Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн книгу.Bestandteile zeigen selbst Gliederung; die Glieder und Organe sind aus verschiedenen materiellen Bestandteilen aufgebaut. Die Glieder sind relativ geschlossene morphologische Einheiten und als solche Leitfaden für die weitere Untersuchung. Der Begriff Organ geht über die rein morphologische Betrachtung hinaus und über die Abstraktion, die nur das Materielle ins Auge faßt. Er ist orientiert am Funktionieren der Körperteile, das nicht mehr Sache der Anatomie, sondern der Physiologie ist. Es gibt aber dafür noch eine morphologische Unterlage in der Bewegung und Veränderung des Körpers und der Körperteile.
3. Bewegung: eigengesetzliche, außengesetzliche, »unnatürliche«; Bewegung der Glieder; Kopf und Antlitz
Vielleicht fällt uns dem bewegten Körper gegenüber die Abstraktion, die sich auf das rein Körperliche beschränkt, noch schwerer als dem ruhenden gegenüber, weil aus Bewegung und Veränderung beständig Leben, Seele, Geist zu uns spricht. Aber möglich ist auch hier die Abstraktion, die rein die äußere Gestalt der menschlichen Bewegungen ins Auge faßt. Betrachten wir zunächst die Bewegung des ganzen Körpers, so tritt darin eine eigentümliche Gegensätzlichkeit hervor. Wir finden Bewegungen, mit denen der Körper anscheinend seiner eigenen Gesetzlichkeit folgt, und solche, mit denen er einer äußeren Gesetzlichkeit unterliegt. Der Unterschied wird deutlich, wenn der normale Gang eines Menschen durch ein Straucheln unterbrochen wird. Das normale Gehen ist eine Bewegung nach eigener Gesetzlichkeit, aus einem (zunächst rein körperlich zu verstehenden) Zentrum heraus. Der Strauchelnde unterliegt einer Bewegung bzw. Bewegungshemmung, die ihm (phänomenal) von außen aufgenötigt wird, sucht aber seine eigene Bewegung zu behalten: Wir haben hier eine vorübergehende Durchkreuzung zweier verschiedener Bewegungen, die phänomenal unterschieden ist von der Kreuzung zweier Bewegungen bloß materieller Körper. Es gibt noch eine andere Abwandlung der normalen Bewegung des menschlichen Körpers: Wenn der Gang des Menschen »affektiert«, »geziert« oder in einer andern Weise »unnatürlich« ist, so wird mit all dem auch etwas bezeichnet, was nicht der ungestörten Eigengesetzmäßigkeit des Körpers entspricht. (Die Ausdrücke »affektiert« und »geziert« gehen über das Körperliche hinaus und lenken den Blick in eine Richtung, der wir jetzt nicht nachgehen wollen. Es sollen die reinen Bewegungsphänomene genommen werden, die darin mitbezeichnet sind.) Die Durchbrechung der Eigengesetzmäßigkeit erfolgt aber hier phänomenal nicht von außen, sondern von innen. Eine Eigengesetzmäßigkeit der Bewegung und eine Durchbrechung von außen ist auch bei den Tieren zu finden. (Auf die Möglichkeit einer Durchbrechung von innen bei den Tieren möchte ich hier nicht eingehen. Die Beantwortung würde eine weiter differenzierende Analyse dieser Durchbrechungen erfordern.) – Eine Eigengesetzmäßigkeit der Bewegung scheint mir phänomenal auch bei den Pflanzen vorzuliegen, obwohl es keine freie Bewegung im Raum ist.
Wie für den ganzen Körper, so ist auch für die einzelnen Glieder eine Eigengesetzlichkeit der Bewegung und eine phänomenale Abwandlung dieser eigengesetzlichen Bewegungen festzustellen. Das Zentrum ist für die Glieder nicht dasselbe wie für den ganzen Körper. Für ihre Sonderbewegungen haben sie ihr eigenes Zentrum. Voneinander unterscheiden sie sich durch Maß und Art ihrer Beweglichkeit. Eine besonders hohe und differenzierte Beweglichkeit haben die Hände. Alle andern Körperteile übertrifft an Leichtigkeit und Mannigfaltigkeit der Bewegungen das Gesicht; wir haben hier eine fast beständige Bewegung der Teile, die vielfach nicht so sehr als solche wie als Veränderungen des Ganzen ins Auge fallen. Dazu kommen andere Veränderungen: Wechsel der Gesichtsfarbe, Veränderungen in Farbe, Größe, Glanz der Augen. Wenn der Kopf schon durch seine Stellung die beherrschende Rolle im Gesamtaufbau des menschlichen Körpers hat, so gewinnt er durch dieses mannigfache Wechselspiel erst recht an Bedeutung.
