Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн книгу.handelt von Gott nur, sofern sie in den Geschöpfen Hinweise auf Gott vorfindet. Mit dem Unterschied der Gegenstände hängt der Unterschied der Erkenntnismittel und Methoden zusammen. Die Theologie schöpft aus der Offenbarung. Sie bedient sich des natürlichen Verstandes nur, um die Glaubenswahrheiten den Menschen, soweit möglich, verständlich zu machen (»fides quaerens intellectum«), sie zu ordnen und in ihre Konsequenzen zu entwickeln. Die Philosophie schöpft aus natürlicher Erkenntnis. Sie berücksichtigt die Glaubenswahrheiten als Maßstab, der es ihr ermöglicht, an ihren eigenen Ergebnissen Kritik zu üben: Da es nur eine Wahrheit gibt, kann nichts wahr sein, was zur offenbarten Wahrheit in Widerspruch steht. Sie dient ferner der Theologie, indem sie ihr den begrifflich-methodischen Apparat zur Verfügung stellt, dessen sie zur Darstellung der Glaubenswahrheiten bedarf. Sie findet in ihr schließlich die Ergänzung, nach der sie verlangt: die Antwort auf die Fragen, denen gegenüber ihre eigenen Erkenntnismittel versagen.
Unser Weg wird zunächst der philosophische sein. Auch hier bestehen noch verschiedene Möglichkeiten. Wir könnten philosophiegeschichtlich vorgehen und durch die Jahrhunderte verfolgen, welche Beantwortung die anthropologischen Fragen in den großen philosophischen Systemen gefunden haben. Diesen Weg wähle ich nicht, weil es zuviel kritischer Arbeit bedürfte, um aus den verschiedenen Systemen das herauszuschälen, was wir annehmen können. Und dadurch würde der Blick von dem abgelenkt, worauf es hier ankommt: die Idee des Menschen in ihrer pädagogischen Bedeutsamkeit zu sehen. Dafür empfiehlt sich ein einfacherer Weg.
Eine andere Möglichkeit wäre, sich an ein bestimmtes System anzuschließen, also etwa die Anthropologie des hl. Thomas darzustellen. Daran habe ich ernstlich gedacht, habe mich aber nicht dazu entschließen können. Einmal wohl, weil eine solche Darstellung auf erhebliche Schwierigkeiten stößt: Wir haben kein Spezialwerk von Thomas, in dem seine Anthropologie zusammengefaßt wäre, sondern müssen sie uns aus seinem Gesamtwerk zusammentragen. Das ist aber kaum möglich, ohne allgemeinere philosophische Probleme, in die sie verflochten ist, mit zur Sprache zu bringen. Das wäre an sich eine große und schöne Aufgabe, sie würde sich aber für mich erheblich komplizieren, weil ich nicht in der Lage bin, einfach den Lehren des hl. Thomas zu folgen, sondern in einigen wesentlichen Punkten andere Auffassungen habe. Dadurch würde wiederum der klare sachliche Aufbau verdunkelt.
2. Phänomenologische Methode
So wird unser Weg der systematische sein: Wir werden die Sachen selbst ins Auge fassen und aufbauen, so weit wir können. Das muß natürlich nach bestimmter Methode geschehen. In der Wahl der Probleme werde ich mich weitgehend von Thomas leiten lassen, weil darin ein Schutz vor Einseitigkeiten liegt und eine gewisse Gewähr, daß man nicht an wesentlichen Punkten vorbeigeht. Die Methode, mit der ich eine Lösung der Probleme suche, ist die phänomenologische, d. h. die Methode, wie sie E. Husserl ausgebildet und im II. Band seiner Logischen Untersuchungen zuerst angewendet hat, die aber nach meiner Überzeugung von den großen Philosophen aller Zeiten bereits angewendet wurde, wenn auch nicht ausschließlich und nicht mit reflektiver Klarheit über das eigene Verfahren. – Das elementarste Prinzip der phänomenologischen Methode habe ich eben schon einmal angesprochen: die Sachen selbst ins Auge fassen. Nicht Theorien über die Dinge befragen; möglichst alles ausschalten, was man gehört, gelesen, sich selbst schon zurechtkonstruiert hat, sondern mit unbefangenem Blick an sie herantreten und aus der unmittelbaren Anschauung schöpfen. Wenn wir wissen wollen, was der Mensch ist, so müssen wir uns möglichst lebendig in die Situation versetzen, in der wir menschliches Dasein erfahren: d. h. das, was wir in uns selbst erfahren, und das, was wir in der Begegnung mit andern Menschen erfahren. Das klingt stark nach Empirismus, ist aber durchaus keiner, wenn man unter Empirie nur die Wahrnehmung und Erfahrung von Einzeldingen versteht. Denn das zweite Prinzip lautet: den Blick auf das Wesentliche richten. Anschauung ist nicht nur sinnliche Wahrnehmung eines bestimmten, einzelnen Dinges, wie es hier und jetzt ist; es gibt eine Anschauung dessen, was es seinem Wesen nach ist, und das kann wiederum ein Doppeltes heißen: was es seinem eigentlichen Sein nach ist und was es seinem allgemeinen Wesen nach ist. (Ob dies beides sachlich Verschiedenes besagt und ob auf allen Gebieten oder nur auf manchen, das bedürfte längerer Erörterung.) Der Akt, in dem das Wesen erfaßt wird, ist eine geistige Anschauung, die Husserl Intuition genannt hat. Sie steckt in jeder Einzelerfahrung als ein unentbehrlicher Faktor – wir könnten nicht von Menschen, Tieren, Pflanzen sprechen, wenn wir nicht in jedem Dies, das wir hier und jetzt wahrnehmen, ein Allgemeines erfassen würden, das wir mit dem allgemeinen Namen bezeichnen –, kann aber davon losgelöst und für sich vollzogen werden. – Diese kurzen Bemerkungen sollen als erste Kennzeichnung der phänomenologischen Methode genügen. Wir werden sie näher kennenlernen, indem wir sie üben.
