Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
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Die Hypothese, daß der Übergang früher einmal stattgefunden habe, daß aber die Entwicklung zum Stillstand gekommen sei, fordert weitere Hypothesen zu ihrer Erklärung: Der »Kampf ums Dasein« und die »natürliche Zuchtwahl« sind solche Hypothesen. Sie beantworten aber nicht die Frage, warum die im Kampf ums Dasein überlebenden Arten »fest« wurden. Und das Auftreten von »Mutationen« ist von der Deszendenztheorie aus ganz unbegreiflich. Man kann also nicht sagen, daß der Tatsachenbeweis für die Deszendenztheorie unwiderleglich erbracht worden sei.
Der Philosoph ist nicht in die Grenzen der Erfahrungstatsachen eingeschlossen. Philosophische Einsicht geht auf Notwendigkeiten und Möglichkeiten. Wenn der Tatsachenbeweis dafür nicht erbracht werden kann, so ist damit die Möglichkeit der »Deszendenz« nicht ausgeschlossen. Wenn der Tatsachenbeweis erbracht wäre, wäre damit die Notwendigkeit nicht erwiesen. Für den Philosophen kommt es zunächst darauf an, den Sinn der Fragestellung zu verstehen und die Tragweite der möglichen Lösungen zu erkennen. Die Fragestellung setzt voraus, daß es Species gibt, d. h. eine Reihe von relativ festen Formen, die gegenwärtig tatsächlich nicht ineinander übergehen. Der Philosoph sucht zu ergründen, was denn unter diesen Species eigentlich zu verstehen sei. Wir haben schon einen doppelten, aber inhaltlich zusammenhängenden Sinn festgestellt: Wir haben mit dem Namen Species einmal eine innere Form bezeichnet, die das Lebewesen gestaltet, sodann die Gesamtheit aller Individuen, die Exemplare dieser Form sind. Die Biologie meint aber offenbar noch etwas Drittes: den Typus, der sinnenfällig in Erscheinung tritt und den sie mit ihren Beschreibungen erfaßt. Ein offenes Problem war uns das Verhältnis der allgemeinen Form zu dem inneren Formprinzip des einzelnen Individuums. Jedes Individuum – nicht nur jedes Lebewesen, sondern alle Dinge der Erfahrung – ist geformte Materie. Ungeformte Materie kann nicht existieren, sie erhält ihr Sein nur durch die Form. Aber auch Formen begegnen uns nur als die Materie formend. Keine ist aus der andern ableitbar. Individuen entstehen und vergehen. Vom ersten Moment ihres Daseins an ist die Form in der Materie wirksam; daß sie es ist, ist weder aus der Materie allein noch aus der Form allein begreiflich; so wenig wie das Individuum als durch sich selbst existierend zu denken ist. Alles Endliche und Bedingte weist auf ein Absolutes als auf seinen Ursprung, eben damit aber auf eine ursprüngliche Formung der Materie hin. Daß Dinge sind und daß eine qualitative Mannigfaltigkeit von Dingen ist, das ist die erste Erfahrungstatsache, von der alle Erkenntnis ausgeht. Von hier bis zu den letzten noch rational faßbaren Grundstrukturen durchzustoßen ist der Weg einer radikalen philosophischen Analyse. Auf den Gegensatz von Form und Materie und die Notwendigkeit einer ursprünglichen Formung wird sie überall stoßen, an welchem Punkt der realen Welt sie auch ansetzen mag. Die ungeformte Materie als das völlig Qualitätlose kann keine Unterschiede zeigen. Alle Mannigfaltigkeit muß auf einer Mannigfaltigkeit der Formen beruhen.
2. Möglichkeiten des Verhältnisses von Species und Individuum; Allgemeinheitsstufen: Genus, Species (verschiedene Stufen), Individuum (Exemplar)
Für die Art dieser Mannigfaltigkeit bestehen nun verschiedene Möglichkeiten. Sie wäre denkbar als eine solche, daß jedes Individuum ein qualitativ Einzigartiges wäre, daß sie nur die Leerform des Individuums (des Einzeldinges) als solchen gemeinsam hätten. Dann hätten wir kein Stufenreich der geschaffenen Dinge. Das entgegengesetzte Extrem wäre eine Mannigfaltigkeit von völlig gleichen Dingen, die nur durch ihren Platz in einem Ordnungssystem unterschieden wären (Raum – Zeit). Die Mannigfaltigkeit, die wir in der Erfahrung vorfinden, entspricht weder dem einen noch dem andern Extrem. Wir haben ein Stufenreich von Formen von größerer und geringerer Allgemeinheit. Die Leerform des geschaffenen Seienden als solchen ist ausgefüllt durch eine Reihe qualitativ unterschiedener allgemeiner Formen, die wir als Gattungen des Seienden (Genera) bezeichnen können. Es sind die Formen, die der Gliederung der realen Welt in getrennte Seinsgebiete zu Grunde liegen: wie materielles Ding, Lebewesen usw. (Husserl hat sie »regionale Kategorien« genannt). Das Individuum ist nicht unmittelbar Exemplar der Gattung, sondern durch ein Stufenreich von Formen von gröserer und geringerer Allgemeinheit vermittelt, die wir Species nennen (z. B. die einzelnen Pflanzen- und Tierspecies und ihre Spielarten). Für das Verhältnis der niedersten Species zum Individuum besteht wieder die doppelte Möglichkeit, daß eine Reihe von Individuen gleiche Exemplare der Species sind oder daß jedes Individuum ein qualitativ Einzigartiges ist, aber selbst die niederste Species darstellt. (Das lehrt Thomas für die Engel.)
