Die schönsten Heimatromane von Ludwig Ganghofer. Ludwig Ganghofer
Читать онлайн книгу.Windstoß über das Latschenfeld herunter und riß die wallenden Schleier entzwei.
»Mar und Joseph!« lispelte Pepperl. »Duhrlaucht! Der Hirsch!«
Kaum hundert Schritte von den Jägers entfernt, kam der Hirsch gemächlich durch die Latschen gezogen und gabelte mit dem mächtigen Geweih wie spielend in die Büsche. Doch ehe Praxmaler die Büchse spannen und dem Fürsten reichen konnte, war der Nebel schon wieder zusammengeflossen, alles grau verhüllend.
Pepperl zitterte vor Aufregung an allen Gliedern und flüsterte: »Teufi, Teufi, Teufi, jetzt is gfehlt! Jetzt hat er uns gleich im Wind. Und nacher bhüt dich Gott, Hirscherl!«
Da hörten sie in nächster Nähe das Brechen von Zweigen und den Schritt des Wildes. Wie ein großer, grauer Schemen tauchte dicht vor ihnen der Hirsch im Nebel auf. Nun verhoffte er und wandte sich zur Flucht – aber da krachte auch schon der Schuß. Im Nebel war der Hall der Büchse dumpf und kurz, man hörte kein Echo, nur ein mattes Gepolter im Geröll, über das der Hirsch gegen das Seetal hinunter flüchtete. Dann Stille.
Dem Praxmaler-Pepperl klopfte das Herz, daß man es hören konnte wie dumpfen Hammerschlag. Und die Hände um die Ohren höhlend, lauschte er talwärts.
Scharf blies der Wind von den Felsen. Der Nebel kräuselte sich um die Büsche und flatterte, wurde lichter und lichter, und in der Höhe begann es schon zu schimmern wie mattes Blau und wie ein Rätsel des Sonnenglanzes. Da rissen die Schleier entzwei –wie sich ein Vorhang teilt, der ein heiliges Wunder verhüllte. Leuchtende Matten sah man, ein steiles Latschenfeld in blauem Schatten, hier eine graue Wand und dort eine Reihe scharf geschnittener Spitzen, rosig angeflogen vom Schein der Morgensonne. Nur wenige Minuten, und die Höhe, auf der die Jäger ruhten, war völlig nebelfrei. Groß und schweigend dehnte sich rings um sie her die Felsenwildnis, in mächtigem Halbkreis umzogen von starrendem Gewänd. Ihnen zu Füßen lag der Nebel ausgegossen, flach und weiß wie Milch, und drüben stiegen aus dem Meer dieser silbernen Dünste wie Steinkolosse der Wetterschrofen auf, über deren wild zerrissenen Grat die goldleuchtenden Schneegehänge der Zugspitze herüberblinkten.
Immer rascher zog und streckte sich der Nebel, und während seine tieferen Massen gegen Osten hinausströmten über das Geißtal, lösten seine höheren Ränder und Zungen sich auf in blaue Luft. Allmählich enthüllten sich im Westen die schön gewellten Waldberge von Lermoos und Reutte, das Ehrwalder Tal entschleierte sich mit seinem blitzenden Bach, mit seinen Wiesen und ausgestreuten Häusern. Schon sah man die Ehrwalder Alm, auf der sich mit dem fernen Gebrüll der Rinder die jauchzende Stimme eines Hirtenbuben mischte. Schon stachen die Wipfel des Sebenwaldes schlank und spitz aus dem Nebel heraus. Noch eine kurze Weile, und aus den in Luft und Sonne zerfließenden Dünsten leuchtete ein stilles grünes Wasserauge aus der Tiefe herauf: der Sebensee, ein kreisrundes Felsenbecken, erfüllt mit einer Flut von so kristallener Klarheit, daß man jeden Steinblock und jeden versunkenen Baum auf dem Grunde deutlich unterscheiden konnte. Steinhalden und flache Almfelder umsäumten auf der einen Seite den See, auf der anderen wurde sein Ufer gebildet durch mächtige Felsklötze, durch schroffe Wände und steile Latschenbeete, zwischen deren vereinzelten Zirbenbäumen und Fichten das Schindeldach einer kleinen Hütte leuchtete.
»Solch einen Morgen zu sehen! Ist das nicht schöner als alle Jagd?«
Zum Glück für den weidmännischen Respekt, den ein Jäger vor seinem Jagdherrn haben soll, überhörte Pepperl diese stille, lächelnde Weisheit. Denn ehe der Fürst noch ausgesprochen hatte, war Praxmaler aufgesprungen, als hätte er plötzlich bemerkt, daß er auf glühenden Kohlen säße.
»Mar und Joseph! Duhrlaucht! Der Hirsch! Da drunten liegt der Hirsch!« Die Freude schien den Pepperl in einen Wahnsinnigen verwandelt zu haben. »Jessesmaria! Da liegt der Hirsch! Da liegt er ja! Da liegt er! Da liegt er!« Ein Jauchzer, daß alle Wände widerhallten von diesem jubelnden Schrei. Und in der einen Hand den Bergstock, in der anderen die Büchse, hetzte Pepperl über Büsche und Geröll hinunter, daß es anzusehen war, als müßte er sich bei jedem Sprung überstürzen, um Hals und Bein zu brechen. Jetzt verschwand er in den Latschen. Ein heller Jauchzer kündete an, daß er den Hirsch erreicht hatte.
