Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.so verständig, so ausdrucksvoll! In diesem Augenblick wußte ich, daß sie wirklich meinem Kind gleichen mußte, denn sonst hätte ich sie niemals zu erkennen vermocht, wie sie so still an der Tür stand.
»Ihr seid bewegt«, sagte der Gentleman.
»Ich fühle, Sir«, sagte ich, »daß ich bloß ein rauher Bursche in einer Weste mit Ärmeln bin.«
»Und ich fühle«, erwiderte der Gentleman, »daß Ihr es wart, der sie aus Elend und Niedrigkeit emporhob und ihr die Möglichkeit gab, mit ihren Mitmenschen in Beziehung zu treten. Aber weshalb unterhalten wir beide uns hier allein, wo wir doch so gut mit ihr sprechen können? Redet sie in Eurer Art an.«
»Ich bin so ein rauher Bursche in einer Weste mit Ärmeln, Sir«, sagte ich, »und sie ist ein so anmutiges Mädchen und steht so still an der Tür!«
»Versucht einmal, ob sie auf das alte Zeichen antwortet«, sagte der Gentleman.
Sie hatten es mit Absicht so unter sich ausgemacht, um mir eine Freude zu bereiten! Denn als ich ihr das alte Zeichen machte, stürzte sie zu meinen Füßen hin und streckte, auf den Knien liegend, die Hände zu mir empor, während Tränen der Liebe und des Glücks über ihr Gesicht strömten. Und als ich sie bei den Händen faßte und aufhob, schlang sie die Arme um meinen Hals und blieb so still. Ich war so närrisch vor Freude, daß ich wirklich nicht weiß, was ich alles anstellte, bis wir uns alle drei hinsetzten und eine lautlose Unterhaltung begannen, als ob eine sanfte Stille über die ganze Welt für uns ausgebreitet wäre.
Zweites Kapitel.
Muß fürs ganze Leben genommen werden
So war denn mein Plan in jeder Beziehung erfolgreich. Das Leben, das wir nach unserer Wiedervereinigung führten, war schöner als alles, was wir erwartet hatten. Freude und Zufriedenheit gingen mit uns, wenn die Räder der beiden Wagen sich drehten, und sie machten mit uns halt, wenn die beiden Wagen haltmachten. Ich war so stolz wie ein Mops, dem man für eine Abendgesellschaft den Maulkorb geschwärzt und den Schwanz mit einer Maschine gekräuselt hat.
Aber ich hatte etwas bei meiner Rechnung übersehen. Nun, was hatte ich übersehen? Um euch beim Raten zu helfen, will ich sagen, eine Größe. Also los. Ratet und ratet richtig. Null? Nein. Neun? Nein. Acht? Nein. Sieben? Nein. Sechs? Nein. Fünf? Nein. Vier? Nein. Drei? Nein. Zwei? Nein. Eins? Nein. Nun will ich euch mal sagen, was ich mit euch machen werde. Ich will so viel mitteilen, daß es eine ganz andere Art von Größe ist. Also? Dann muß es eine sterbliche Größe sein, sagt ihr. Nein, es ist keine sterbliche Größe. Auf diese Weise werdet ihr in die Enge getrieben, und ihr könnt nicht anders, als auf eine unsterbliche Größe zu tippen. Da seid ihr auf der richtigen Spur. Warum habt ihr das nicht gleich gesagt?
Ja. Es war eine unsterbliche Größe, die ich bei meiner Rechnung gänzlich übersehen hatte. Es war kein Mann und keine Frau, sondern ein Kind. Ein Knabe oder ein Mädchen? Ein Knabe. Der Knabe mit Pfeil und Bogen. Jetzt habt ihr es erraten.
Wir waren unten in Lancaster und das Geschäft war zwei Abende lang viel besser als durchschnittlich gegangen, obwohl ich die Leute dort, um der Wahrheit die Ehre zu geben, nicht gerade als eine leicht zu gewinnende Zuhörerschaft empfehlen kann. Mims reisender Riese mit Namen Pickleson war zufällig gleichzeitig in der Stadt und versuchte, das Publikum zu blenden. Er hatte sich die vornehme Art zugelegt. Keine Spur von Reisewagen. Durch einen mit grünem Tuch ausgeschlagenen Eingang ging es in ein Auktionslokal hinein zu Pickleson. Gedrucktes Plakat: »Freikarten aufgehoben, mit Ausnahme des stolzen Ruhmes eines freien Landes, der freien Presse. Für Schulen ermäßigter Eintritt nach Vereinbarung. Nichts, um die Jugend erröten zu machen oder selbst die Feinfühligsten zu verletzen.« Mim hinter einer mit rosa Tuch überzogenen Kasse, in der fürchterlichsten Weise über die Schwerfälligkeit des Publikums fluchend. In den Läden Zettel aufgehängt, mit der ernsthaften Versicherung, es wäre so gut wie unmöglich, die Geschichte Davids richtig zu verstehen, wenn man Pickleson nicht gesehen habe.
