Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн книгу.schwachsichtigen Menschen solche mit mittlerer Sehschärfe, aus musikalisch oder sprachlich hochbegabten und unbegabten solche von mittlerer Begabung, daß aber dann die einzelnen Züge wieder getrennt hervortreten, wird damit erklärt, daß im »Erbgefüge« verschiedene Elemente vorhanden seien (die »Chromosomen«), die sich verschieden kombinieren können, aber gesondert erhalten bleiben. Lassen sich die Kombinationen als eine neue Species auffassen, die eine aus den Species der erzeugenden Individuen »gemischte Form« wäre? Die Beantwortung dieser Frage erfordert zunächst weitere Klärung und Fixierung des Begriffs »Species«.
7. Notwendigkeit und Zufälligkeit im Aufbau von Species – Spielart – Individuum
Ein Anfang solcher Klärung war schon gewonnen. Wir fanden in der realen Welt ein Stufenreich von Formen von größerer und geringerer Allgemeinheit: Was sich zwischen die Gattungen als die allgemeinsten, die Einheit eines ganzen Seinsgebiets abgrenzenden Ideen und die Individuen einschiebt, nannten wir Species und unterschieden unter ihnen noch Allgemeinheitsstufen. Indessen ist klar geworden, daß am Individuum nicht alles, was es ist, auf Rechnung seiner Species zu setzen ist. Die letzte Farbennuance, das ganz bestimmte Rot einer Rose kommt ihr nicht zu, sofern sie Rose ist, auch nicht sofern sie einer eigens gezüchteten Spielart angehört. Sie ist vielleicht unter der Einwirkung der Witterung anders ausgefallen, als es der Züchter beabsichtigte. Der Erscheinungstypus und die innere Form fallen nicht zusammen. Sie stehen wohl in innerem Zusammenhang, so daß nichts in dem Erscheinungstypus hervortreten kann, was nicht in der Form als möglich vorgezeichnet ist. Aber nicht alles ist als notwendig darin vorgezeichnet; die Form läßt offene Spielräume. Was ist nun die »Form«: Ist es die Species, ist es die »Spielart«, ist es eine dem Individuum selbst eigene Form? Wenn das Individuum »de ratione materiae« ist, so kommt ihm keine ihm allein eigene, einzigartige Form zu. Seine tatsächliche Beschaffenheit weist immer »zufällige Züge« auf. (Wir sprechen jetzt von der Individualität der organischen Gebilde als solchen und lassen die Frage beiseite, ob wir beim Menschen mit einem solchen Begriff von Individualität auskommen). Zur Rose, sofern sie ein Ding ist, gehört es nur, irgendeine Farbe zu haben. Zur Rose als solcher gehört es, rot oder gelb oder weiß zu sein (nicht grün oder blau) und diese »Rosenfarben« mit ihren Nuancen grenzen einen Spielraum für verschiedene mögliche Arten von Rosen ab. Zur Rose gehört ein notwendiger Aufbau: Nur bestimmte Farben und Gestalten kommen für sie in Betracht. Aber auch bei den Spielarten gibt es eine Notwendigkeit im Aufbau: Zur Marschall-Niel-Rose gehört die gelbe Farbe und das glatte, längliche Blatt. Wenn das Gelb der einzelnen Rose in der Sonne bleicht, so liegt das nicht an der Spielart. Ist es für die Rose ebenso äußerlich und zufällig, daß sie in der oder jener Spielart auftritt? Und ist diese Differenzierung auch auf materielle Bedingungen zurückzuführen? Wenn Abkömmlinge vom selben Strauch, in verschiedenem Boden gepflanzt, verschieden gedeihen und verschiedene Blüten zeigen, so wird man das auf die verschiedenen materiellen Bedingungen zurückführen. Wenn durch Okulation die Blüten sich ändern, so scheint die neue Spielart »innerlicher« begründet, es scheint hier eine veränderte Form vorzuliegen – vorsichtiger ausgedrückt: ein veränderter Verlauf des Formungsprozesses von seiten der Form her. Daß eine Vereinigung der Teile von Organismen, in denen primär die formende Kraft wirksam ist, möglich ist, und daß durch solche Vereinigung ein Organismus von neuem Typus erwächst, das läßt sich wieder als Teil eines umfassenderen Lebens- und Formungsprozesses verstehen: als Ineinanderspielen der selbständigen Teile eines größeren organischen Zusammenhangs, eines Ganzen, das alles umfaßt, was genetisch zusammenhängt. Die Individuen sind einbezogen in einen größeren Lebens- und Formungsprozeß. Wo männliche und weibliche Individuen vorhanden sind, da haben sie ihre besonderen ineinandergreifenden Funktionen in diesem Prozeß. So wäre die Species als eine ihren ganzen realen Bereich durchherrschende Urform anzusehen, in der die »Teilung« in männliche und weibliche Form und das Hervorgehen neuer und eigentümlicher Gliedformen aus ihrer Vereinigung begründet ist. Sie ist das feste Formprinzip, das alle individuellen Gebilde eines Bereichs in ihrem Aufbau bestimmt. Soweit in den »Spielarten« eine Notwendigkeit des Aufbaus zu finden ist, sind sie selbst aus der Urform begreiflich. Was an ihnen als »zufällig« erscheint, das kann nicht aus der Species hergeleitet werden.