3. Möglichkeiten für die Formung der Materie; Problem der Entstehung der Individuen und der Species; »allgemeine« und »individuelle« Form als Urbild und Abbild
Sodann bestehen verschiedene Möglichkeiten für die Formung als solche, bzw. das Innewohnen der Form in der Materie: Es besteht die Möglichkeit, daß das Ding »fertig« ins Dasein tritt und daß sein Sein ein unverändertes Verharren bedeutet, bzw. daß es sich nur unter der Einwirkung äußerer Umstände verändert (wie es das Gesetz der materiellen Natur zu sein scheint – aber auch hier sind noch große Probleme: Goethe betrachtet auch die materielle Welt als in einem kontinuierlichen Formungs- und Umformungsprozeß begriffen; und auch die moderne Physik entwirft eine Kosmogonie, die mit beständiger Umformung rechnet), oder daß sein Dasein ein Prozeß lebendiger Formung ist, daß es erst im Lauf seines Lebens wird, wozu seine Form es bestimmt. Es wäre ferner denkbar, daß jedes Individuum einer Species gesondert ins Dasein träte; die andere Möglichkeit ist die der Generation, des Hervorgehens aus andern Individuen der Species. (Diese Möglichkeit besteht nur im Bereich des Lebendigen, weil das unverändert Beharrende aus sich nichts hervorbringen kann.)
Nun erhebt sich die Frage der Möglichkeit eines Hervorgehens der Species auseinander. Das scheint gleichbedeutend mit der Möglichkeit einer Veränderung der Form; zugleich mit der Möglichkeit einer Entstehung von Formen. Die Form ist uns ja am Individuum als das begegnet, was es von innen her gestaltet und es zu dem macht, was es ist. Sie selbst erscheint als das Unveränderte, das – wofern sich das Individuum selbst verändert, wie es beim lebendigen Gestaltungsprozeß der Organismen der Fall ist – den Ablauf der Veränderungen selbst bestimmt. Die Species der Pflanze oder des Tieres erschien uns als »allgemeine Form«, als »dasselbe« Gestaltungsprinzip in einer Reihe von Individuen. Wie ist »Allgemeinheit« und »Selbigkeit« der Species zu verstehen? Augenscheinlich hat doch daneben jedes einzelne reale Individuum seine eigene Form, seine Entelechie, die in ihm wirksam ist. Wäre die Entstehung jedes Individuums getrennt von den andern zu denken, dann wäre es eine »Urschöpfung«, ein unmittelbares Hervorgehen aus der Hand des Schöpfers. Die allgemeine Species wäre dann als das Urbild im göttlichen Geist, die Formen der Einzeldinge als ihre Abbilder aufzufassen – sie könnten in beliebiger Zahl vorhanden sein wie die Reproduktionen eines Kunstwerkes.
4. Entstehen von Individuen durch Zeugung ist gleich Entstehung neuer individueller Formen? Reale Einheit der Species
Für die Möglichkeit der geschlechtlichen Zeugung, d. h. des Hervorgehens von Individuen aus andern Individuen derselben Species, wäre der einfachste Weg der des Hervorgehens aus einem Individuum (ohne Geschlechtertrennung) und der Entstehung eines neuen Individuums, das dem erzeugenden gleich wäre. Das entstehende Individuum ist zunächst als Teil des erzeugenden aufzufassen, beginnt aber dann, losgetrennt davon, ein eigenes Dasein zu führen. Sobald von einem »neuen Individuum« gesprochen werden kann, sobald sein eigenes Dasein begonnen hat, muß ihm allem Anschein nach auch eine eigene Form zugesprochen werden. Es scheint also eine neue individuelle Form entstanden zu sein. (Das besagt hier noch keine neue Species.) Kann man sagen, daß das erzeugende Individuum die neue Form hervorgebracht habe? Manches spricht dagegen. Der Anfang des Lebens in dem materiellen Gebilde, das von der Form des erzeugenden Individuums gebildet wird, erscheint gegenüber der Formung der Materie, die vorausgeht, als etwas völlig Neues und daraus nicht zu Begreifendes. Wenn das Weizenkorn, das mit ungezählten andern seinesgleichen in der Tenne aufgeschüttet lag und ganz wie ein totes Ding aussah, zu keimen beginnt, so berührt das jedesmal wie ein Wunder, wie die Wirkung eines lebenweckenden Gotteshauchs. Es ist daraus nicht zu folgern, daß tatsächlich ein besonderes Eingreifen Gottes in jedem Moment, in dem neues Leben beginnt, anzunehmen sei; wohl aber, daß die Entstehung neuer Lebewesen ein besonderes schöpferisches Prinzip verlangt, daß das Dasein eines Lebewesens, das sich aus eigener innerer Form gestaltet,