dem Menschen, von dem man am meisten geschätzt werden möchte, nicht verständlich machen kann, worauf er beruht? Entscheidet die Frage selbst. Ist er dann sechs Pence, fünf Pence, vier Pence, drei Pence, zwei Pence, einen Penny, einen halben Penny, einen Farthing wert? Nein, das ist nicht der Fall. Er ist keinen Farthing wert. Schön! Ich faßte deshalb den Entschluß, ihr Buch mit einem Bericht über mich selbst zu beginnen. Sie sollte einige Proben von mir auf dem Trittbrett zu lesen bekommen, so daß sie sich einen Begriff von meinem Talent machen könnte. Dabei war ich mir vollkommen darüber klar, daß ich mir selbst nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen könnte. Ein Mensch kann seinen Blick nicht niederschreiben (wenigstens weiß ich nicht, wie ich das tun sollte), noch kann ein Mensch seine Stimme niederschreiben, noch seine Art zu sprechen, noch die Lebhaftigkeit seiner Bewegungen, noch sein ganzes Auftreten. Aber er kann seine Redewendungen niederschreiben, wenn er ein öffentlicher Redner ist – und ich habe schon oft gehört, daß manche das auch tun, bevor sie sie vortragen.

      Na ja! Als dieser Entschluß bei mir feststand, erhob sich die Frage des Titels. Wie hämmerte ich dieses heiße Eisen zu einer brauchbaren Form? Auf folgende Weise: Die schwierigste Erklärung, die ich ihr jemals zu geben versucht hatte, war die gewesen, wie ich zu dem Namen Doktor kam und doch keiner war. Schließlich hatte ich das Gefühl gehabt, daß ich es ihr trotz der größten Mühe nicht richtig hatte beibringen können. Ich baute aber auf ihre Fortschritte in den zwei Jahren und hoffte, sie würde es verstehen, wenn sie es von meiner eigenen Hand niedergeschrieben lesen würde. Darauf kam ich auf den Gedanken, sie mit einem Scherz auf die Probe zu stellen und darauf zu achten, wie sie ihn aufnahm, wonach ich mir dann schon ein Urteil bilden könnte, ob sie es verstanden hatte oder nicht. Ich hatte das Mißverständnis, das zwischen uns bestand, zuerst entdeckt, als sie mich bat, ihr ein Rezept auszustellen; denn sie hatte geglaubt, ich wäre ein medizinischer Doktor. Deshalb dachte ich: »Wenn ich jetzt dieses Buch meine ›Rezepte‹ betitle, und wenn sie den Gedanken erfaßt, daß meine Rezepte einzig und allein für ihr Vergnügen und ihren Nutzen gedacht sind – um sie auf angenehme Weise lachen oder auf angenehme Weise weinen zu machen –, so wird das ein köstlicher Beweis für uns beide sein, daß wir die Schwierigkeit überwunden haben.« Mein Plan hatte den glänzendsten Erfolg. Denn als sie das Buch sah, das ich hatte herstellen lassen – das gedruckte und gebundene Buch, das auf ihrem Pult im Karren lag –, und den Titel sah. »Doktor Marigolds Rezepte«, blickte sie mich eine Sekunde lang erstaunt an, schlug dann schnell die Blätter um, brach in der reizendsten Weise in Lachen aus, fühlte ihren Puls und schüttelte den Kopf, blätterte dann die Seiten um mit einer Miene, als läse sie sie mit der größten Aufmerksamkeit, küßte das Buch mit dem Blick zu mir und drückte es mit den beiden Händen an ihre Brust. In meinem ganzen Leben habe ich mich nicht mehr gefreut!

      Aber ich will den Ereignissen nicht vorgreifen. (Ich entnehme diesen Ausdruck einer Partie Romane, die ich für sie gekauft hatte. Ich habe nie einen davon aufgeschlagen – und ich habe viele aufgeschlagen –, ohne daß der Verfasser nicht irgendwo schrieb: »Ich will den Ereignissen nicht vorgreifen.« Da das so ist, wundert es mich nur, weshalb er dann doch vorgriff, oder wer es von ihm verlangte.) Ich will also den Ereignissen nicht vorgreifen. Dieses Buch nahm meine ganze freie Zeit in Anspruch. Es war kein Kinderspiel, die anderen Artikel in der gemischten Partie zusammenzubekommen, aber als es zu meinem eigenen Artikel kam! Du lieber Himmel! Ich hätte nie geglaubt, wieviel man wieder auszustreichen hatte, wie sehr man sich Mühe geben mußte und welche Summe von Geduld dazu nötig war. Es ist geradeso wie auf dem Trittbrett: das Publikum hat keine Ahnung, was alles dazu gehört.

      Schließlich war es fertig, und die zwei Jahre waren, wie die ganzen anderen Jahre vorher, dahingegangen, und wer weiß, wohin sie alle gekommen sind? Der neue Wagen war fertig – gelb angestrichen mit roten Streifen und Messingbeschlägen –, der alte Gaul war davorgespannt, ein neuer, und ein Junge für den Verkaufskarren eingestellt, und ich machte mich recht sauber zurecht, um sie abzuholen. Das Wetter war kalt und klar, die Wagenkamine rauchten, die Wagen selbst waren auf einem Stück Brachland in Wandsworth privat aufgestellt, wo man sie von der Südwest-Eisenbahn aus sehen kann, wenn sie nicht auf der Tour sind. (Ihr müßt zum Fenster rechter Hand hinaussehen, wenn ihr von London wegfahrt.)

      »Marigold«, sagte der Gentleman, indem er mir herzlich die Hand drückte, »ich freue mich sehr, Euch zu sehen.«

      »Und doch zweifle ich, Sir«, sagte ich, »ob Sie sich halb so freuen können, mich zu sehen, wie ich mich freue, Sie zu sehen.«

      »Die Zeit schien so lang zu sein – nicht wahr, Marigold?«

      Ach will das nicht sagen, Sir, in Anbetracht ihrer wirklichen Länge;doch …«

      »Welche


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