Ich ging in das fragliche Auktionslokal und fand nichts darin als Echos und modrige Luft, mit einziger Ausnahme Picklesons, der auf einem roten Teppich stand. Das kam mir gerade recht, da ich ein paar vertrauliche Worte mit ihm zu sprechen hatte; und so begann ich:
»Pickleson, da ich Euch ein großes Glück verdanke, habe ich Euch in meinem Testament mit einer Fünfpfundnote bedacht; aber, um die Sache kurz zu machen, hier habt Ihr vier Pfund auf der Stelle, was Euch wohl ebenso lieb ist, und damit wollen wir das Geschäft abmachen.«
Pickleson, der vor dieser Bemerkung das trübselige Aussehen einer langen römischen Kerze gehabt hatte, erhellte sich an seinem oberen Ende und drückte seinen Dank aus in einer Weise, die (für ihn) parlamentarische Beredsamkeit war. Er fügte noch hinzu, er hätte als Römer nicht mehr gezogen, und Mim hätte ihm deshalb den Vorschlag gemacht, als Indianerriese aufzutreten, der durch »Des Milchmanns Tochter« bekehrt worden wäre. Pickleson aber hatte erklärt, ihm sei das nach dieser jungen Dame benannte Traktätchen vollkommen unbekannt, auch verbiete ihm die ernste Auffassung seines Berufes derartige Scherze, worauf es zu einem Wortwechsel kam, der für den unglücklichen jungen Mann die gänzliche Entziehung des Biers zur Folge hatte. All das wurde während des ganzen Gesprächs durch das wilde Brummen Mims unten an der Kasse bestätigt, und dieser Ton ließ den Riesen wie dürres Laub erbeben.
Derjenige Teil meiner Unterhaltung mit dem reisenden Riesen namens Pickleson, der sich auf mein gegenwärtiges Thema bezog, war folgender:
»Doktor Marigold« – ich wiederhole seine Worte, ohne einen Versuch zu machen, dem Leser einen Begriff von der Schwäche zu geben, mit der sie vorgebracht wurden – »wer ist der Fremde, der sich bei Euren Karren herumtreibt?«
»Der Fremde?« wiederhole ich seine Frage, in der Meinung, daß er sie meint, sich aber in seinem schwachen Zustand im Artikel vergriffen hat.
»Doktor«, sagt er darauf, mit einem rührenden Nachdruck, der selbst einem Mannesauge eine Träne entlockt hätte, »ich bin zwar schwach, aber doch noch nicht so schwach, daß ich nicht wüßte, was ich sage. Ich wiederhole deshalb, Doktor, der Fremde.«
Es stellte sich nun heraus, daß Pickleson, der seine Glieder nur dann strecken durfte, wenn man ihn nicht umsonst sehen konnte (nämlich zu später Nachtzeit und gegen Tagesanbruch), in dieser selben Stadt Lancaster, in der ich mich erst zwei Abende lang aufhielt, diesen selben Fremden zweimal in der Nähe meiner Wagen beobachtet hatte.
Das versetzte mich in Unruhe. Was es im einzelnen zu bedeuten hatte, das ahnte ich ebensowenig, wie ihr es jetzt ahnen könnt, aber es machte mir Sorgen. Trotzdem tat ich Pickleson gegenüber so, als wäre die Sache nicht ernst zu nehmen, und ich verabschiedete mich von ihm mit dem Rat, sein Vermächtnis zur Kräftigung seiner Gesundheit zu verwenden und sich seine Religion nach wie vor nicht nehmen zu lassen. Gegen Morgen hielt ich nach dem Fremden Ausschau, und – was mehr war – ich sah ihn. Er war ein gutgekleideter, hübscher junger Mensch. Er ging ganz nahe bei meinen Wagen hin und her, so als ob er sie bewachte, und kurz nachdem es Tag geworden war, drehte er sich um und ging davon. Ich rief hinter ihm her, aber er fuhr weder zusammen noch drehte er sich um und nahm auch nicht die geringste Notiz davon.
Etwa ein oder zwei Stunden später verließen wir Lancaster, um nach Carlisle zu fahren. Am nächsten Morgen gegen Tagesanbruch hielt ich wieder nach dem fremden jungen Mann Ausschau. Ich bekam ihn nicht zu sehen. Aber am folgenden Morgen paßte ich abermals auf, und diesmal war er wieder da. Ich rief wiederum hinter ihm her, aber, wie das erstemal, gab er nicht das geringste Zeichen, daß er irgendwie betroffen war. Das brachte mich auf einen Gedanken. Ich folgte meinem Einfall und beobachtete ihn in verschiedener Weise und zu verschiedenen Zeiten – die Einzelheiten tun nichts zur Sache –, bis ich herausfand, daß dieser fremde junge Mann taubstumm war.
Diese Entdeckung brachte mich ganz aus dem Häuschen. Ich wußte, daß in einem Teil der Anstalt, wo sie gewesen war, junge Männer untergebracht waren (einige darunter in guten Verhältnissen), und ich dachte mir: »Wenn sie ihn vorzieht, wo bleibe dann ich? Und wo bleibt alles,