Nun stieg auch Ettingen hinunter, und als er die Mulde erreichte, zwischen deren Büschen der Hirsch, mit der Kugel im Herzen, verendet niedergebrochen war, kam Pepperl ihm schon entgegen, mit einem Sträußl blühender Almrosen in der zitternden Hand. Die Augen des Jägers blitzten vor Freude, seine Wangen brannten vor Erregung. »Gratalier, Herr Fürst! Gratalier zum ersten Hirsch bei uns! Da kommen S' her! Schauen S' ihn an! Was dös für a Hirsch is! A Gweih hat er droben – Teufi, Teufi, Teufi, is dös aber Gweih! Und den Schuß, den er hat! Im Nebel so an Schuß machen! Wie naufzirkelt aufs Blatt! Gelten S', Duhrlaucht! Gelten S', dös freut Ihnen? Gelten S', ja? Und schauen S', Duhrlaucht – weil S' jetzt die allerschönste Freud haben –, jetzt muß ich gleich was raussagen! Gestern auf d' Nacht, meiner Seel, es is wahr: da hab ich mich schauderhaft aufgführt! An Rausch hab ich ghabt, daß ich mich selber schenier! Und im Rausch, da bin ich mit'm Herrn Kammerdiener zammgwachsen und hab ihm schieche Sachen gesagt. Schieche Sachen, Duhrlaucht, schieche Sachen!«
Er schnaufte wie ein von schwerer Bürde Erlöster. »Jetzt is's heraußen! Gott sei Dank!« In Zerknirschung guckte er an seinem Herrn hinauf: »Ich bitt schön, Duhrlaucht, tun S' mir halt gnädig verzeihen! Gschehen soll's nimmer, da leg ich mei Hand dafür ins Feuer! Tun S' mir halt verzeihen! Gelten S', ja?«
Lächelnd hatte Ettingen diese drollig wirkende Beichte angehört. Nun klopfte er dem Jäger freundlich auf die Schulter. »Ja, Pepperl, die Sünde soll vergeben und vergessen sein! Aber nehmen Sie ein andermal Ihren Durst in festere Zügel! Und nun sagen Sie mir – hat Ihnen Martin Ursache gegeben, daß Sie grob gegen ihn wurden?«
Eine dunkle Blutwelle schoß dem Jäger ins Gesicht, aber er sagte entschieden: »Na, na, Duhrlaucht, gwiß net! Der angfangt hat, der bin schon ich gwesen!« Ein Glück, daß sich Ettingen zu dem erlegten Hirsch wandte, um das Geweih zu betrachten. Länger hätte Pepperl den forschenden Blick seines Herrn kaum ertragen, ohne in Verlegenheit zu geraten. Nun atmete er erleichtert auf, kreuzte die Fäuste über der Brust und tat einen dankbaren Blick zum Himmel, wie einer, der sagen will: »Gott sei Dank, jetzt bin ich wieder gesund!« Dann warf er die Joppe ab und zog das Messer, um an dem erlegten Hirsch das weidmännische Handwerk zu üben.
»Das seh ich nicht gerne«, sagte Ettingen, »bei dieser Arbeit laß ich Sie lieber allein. Ich steige zum See hinunter und warte dort, bis Sie nachkommen.«
Die Büchse zurücklassend, folgte er einem Almsteig, der in Windungen durch das Latschenfeld zum Seeufer hinunterführte. Als er zu den lichter stehenden Bäumen kam, vernahm er den süßen Schlag einer Ringdrossel. Er lächelte. Der zärtliche Vogelruf erweckte in ihm die Erinnerung an jenen ersten Abend, an jene seltsame Begegnung im schweigenden Wald.
In Gedanken versunken folgte er dem Pfad und blickte erst wieder auf, als er den See erreichte. Still und schimmernd lag die grüne Flut zu seinen Füßen, durchsichtig wie Glas. Die glatte Oberfläche war durchzogen von langen Silberstrichen und spiegelte mit reinen Linien und grün behauchten Farben alle Felsblöcke des Ufers, die Bäume und einen sonnbeglänzten Berg. Hunderte von den kleinen Blütenkelchen der Alpenrose waren ausgestreut über den See und schwammen gleich winzigen Blutstropfen im stillen Grün.
Lange stand Ettingen in Schauen vertieft, bevor er dem linken Ufer folgte, auf dem sich zwischen Wasser und steilem Berggehäng ein halb verschütteter Pfad erkennen ließ.
Durch eine tief geschnittene Bergscharte glänzte schon die Sonne herein ins Seetal und durchleuchtete am Ufer einen breiten Streif des Wassers. Große Forellen standen so dicht am Spiegel, daß ihre sacht spielenden Rückenflossen halb aus dem Wasser ragten. Wenn sie den einsamen Wanderer gewahrten, machten sie eine jähe Wendung, schwammen pfeilschnell der grünen Tiefe zu, und wo sie gestanden, blieb eine silberblitzende Linie zurück.
Ettingen hatte den Pfad verloren und konnte nicht mehr weiter. Ein hoher, überhängender Felsblock stieg vor ihm aus dem Wasser auf und sperrten den Weg. Aber die Nische, die der mächtige Steinwall bildete, bot ein freundliches Plätzchen zum Rasten –und das mußte auch schon ein anderer gefunden haben, denn unter dem Fels war eine Bank