Die schönsten Heimatromane von Ludwig Ganghofer. Ludwig Ganghofer
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»Mensch! Wer bist du?«
Ohne zu antworten, sah der Greis an dem Mönch hinauf, mit dem Blick des Irrsinns in den trübflackernden, rotgeränderten Augen. »Bist du es, den sie den traurigen Jacho nennen?«
Der Irre verstand seinen Namen und nickte.
»Warum trägst du die Kette? Willst du büßen?«
Jacho schwieg.
»Liebst du den Guten, dessen Leidensbild du in den Armen hältst?«
Jacho schwieg.
»Bist du stumm?«
Da nickte der Greis.
Bewegt vom Anblick dieser Armut, reichte Irimbert dem Irren eine Münze. Jacho nahm sie mit einer von Schmutz überkrusteten Hand, betrachtete das Silber, warf es ins welke Laub und wischte an seinen Lumpen die Hand ab. »Ich merke, du bist reich! Und ich, der ich dir geben wollte, bin der Arme.«
Je länger Jacho die schönen, strengen Züge des jungen Mönches betrachtete, desto schärfer wurde sein Blick. Nun drückte er das Kreuzbild fester an seine Brust, seine Augen füllten sich mit Tränen, und zwei große Tropfen kollerten ihm über die Stoppeln des weißen Bartes.
»Weinst du, weil ich leben muß?«
Der Irre bewegte den Mund. Ein sinnloses Lallen kam von seiner Zunge.
»Ja, guter Freund, so lautet die Antwort immer, wenn einer eine Frage an den Tod oder an das Leben stellt. Du bist ein weiser Mann.« Mit ernstem Lächeln wandte Irimbert sich von dem Irren ab und folgte dem Weg.
Jetzt wurde der Berghang flacher, der Wald begann sich zu lichten, zwischen den Bäumen schimmerte das müde Gelbgrün einer herbstlichen Wiese, und Irimbert trat aus dem Wald auf einen freien Hügel hinaus. Hier stand ein Kreuz. War das die Wolfsreut? War es das Kreuz, vor dem die Alheid das Opfer der blauen Blumen brachte? In zwei dunklen Linien durchschnitten die gekreuzten Balken das herrliche Bild des offenen Tales, das dem Hügel zu Füßen lag: mit dem blitzenden Lauf der Ache, mit dem welligen Geländ der Wälder und Wiesen, mit den zerstreuten Wohnstätten inmitten kleiner Felder und Gärten; mit dem Kranz der schönen Berge, die das Tal umhegten gleich einer ewigen Mauer – einer Mauer, über deren Zinnen wie ein Turm und Wahrzeichen der Natur der gebrochene Felskegel des Watzmanns und die Steinzacken der Watzmannkinder sich erhoben. Das schöne Bild war ohne Sonne. Unter dem trüb gewordenen Himmel waren alle Farben gedämpft, alle Heiterkeit der Landschaft war in Ernst verwandelt. Wie der Steinriese Watzmann über den kleineren Bergen, so ragte über den ärmlichen Wohnstätten der hörigen Bauern das reiche, mächtige Kloster empor mit Basteien und Mauern, mit schimmernden Fenstern und starken Toren, mit spitz gegiebelten Dächern und mit dem wuchtigen Turm des Münsters, der gleich einem steinernen Riesenarm zum Himmel wies.
