Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн книгу.führen, wenn man es nur vom Typus her fassen wollte. Es wäre aber auch eine gefährliche Durchbrechung der Einheit des pädagogischen Aktes, wenn der Erzieher nicht unmittelbar dem Zögling zugewendet wäre, sondern zwischen ihm und einem allgemeinen Schema gleichsam hin- und herblicken würde. Für den Zögling, der diese Brechung spürt und der doch nach der unmittelbaren Zuwendung verlangt, und zwar nach der Zuwendung zu ihm als Individuum, als diesem Menschen mit seiner unwiederholbaren Eigenart, der nicht als Exemplar eines Typus behandelt werden mag – für ihn wäre die Einstellung des Erziehers ein Motiv, sich zu verschließen und dem verstehenden Blick wie der Beeinflussung zu entziehen. –
2.) Die Tatsache, daß es Rassen und Völker gibt und daß die einzelnen Menschen ihnen angehören, stellt den Pädagogen vor die Frage, wie er ihr Rechnung tragen soll, ob Erziehung nicht nur dem einzelnen Menschen, sondern diesen überpersönlichen Einheiten verpflichtet sei, welche Bedeutung ihnen im Verhältnis zum einzelnen Menschen und zur ganzen Menschheit zukomme. Das alles sind Fragen, auf die eine naturwissenschaftlich verfahrende Anthropologie keine Antwort zu geben vermag. Denn um zu entscheiden, welche Berücksichtigung Individuum, Rasse und Menschheit im Verhältnis zueinander verdienen, bedarf es eines Wertmaßstabes. Den gibt es aber in der Naturwissenschaft nicht. Darum kann sie keine Bedeutung für die pädagogische Zielstellung haben.
2. Geisteswissenschaftliche Erforschung individuellen menschlichen Seins
Von den beiden Punkten her, an denen wir ein Versagen der naturwissenschaftlichen Anthropologie als Grundlage der Pädagogik feststellen mußten: von dem Unvermögen, das Verständnis des konkreten Menschen zu erschließen und eine Rangordnung der Ziele zu geben, müssen wir nun die Frage stellen: Gibt es überhaupt eine Anthropologie, die diesen Ansprüchen genügen kann? Zunächst: Gibt es eine Anthropologie, die zum Verständnis der Individualität verhelfen kann? Und dazu wiederum als Vorfrage: Gibt es überhaupt Wissenschaften, die das Individuum in seiner Individualität zum Gegenstand haben? Diese Frage hat vor einigen Jahrzehnten die Wissenschaftstheorie lebhaft bewegt. Die badische Schule (Windelband – Rickert) ist zu einer Scheidung von nomothetischen Wissenschaften (die auf allgemeine Gesetze ausgehen) und idiographischen (die sich die Beschreibung individueller Gebilde und Zusammenhänge als Ziel setzen), oder: generalisierenden und individuierenden gelangt. Diese Einteilung und die von anderer Seite bevorzugte in Natur- und Geisteswissenschaften durchschneiden einander. Man darf wohl die Naturwissenschaften als nomothetische in Anspruch nehmen, weil sie – selbst dort, wo sie beschreibend verfahren – doch nach einem allgemeinen Bildungsgesetz suchen und das Individuum immer nur als Exemplar, niemals auf seine Individualität hin untersuchen. Dagegen ist es nicht möglich, idiographische und Geisteswissenschaften gleichzusetzen. Es gibt Geisteswissenschaften, denen es um etwas Einmaliges zu tun ist: Die Geschichtswissenschaft will den Gang der Menschheitsgeschichte, wie er sich einmalig und unwiederholbar vollzogen hat, in konkreten menschlichen Individuen, Völkern etc., erforschen und darstellen. Aber es hat immer wieder Forscher gegeben, die etwas anderes als dies aus den geschichtlichen Verläufen herauslesen zu können glaubten: allgemeine Gesetze, nach denen das historische Geschehen verläuft, typische Gebilde und Verläufe, die sich immer wiederholen. Hier haben wir Ansätze zu einer allgemeinen Geisteswissenschaft. Gewöhnlich bezeichnete man sie als Geschichtsphilosophie. Das führt auf die Fragen: was Geisteswissenschaft sei, wie sie zur Philosophie stehe und wie sich beide zu einer Anthropologie, wie wir sie suchen, verhalten. Aber wir brauchen diesen ganzen Komplex schwieriger Fragen vorläufig nicht anzuschneiden, sondern können uns zunächst an die Wissenschaften halten, die sich tatsächlich mit Individuen beschäftigen, und prüfen, ob sie dem Erzieher zum Verständnis der Individuen, mit denen er es zu tun hat, verhelfen können.