III. Erste vorbereitende Analyse des Menschen
1. Der Mensch als materieller Körper, als Lebewesen, Seelenwesen, Geistwesen – Mikrokosmos
Das Ausgangsmaterial für unsere Untersuchung des Menschen ist also das, was wir in lebendiger Erfahrung vor Augen haben. Das ist nun ein recht Mannigfaches. Einmal erfahren wir andere Menschen anders als uns selbst. Aber auch in der Begegnung mit andern ist es unter verschiedenen Umständen ganz Verschiedenes, was sich jeweils vornehmlich aufdrängt. An fremden Menschen beschäftigt uns vielleicht zuerst stark das Äußere: ob sie groß oder klein sind, hell oder dunkel usw. Gestalt, Größe, Farbe – das alles sind Eigenschaften, wie sie jedem materiellen Ding eigen sind. In der Tat ist der Mensch seiner körperlichen Beschaffenheit nach ein materielles Ding wie andere, denselben Gesetzen wie sie unterworfen, in den Zusammenhang der materiellen Natur eingeordnet. Aber es bedarf für uns einer besonderen Blickwendung, um uns das klar zu machen. Denn in der natürlichen Erfahrung sehen wir ihn niemals nur als materiellen Körper. Wenn ein Mensch sich bewegt, so gehört das selbstverständlich zu seinem Bilde. Wenn ein Stein oder eine Wachsfigur ohne äußeren Anstoß anfinge sich zu bewegen, so würden wir uns entsetzen. In einem Fall haben wir von vornherein etwas Lebendiges, im andern etwas »Totes« aufgefaßt. Und zum Lebendigen gehört es, daß es sich von sich aus bewegen kann. Der Mensch ist also mehr als ein materieller Körper, er ist etwas Lebendiges. – Wenn eine blühende Blume zum Pressen in ein Buch gelegt wird, so kann das ein gewisses Bedauern in uns wecken, weil lebendige Schönheit vor der Zeit verstört wird. Wollte aber jemand mit einem menschlichen Glied oder auch mit einem Tier ähnlich verfahren, so würden wir empört eingreifen, um es zu verhindern. Wir sehen dann gleichsam den Schmerz des Mißhandelten und empfinden ihn förmlich mit. Menschen und Tiere (Tiere allerdings nicht alle im gleichen Maße) sind für unsere Auffassung von vornherein nicht bloß lebendige, sondern zugleich empfindende Wesen: animalia. Wir könnten das vielleicht besser noch mit »Seelenwesen« wiedergeben. Was »Seele« ist und mit welchem besonderen Recht gerade hier davon gesprochen werden kann, das ist hier noch nicht zu erörtern. Der Name soll nur sagen, daß, wo wir ein solches Wesen erfassen, zugleich eine innere Berührung mit ihm stattfindet, daß man es nie bloß von außen erfaßt, sondern in es hineinschaut und sich – in einem gewissen Sinn – mit ihm versteht. Nur in einem gewissen Sinn – noch nicht »eigentlich«. Denn wenn der Hund uns nicht bloß bittend oder erwartungsvoll ansehen, sondern anfangen würde zu reden, dann wären wir nicht minder verblüfft als über eine empfindende Pflanze oder einen lebendigen Stein. Mit dem Menschen aber stehen wir von vornherein in Gedankenaustausch, in geistigem Verkehr.
2. Der Mensch als geistige Person: in seiner sozialen Stellung, seiner Individualität; als geschichtliches, Gemeinschafts-, Kulturwesen
So enthüllt uns schon die einfachste Analyse der alltäglichen Erfahrung etwas vom Aufbau des Kosmos und von der eigentümlichen Stellung des Menschen darin. Wir bekommen einen ersten Einblick in das Stufenreich des Seienden und sehen den Menschen als Mikrokosmos, in dem sich alle Stufen vereinigen: Er ist materielles Ding, er ist Lebewesen, Seelenwesen und geistige Person. Was das alles heißt, dafür werden wir ein tieferes Verständnis gewinnen, wenn wir alle diese Stufen näher untersuchen. Zunächst lassen sich aber noch einige andere Fäden herauspräparieren, die in der schlichten Erfahrung beschlossen