Irimbert betrachtete das hölzerne Kreuz und blickte hinüber zum Kloster. In seinen Augen war heller Glanz. So hatten sie gefunkelt, als er im Jägerkleid dort oben in die sternhelle Nacht hinausgerufen hatte: »Kampf! Wie bist du schön! Wie lieb ich dich!« –
Um die gleiche Stunde, als der Sturm begann, erreichte der Gotteslechner sein Heimwesen. Vor dem Hagtor traf er mit dem Steinhauser zusammen, der aus der Hofreut kam, eine langstielige Axt auf der Schulter. »Wo aus, Nachbar?« Zum grauen Himmel aufblickend, sagte der Steinhauser lachend: »Ich mein, es geht auf den Winter zu. Da will ich mir heut noch eine schöne Feicht niederschlagen, daß sie dürren kann unterm Schnee und bis zum Frühjahr feinspaltige Bretter gibt zu einer Wiegen.«
»Gottes Segen über dein Hausglück, Nachbar! Aber gelt, eh’s Abend wird, bist wieder daheim? Ich muß reden mit dir. Auch könnt ich Ursach haben, daß ich zur Nacht mein Hagtor fest verwahr.« Erschrocken sah der Steinhauser dem Gotteslechner in die Augen. »Bauer?«
Greimold spähte durch das offene Tor und dämpfte die Stimme. »Ist das Kind im Hof?«
»Wohl, sie sitzt bei der Ulm, und ihr Gesichtl ist freudig, wie ich’s lang nit gesehen hab.« Auch der Steinhauser sprach mit leiser Stimme. »Aber sag, Bauer –«
»Wir reden’s zum Abend aus. Sie könnt uns hören. Geh, Nachbar!«
Der Steinhauser nahm die Axt von der Schulter und prüfte mit dem Daumen die Schneide. »Ich bleib daheim.« Laut und lustig begann er mit dem Gotteslechner zu schwatzen, und vom Hagtor rief er zur Ulme hinüber: »Juttla, tu dich freuen, der Vater ist da!« Dann ließ er sich neben dem Tor auf einen Holzblock nieder und legte die Axt übers Knie. Von der weißen Hündin geführt, kam Jutta dem Vater auf halbem Weg entgegen. Im Winde flatterte das lockige Haar um ihre Wangen. Beim Anblick seines Kindes stieg dem Gotteslechner das Wasser in die Augen. Dann grüßte er mit heiteren Worten. Und Jutta sagte: »Vater, ich muß dir was erzählen –«
»Ich mein, ich weiß schon alles.« Greimold legte den Arm um das Mädchen. »Willst du mir sagen von einem Jäger, der Irmi heißt? Der ist in der Waldhut drunten zu mir gekommen.«
»Bist du ihm gut geworden?«
»Gut fürs Leben.« Greimold sah mit heißem Sorgenblick in das Tal hinunter. »Ich soll dich grüßen, bis er wiederkommt.« Seine Stimme schwankte. »Schau, er hat mir zum Gruß ein Blüml geboten. Für dich.«
»Gib mir’s!« Das Gesicht von rosigem Schein überglänzt, stand die Blinde mit suchenden Händen, während Greimold die welke Blume achtsam von seiner Kappe löste. Halb war die sterbende Blume schon zerfallen. Jetzt wehte der Wind die letzte farbige Flocke ihres Kelches davon. Als Jutta den kahlen Stengel empfing, zitterten ihre Hände, wie die Finger eines Kindes zittern, wenn es scheu eine zerbrechliche Kostbarkeit berührt. Der Sturmwind zauste ihr Haar, faßte rauschend ihr Kleid und machte den zarten Mädchenkörper wanken. Das schien die Blinde nicht zu fühlen. Sie lächelte. »Vater, ich seh das Blüml! Du hast mir noch keines gebracht, so lieb und schön.« Sacht berührte sie den Knoten des entblätterten Kelches. »Gelt, es ist noch ein Knöspl, ein junges? Weil ich um sein Gesichtl herum kein Blättl spür?«
»Ja, Kind, ein Knöspl! Wie gut du das gesehen hast!«
»Wenn ich’s hegen tu, wird’s blühen?«
»Ja, Kind!« Der Bauer warf in Unruh einen Blick gegen das Hagtor. Man vernahm den Schellenklang und das Gebrüll der heimkehrenden Herde. »Komm, ich führ dich ins Haus.« Als sie zur Tür kamen, hörte Jutta den Lärm. »Vater, warum treiben die Sennen heim? Es ist doch so schöne Zeit!«
»Freilich, ja! Aber rauhes Wetter ist nimmer weit. Ich mein, es blühen die Eisblumen bald.«
»Warum singen die Buben nit wie sonst, wenn sie heimtreiben?«
»Sie singen wie allweil. Aber der Wind ist laut. Da hört man’s nit. Geh, komm ins Haus!«
Während die beiden über die Schwelle traten, sprang die weiße Hündin mit Gebell der Herde entgegen. Ruglind brachte den Karren mit dem Almgerät gezogen, keuchend unter der Last, das vergrämte Gesicht von Schweiß überronnen. Ihr folgten die Junghirten mit den Ziegen und Schafen. Eine Weile später kamen die Sennen mit der großen Herde. Das war trübselige Heimkehr. Kein Lied, kein Jauchzer. Nur die Rinder brüllten. Als sie in den Hag getrieben waren, schloß der Steinhauser das Tor und schob die schweren Riegelbalken in die eisernen Klammern.
Sausend jagte der wachsende Sturm über das Gotteslehen und seine Dächer hin.
6
Was war in hundertdreißig Jahren aus der kleinen Martinsklause geworden! Ihr erster Anfang hatte sich schon in Sage verwandelt, in welcher Riesen und Wunder spielten. Aus dem weltverlorenen Heim der Brüder, die das Kreuz errichtet und den Wald gerodet hatten, war ein reiches Stift geworden, in welchem regulierte Chorherren aus adligen Geschlechtern saßen, »Kriegsmänner und Weltherren«, die bei allen Händeln der deutschen Fürsten mitzureden hatten.
Die kluge Politik der Pröpste, die