Die Geschichte sucht das Individuell-Konkrete zu erfassen, die Biographie einen einzelnen Menschen und seinen Lebensgang, und das Erfaßte durch ihre Darstellung andern zugänglich zu machen. Gibt es tatsächlich einen Erkenntnisweg, der zur Erfassung der Individualität führt, und gibt es eine Möglichkeit, durch sprachliche Darstellung solche Erkenntnis andern zu vermitteln? Man hat es bestritten mit der Begründung, daß Erkennen ein Fassen der Gegenstände in Begriffe und Darstellen ein Vermitteln durch Begriffe sei; Begriffe aber seien allgemein. Die Individualität aber könne nur durch allgemeine Begriffe annäherungsweise bestimmt und durch viele Begriffe immer näher eingekreist, aber niemals ganz erfaßt werden. (Diese Auffassung liegt auch der Ausarbeitung des psychographischen Schemas in der Schule William Sterns zugrunde, das durch eine möglichst große Anzahl von Merkmalen die individuelle Eigenart von möglichst vielen Seiten her fassen möchte.) Es scheint mir hier eine unzulässige Festlegung der Erkenntnis auf einen bestimmten Typus vorzuliegen, die an der Erkenntnis der materiellen Welt und ihrer allgemeinen Gesetzmäßigkeit orientiert ist und der Eigentümlichkeit des Geistigen nicht gerecht werden kann. Wenn Erkennen das geistige Aufnehmen eines Seienden ist, so dürfen wir sagen, daß wir die Eigenart eines Menschen erkennen: Sie spricht zu uns durch die mannigfachen Ausdrucksformen, in denen »Inneres« sich »äußert«, und wir verstehen diese Sprache. Allerdings gibt es in diesem Verständnis wie in allen seelischen Funktionen Unterschiede nach Begabung und Übung. Die individuelle Eigenart einer Person spricht sich auch in Formen aus, die losgelöst von ihr fortexistieren können: in ihrer Handschrift, in ihrem Sprachstil, der in Briefen oder andern literarischen Äußerungen niedergelegt sein kann, in sonstigen Werken, auch in den Wirkungen, die sie in andern Menschen hervorgerufen hat. Solche Quellen und Überreste möglichst vollkommen zu sammeln ist die Vorarbeit des Historikers. Seine Hauptarbeit ist es, sie zu verstehen: durch die Sprache dieser Zeichen zur Individualität vorzudringen. (Es gibt Historiker, die ausgezeichnet Material sammeln können, aber in der Deutung durchaus versagen.) Dann schließt sich die weitere Aufgabe an, die erfaßte Individualität andern zu erschließen. Das kann nicht geschehen, indem er sie mit einem allgemeinen Namen nennt oder möglichst viele (selbst allgemein faßbare) Eigenschaften aufzählt oder sie als Schnittpunkt verschiedener Typen darstellt. All das sind nur Hilfsmittel, die evtl. mit in Betracht kommen. Das, worauf es ankommt, wenn man jemand zum Erfassen einer Individualität bringen will und keine lebendige Begegnung herbeiführen kann, ist, ihn den Weg zu führen, auf dem man selbst ans Ziel gelangt ist: Man muß die besonders »sprechenden Züge« erzählen, vor allem, soweit möglich, originale Äußerungen jenes Menschen darbieten, damit der Akt des Verstehens mit vollzogen werden kann. Dieses Mitvollziehen anzuregen, darin besteht die Kunst der Darstellung, in der sich – wie schon oft hervorgehoben wurde – Historiker und Künstler begegnen, wie auch die Kunst der Interpretation, des Deutens von persönlichen Äußerungen, beiden gemeinsam ist. Wer sich durch solche Darstellungen mit Menschen bekanntmachen läßt, der macht eine Schule des Verstehens durch. Und dadurch werden geschichtliche Meisterwerke ebenso wie Meisterwerke einer seelenerschließenden Kunst von höchster Bedeutung als Einführung und Übung für das Erfassen individueller Eigenart, das eine unentbehrliche pädagogische Funktion ist. Sie sind nicht minder wichtig für ihn als das Studium der wissenschaftlichen Psychologie und können ihn vor dem schweren pädagogischen Fehler bewahren, den individuellen Menschen nur als »Fall« eines allgemeinen Gesetzes oder Exemplar allgemeiner Typen zu fassen. Aus Tolstoi und Dostojewski, aus Sigrid Undset und Gertrud von le Fort kann man lernen, welchen verschlungenen Wegen der verstehende Blick zu folgen und in welche Tiefen er vorzudringen vermag. Und allen diesen Meistern einer seelenerschließenden Kunst ist noch etwas Besonderes eigen: Indem sie in die konkret-individuelle Wirklichkeit eindringen und den seelischen Zusammenhängen bis in die letzten Tiefen, die dem menschlichen Blick erreichbar sind, verstehend folgen, gelangen sie alle an Punkte, wo der seelische Zusammenhang nicht mehr aus sich selbst und auch nicht aus der Verflechtung in die umgebende Welt verständlich ist, sondern wo das Wirken geistiger Mächte sichtbar wird. Auch das sind Bezirke, an die die zünftige wissenschaftliche Psychologie noch kaum gerührt hat, die aber für den Pädagogen von größter Wichtigkeit sind.
3. Allgemeine geisteswissenschaftliche Erforschung des Menschen als Teil einer allgemeinen Geisteswissenschaft; Geisteswissenschaft und Wertlehre als Teile einer allgemeinen Ontologie; Anthropologie als philosophische Disziplin
Wie stehen nun solche Darstellungen, die individuelles Menschenwesen und Menschenleben erschließen, zur Anthropologie? Jede solche Darstellung ist ein Stück »Anthropographie«, Beschreibung des menschlichen Seins, wie es wirklich ist. Ja, mit demselben Recht