8. Species und Urform (Idee)
Damit haben wir ein gewisses Verständnis für die Entstehung von Individuen und von Spielarten erreicht. Ist es möglich, darüber noch hinauszugehen und die Species, die uns in der Erfahrung als feste Formen begegnen, in einen genetischen Zusammenhang zu bringen und auf eine Urform zurückzuführen? Dem in Botanik und praktischer Obstkultur Unbewanderten erscheinen Pfirsich-, Mirabellen- und Pflaumenbäume als feste Formen, die nichts miteinander zu tun haben. Er wird wie vor einem Wunder stehen, wenn er einen Baum sieht, der zugleich Pflaumen und Mirabellen trägt, oder wenn ein Pfirsichstrauch es sich plötzlich einfallen läßt, Pflaumen hervorzubringen. Der Kundige weiß, daß es sich um Angehörige einer Familie handelt, daß er es in der Hand hat, durch Veredlung diese oder jene Spielart zu erzielen und daß bei mangelnder Pflege die »wilde« Natur wieder durchbrechen kann. So wäre es wohl denkbar, daß unter Bedingungen, die wir nicht kennen und die im Bereich unserer Erfahrung nicht mehr gegeben sind, Spielarten entstanden sein mögen, die uns jetzt als feste Species erscheinen. Goethe glaubte alle Pflanzen auf eine Urform zurückführen zu können; er war überzeugt von einem analogen einheitlichen Zusammenhang im Tierreich (wie ihn Darwin dann nachzuweisen suchte). Es erscheint mir eine solche genetische Einheit dieser Seinsgebiete durchaus wesensmöglich, wenn auch nicht notwendig zu sein. Die Grundstruktur des Organischen: daß eine Materie durch eine Form, die wir Species nennen, in einem lebendigen Gestaltungsprozeß von innen her zu einem in sich geschlossenen und bestimmt qualifizierten Gebilde geformt wird – diese Grundstruktur bleibt bestehen, gleichgültig, ob wir isolierte Individuen haben oder einen mehr oder minder weit reichenden genetischen Zusammenhang. Niemals wird es möglich sein, die qualitative Mannigfaltigkeit aus der Materie herzuleiten. Wenn überhaupt dem materiellen Faktor ein Einfluß auf die Qualifizierung einzuräumen ist (wie es bei Individuen und Spielarten als die wohl faktisch vorliegende Möglichkeit angesehen wurde), so ist unter Materie eine bereits geformte Materie zu denken: d. h. die Stoffe, die zum Aufbau der Organismen gehören, und die ganze materielle Natur, in deren Zusammenhang die organische Natur verflochten ist. Prinzipiell denkbar ist eine Schöpfungsordnung, die zuerst eine rein materielle Welt mit ihrem Formenreichtum ins Dasein treten läßt, um dann materielle Gebilde von bestimmtem materiellen Aufbau zu Trägern lebendiger Formen zu machen. Es tritt dann ein neues Formprinzip ein, das aber in seiner Wirksamkeit durch die materielle Grundlage in bestimmter Weise mitbedingt ist. Es ist aber ebenso gut eine Ordnung denkbar, wonach von vornherein rein materielle und organische Gebilde getrennt voneinander ins Dasein treten würden. Um zweierlei Seinsprinzipien, zweierlei Formen und damit um zwei Seinsgebiete handelt es sich auf jeden Fall. Nimmt man das eine Seinsgebiet als Grundlage für das andere an und ist man, wie Thomas, von der Einheit der substanzialen Form überzeugt, so wird man dahin gedrängt, eine Ablösung der niederen Form durch die höhere anzunehmen, wie es Thomas tatsächlich getan hat.
Wir sind damit schon über die Frage des Ursprungs der Arten hinausgelangt zu einem Verständnis des Zusammenhangs zwischen den Gattungen des Seienden.
9. Zusammenhang zwischen den Gattungen des Seienden
Goethe hat die Vermutung eines Zusammenhangs alles Organischen und setzt Gebilde an, bei denen die Möglichkeit gegeben ist, daß sie sich zu Pflanzen oder zu Tieren entwickeln können. Er sieht andererseits im Menschen die höchste Form des Tierreichs. Was das erste betrifft, so ist wohl die Vermutung nahegelegt durch das Vorhandensein jener Grenzgebilde, von denen wir schon einigemal sprachen. Sieht man in bestimmten materiellen Gebilden die Grundlage für organisches Leben, so besteht wohl die Möglichkeit, daß gewisse Gebilde für die Aufnahme der einen wie der andern lebendigen Form in Betracht kämen. Es ist keinesfalls der »Anfang des Lebens« in einer vorher unbelebten Natur aus den Gesetzen dieser unbelebten Natur ohne Hinzutreten eines neuen Formprinzips denkbar. Und wenn verschiedene solche Prinzipien in Betracht kommen, so wird wiederum nicht eins auf das andere zurückzuführen sein. Es könnte, wie die Kosmologie des hl. Thomas es ansieht, die organische Stufe in analoger Weise Grundlage für die animalische sein wie die materielle für die organische. Goethes