4. Akustische Gegebenheit: eigengesetzliches und fremdgesetzliches Lautmaterial
Wir haben versucht, einiges hervorzuheben, was in der sichtbaren Erscheinung des menschlichen Körpers als charakteristisch hervortritt. Wir haben aber Zugänge zur Körperwelt auch durch die andern Sinne. Als Unterlage für das geistige Eindringen in die Dinge ist nächst dem Sichtbaren vor allem bedeutsam das Hörbare. Töne und Geräusche sind nicht im selben Maße dinglich gebunden wie Farbe und Gestalt. Sie werden leichter losgelöst und auf ihren eigenen Gehalt hin betrachtet statt auf das, was sie uns vom tönenden Dinge sagen. Immerhin ist mit dem Ton oder Geräusch auch immer etwas Dingliches gegeben: der ratternde Wagen, die tönende Glocke; und es sind die Töne und Geräusche nicht nur als solche für das Ding charakteristisch, sondern sagen uns zugleich – ähnlich wie seine sichtbaren Qualitäten – etwas von seiner materiellen Beschaffenheit. Das Ding wird aber nur laut, wenn ihm etwas widerfährt. Sich selbst überlassen, schweigt es, so wie es, sich selbst überlassen, ruht und nur durch einen Anstoß in Bewegung kommt. Darin unterscheidet sich der Mensch (und auch das Tier) von den bloß materiellen Dingen. Wie bei ihm eine Bewegung aus eigener Gesetzmäßigkeit im Gegensatz zu der äußerlich aufgenötigten begegnet, so auch ein Lautwerden von innen heraus. Vielleicht wird es uns noch schwerer als bei den sichtbaren Qualitäten, am menschlichen Sprechen, Singen, am Schreien oder Lachen das bloß Sinnenfällige für sich herauszuheben und es neben die Geräusche zu stellen, die rein materielle Einwirkungen, wie ein Schlag oder Stoß, dem Körper entlocken. Es ist aber wiederum möglich, das rein akustische Material für sich zu nehmen. Es wird sich bei der näheren Analyse als ein sehr mannigfaltiges herausstellen: Geräusche und Töne, die von denen der materiellen Dinge nicht prinzipiell unterschieden sind (und dazu gehören auch solche im Körperinnern, z. B. die Rasselgeräusche, die der Arzt beim Abhorchen der Atmungsorgane wahrnimmt); andererseits Laute, die – ähnlich wie die eigengesetzlichen Bewegungen – aus einem inneren Zentrum herkommen und darum stärker im Zusammenhang des ganzen Realen stehen, viel weniger einer isolierten Auffassung zugänglich sind als andere akustische Gegebenheiten. Innerhalb dieses von innen heraustönenden Lautmaterials gibt es noch wesentliche Unterschiede: auf der einen Seite stark modulierte Laute und Lautfolgen ohne strenge rhythmische Gliederung, und demgegenüber ein akustisches Material von streng gesetzlichem tonalen und rhythmischen Aufbau. Es wären hier sehr umfassende Analysen des rein akustisch Gegebenen notwendig. Ich kann sie in diesem Zusammenhang nicht durchführen und möchte auch darauf verzichten, die sinnliche Erscheinung des menschlichen Körpers noch durch die andern Sinnesgebiete zu verfolgen.
Es kam mir nur darauf an, sichtbar zu machen, daß der menschliche Körper wie andere Körper durch ein mannigfaches sinnenfälliges Material gegeben ist, daß er aber schon in seiner sinnenfälligen Erscheinung eigentümlich charakterisiert und von andern materiellen Körpern abgehoben ist. Alles dies, was ihn unterscheidend charakterisiert, ist eine Brücke für unsere Auffassung, die über das rein sinnfällig Gegebene hinausgeht und immer mehr wahrnimmt als einen bloßen materiellen Körper. Diesem Mehr wollen wir nun stufenweise nachgehen an der Hand der Hinweise, die wir in der Erscheinung des Körpers selbst gefunden haben.
II. Der Mensch als lebendiger Organismus
1. Gestaltung von innen her: Innere Form, Lebensseele; Entelechie: Species und Kraft; Materie
Der Körper mit seiner bestimmten, in sich geschlossenen und regelmäßig gegliederten Gestalt wird von uns als ein innerlich Zusammenhängendes genommen. Seine äußere Gestalt ist von innen heraus gestaltet. Er trägt etwas in sich, was ihn zu dem macht, was er jeweils ist, und zwar geschieht das in einem fortschreitenden Gestaltungsprozeß: Wir sahen ja, daß der Körper einen Gestaltwandel durchmacht. Dieses Sichgestalten von innen her ist eine eigentümliche Seinsweise, die Seinsweise des Lebendigen. Das von innen her Gestaltende wird von Thomas von Aquino als innere Form bezeichnet. Er nennt es im Anschluß an Aristoteles auch Seele, und zwar hier, wo es nur Prinzip des Lebens ist, Lebensseele (anima vegetativa). Aristoteles hat schließlich dafür noch den Namen Entelechie. Und wir verstehen das daraus, daß der Gestaltungsprozeß ein τέλοϚ hat, daß er auf eine bestimmte Gestalt abzielt. Dieses Ziel ist das voll ausgestaltete und durchgegliederte Gebilde, das von innen her tätig ist, um sich in dieser Vollgestalt zu erhalten – und zwar in der Weise tätig ist, daß jedes Glied eine besondere